Süddeutsche Zeitung - 12.08.2019

(singke) #1
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von henrike roßbach

I


m Bundesgesetzblatt Nummer 30,
„Ausgegeben zu Bonn am 26. Juni
1993“, steht es zwischen einer Novelle
der Rinder- und Schafprämien-Verord-
nung und dem damaligen Nachtragshaus-
halt: das „Gesetz zur Umsetzung des Föde-
ralen Konsolidierungsprogramms“. Wobei
das schon die Kurzform des Titels war, die
Langform bestand aus 36 Wörtern, darun-
ter die „Einheit Deutschlands“ und die „fi-
nanziellen Erblasten“. Der Umfang des da-
maligen Gesetzespakets war ähnlich gewal-
tig wie sein Name, und inmitten der vielen
Artikel findet sich einer, der es gerade mal
wieder ins Zentrum der politischen Debat-
te geschafft hat – 26 Jahre später.
Die Rede ist vom Solidaritätszuschlags-
gesetz, dem „Soli“, der mit dem damaligen
Gesetz ohne konkrete zeitliche Begren-
zung eingeführt wurde. Ihn wollen Union
und SPD nun zumindest teilweise abschaf-
fen, so sieht es ihr Koalitionsvertrag vor.
Am Wochenende bestätigte das Finanzmi-
nisterium, dass Minister Olaf Scholz (SPD)
seinen Gesetzentwurf an die anderen Mi-
nisterien zur Abklärung, der sogenannten
„Ressortabstimmung“, gegeben habe.
Steuertechnisch ist der Zuschlag eine Er-
gänzungsabgabe zur Einkommen- und
Körperschaftsteuer. Er sollte die Kosten
der Einheit finanzieren und steht alleine
dem Bund zu. Deshalb kann der ihn auch
abschaffen, ohne die Länder um Erlaubnis
zu bitten. Seit 1998 liegt der Soli bei 5,5 Pro-
zent der Einkommen- und Körperschaft-
steuer, die ein Steuerpflichtiger zahlt. Er
kommt also auf die sonstige Steuerpflicht
obendrauf. Ausgenommen ist nur, wer so
wenig verdient, dass er im Jahr weniger als
972 Euro Einkommensteuer zahlt.

Von 2021 an, so steht es im Entwurf von
Finanzminister Scholz, sollen nun jedoch
die allermeisten Steuerzahler beim Soli
entlastet werden. Wer weniger als
16 956 Euro Einkommensteuer zahlt (ge-
meinsam veranlagte Paare: 33912 Euro),
für den fällt der Soli künftig weg. Wer
mehr zahlt, weil er mehr verdient, muss
weiterhin zahlen. In Einkommen übersetzt
bedeutet das: Für Singles fällt der Soli bis
zu einem Bruttojahreseinkommen von
73874 Euro weg. Für Familien mit zwei Kin-
dern, in denen ein Elternteil Alleinverdie-
ner ist, rechnet das Finanzministerium
vor: Bis zu einem Bruttojahreslohn von
151 990 Euro werde kein Soli mehr fällig.
Das Besondere an diesen Höchstgren-
zen: Sie markieren keinenFreibetrag,wie
anderswo im Steuerrecht, sondern eine
Freigrenze. „Wir werden den Solidaritäts-
zuschlag schrittweise abschaffen und ab
dem Jahr 2021 mit einem deutlichen ers-
ten Schritt im Umfang von zehn Milliarden
Euro beginnen“, heißt es im Koalitionsver-
trag. Etwa 90 Prozent aller Soli-Zahler wür-
den „durch eine Freigrenze“ vollständig
entlastet. Bei einem Freibetrag wird nur
der Teil des Einkommens besteuert, der
darüber liegt; er mindert also die Steuerbe-
lastung aller Einkommen, auch der hohen.

Eine Freigrenze dagegen heißt, dass alle
Einkommen darunter befreit sind, die dar-
über aber voll belastet werden – vom ers-
ten bis zum letzten Euro. Das Ergebnis
sind gewaltige Belastungssprünge.
Scholz lässt nun etwas mehr Milde wal-
ten. In seinem Entwurf macht er aus der
Freigrenzenklippe eine Gleitzone, wenn
auch nach oben. Außerhalb des Koalitions-
vertrags bewegt er sich damit nicht, denn
auch dort ist von einer Gleitzone für die
Freigrenze die Rede. In seinem Gesetzent-
wurf ist daraus eine „Milderungszone“ ge-
worden, eine Art gemäßigter Anstieg für
Gutverdiener: Der Soli wird nicht schon
vom ersten Euro oberhalb der Freigrenze
an in voller Höher fällig, sondern zunächst
mit einem geringeren Satz, der sodann mit
wachsendem Einkommen steigt. Den vol-
len Zuschlag muss ein Single erst bei ei-
nem Bruttojahreseinkommen von
109451 Euro zahlen; im Fall der Alleinver-
diener-Zwei-Kinder-Familie mit 221 375
Euro. „Die Milderungszone vermeidet ei-
nen Belastungssprung“, heißt es im Ent-
wurf.

