P.M. History - 09.2019

(nextflipdebug2) #1

MÜHSAMER ALLTAG Eine alte Frau auf dem Land sammelt Feuerholz. So wie ihr
mangelt es Millionen Nordkoreanern an Nahrung und Heizmaterial


G


ott ist tot - das erfahren
die Nordkoreaner am


  1. Juli 1994, als Radio
    Pjöngjang meldet: "Das
    Große Herz hat aufge­
    hört zu schlagen." Das gehörte Kim
    Il-sung, dem 82-jährigen Diktator des
    Landes. Der nach offiziell verbreiteten
    Legenden einst auf Blättern übers Was­
    ser gegangen sein und Sand in Reiskör­
    ner verwandelt haben soll. Nun hat ihn
    ein allzu menschliches Schicksal ereilt,
    laut amtlicher Bekanntmachung ein
    Herzinfarkt.
    Doch das kommunistische Regime
    hält Kim 11-sung auf bizarre Weise le­
    bendig. "Wie kann ich dem Führer
    nachfolgen, wenn er noch lebt?", fragt
    sein Sohn Kim Jong-il. Und so lässt er
    den Vater vom Scheinparlament zum
    "Präsidenten für alle Ewigkeit" küren,
    erklärt dessen Todesdatum zum Feier­
    tag seines immerwährenden Daseins


und führt eine neue Zeitrechnung ein:
Sie beginnt 1912, mit dem Geburtsjahr
des Großen Führers, wie Kim Il-sung
vom Volk genannt wird.
Obendrein lässt Kim Jong-il den
ehemaligen Präsidentenpalast kurz da­
rauf, während das Land von einer der
schwersten Hungersnöte seiner Ge­
schichte geplagt wird, für angeblich
100 Millionen Dollar zu einem giganti­
schen Mausoleum umbauen, um darin
den Leichnam zu präsentieren. Wer ihm
seine Aufwartung machen möchte, muss
zunächst den rund 100 000 Quadratme­
ter großen Vorplatz überqueren und
seine Schuhe auf einer Putzmaschine
reinigen. Anschließend werden die Be­
sucher auf fast einen Kilometer langen
Rollbändern ins Innere des mit Marmor
ausgekleideten Gebäudes transportiert.
Dort passiert jeder Gast eine Luft­
dusche, denn niemand soll dem Gro­
ßen Führer auch nur mit einem Fussel

auf dem Kragen begegnen. Schließlich
kommt der große Moment: In Vierer­
gruppen umrunden die Besucher den
gläsernen Sarg, in dem der einbalsa­
mierte Kim Il-sung schneewittchen­
gleich unter rotem Tuch liegt. An jeder
Ecke verbeugen sie sich tief, und immer
wieder ertönen Laute des Wimmerns
und Klagens; viele wischen sich Trä­
nen aus den Augenwinkeln. Sie bewei­
nen den Diktator selbst noch Ende der
1990er, Jahre nach dessen Tod, inmit­
ten all des Prunks - während draußen
die Menschen vor Hunger sterben wie
die Fliegen.

H

eute herrschen die Kims in der
dritten Generation über das
Land. Offiziell als Führer der
kommunistischen Revolution, in Wirk­
lichkeit als Feudalherren, die ihre Un­
tertanen knechten und selbst ein Leben
in unvorstellbarem Luxus führen. Wie
ist ihnen das gelungen? Wie konnten
sie sich gegen Feinde von innen und au­
ßen durchsetzen und eine einzigartige
Erbfolge begründen? Und warum stützt
das Volk trotz bitterer Armut die deka­
dente Familie und ihre Gefolgsleute,
statt gegen deren grausame Herrschaft
aufzubegehren? Um Antworten auf die­
se Fragen zu finden, muss man weit ins


  1. Jahrhundert zurückblicken.
    Geboren in Korea als Kim Song-ju,
    wächst der spätere Diktator als Sohn
    christlicher Eltern vom achten Lebens­
    jahr an weitgehend in der chinesischen

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