Etwa 6,5 Prozent aller Soli-Zahler veror-
tet das Finanzressort in dieser Zone. Insge-
samt werden deshalb nicht nur die verspro-
chenen gut 90 Prozent der Soli-Zahler kom-
plett entlastet, sondern diese weiteren
6,5Prozent zumindest teilweise. Nur die
obersten 3,5 Prozent der Steuerzahler blei-
ben voll dabei; also knapp jeder Dreißigste.
Sie allerdings sind es, die den größten Bat-
zen zum gesamten Soli-Aufkommen bei-
steuern: Im Jahr 2021 wird der geplante Ab-
bau den Bund 9,8 Milliarden Euro kosten,
2024 werden es 12,11 Milliarden Euro sein.
Würden alle Zahler befreit, kämen alleine
2021 noch elf Milliarden Euro an Einnah-
meverlusten hinzu. Die obersten zehn Pro-
zent sorgen also weiterhin dafür, das etwa
die Hälfte des Soliaufkommens erhalten
bleibt. Ein Freibetrag statt der Freigrenze
hingegen hätte den Bund 2,5 Milliarden Eu-
ro mehr gekostet.
Das Ministerium sieht die Tatsache,
dass nicht alle von der Reform profitieren
werden, erkennbar nicht als Schwäche des
Gesetzes – sondern als Stärke. Eine kom-
plette Abschaffung würde „lediglich die
Nettoeinkommen von Spitzenverdienern
weiter erhöhen“, heißt es in Erläuterungen
zu dem Entwurf. Illustrieren soll dies das
Beispiel, nach dem ein Dax-Vorstandschef
mit 5,8 Millionen Euro Jahreseinkommen
im Fall der Abschaffung 140000 Euro weni-
ger Steuern zahlen müsste. Auch eine Frei-
betragslösung statt der Freigrenze „hätte
zu einer Steuersenkung auch für Spitzen-
verdiener geführt“, heißt es.
Die Wirtschaft allerdings kritisiert die
90-Prozent-Entlastung nicht wegen der
ausbleibenden Steuererleichterung für
Dax-Vorstände – sondern wegen der Steu-
erlast für kleine und mittlere Betriebe. Der
DIHK etwa nimmt an, dass 572 000 mittel-
ständische Personengesellschaften (also
zum Beispiel GbR und KG) auf ihre Einkom-
mensteuer von voraussichtlich 58 Milliar-
den in diesem Jahr auch noch 3,2 Milliar-

den Euro Solidaritätszuschlag zahlen. Hin-
zu kämen 72 000 Kapitalgesellschaften (al-
so GmbHs und AGs), die auf 33 Milliarden
Euro Körperschaftsteuer noch mal zwei
Milliarden Euro Soli entrichteten. Zudem
weist die Wirtschaft schon lange auf die im
internationalen Vergleich hohe Steuerlast
für Unternehmen hierzulande hin – gera-
de vor dem Hintergrund der sich abkühlen-
den Konjunktur. „Wenn es beim Soli für

die besonders betroffenen Unternehmen
keine Entlastung gibt, fehlen die entspre-
chenden Mittel für Investitionen“, sagt
Achim Dercks, stellvertretender Hauptge-
schäftsführer des DIHK. Es sei „nicht nach-
vollziehbar, dass eine Vielzahl von Unter-
nehmen weiterhin mit der Zusatzabgabe
in einen Abschwung gehen sollen“.
Das Ministerium hält dem entgegen:
88 Prozent der Gewerbetreibenden, die

Einkommensteuer zahlen, würden freige-
stellt, weitere 6,8 Prozent zumindest ent-
lastet. Die Hoffnung derjenigen, die den So-
li endgültig loswerden wollen, dürfte der-
weil auf drei Wörtern in Scholz’ Entwurf ru-
hen. „Im ersten Schritt“, heißt es dort näm-
lich, würden 90 Prozent der Zahler vollstän-
dig entlastet. Ob ein zweiter folgt, dürften
indes die Bürger entscheiden: mit dem Er-
gebnis der nächsten Bundestagswahl.

Soll der Soli größtenteils abgeschafft wer-
den oder besser ganz? Gleich nachdem
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
seinen Gesetzentwurf fertig hatte, hob am
Wochenende diese Debatte wieder an.
Scholz selbst äußerte sich nicht, er ließ
sozusagen den Entwurf für sich selbst spre-
chen. Für seine Partei ergriff Achim Post
das Wort, derjenige der stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, der
für Finanzen zuständig ist. „Eine vollstän-
dige Abschaffung des Soli lehnt die SPD
ab“, sagte Post. „Wir wollen Schritt für
Schritt mehr Steuergerechtigkeit errei-
chen, sicher aber nicht milliardenschwere
Steuergeschenke verteilen. Das Geld könn-
ten wir besser für Investitionen in Bildung
und Klimaschutz gebrauchen.“
Post ignoriert damit nicht den Koaliti-
onsvertrag – zwar sieht der eine Soli-Kür-
zung im Jahr 2021 nur als „ersten Schritt“
vor. Aber der Vertrag gilt ja auch nur bis zu

jenem Jahr, spätestens dann ist wieder
Bundestagswahl. In der Union hingegen
wurde am Sonntag ausdrücklich Wert auf
den nächsten, den zweiten Schritt also ge-
legt. Ralph Brinkhaus, Chef der CDU/CSU-
Fraktion: „Wir halten weiter an dem Ziel
fest, den Soli abzuschaffen.“ Alexander Do-
brindt, Chef der CSU-Landesgruppe: „Die

Komplettabschaffung muss in der nächs-
ten Wahlperiode erfolgen.“ Carsten Linne-
mann, Chef der Mittelstandsvereinigung:
„Das wäre verfassungskonform.“
Dieses Adjektiv ist nicht einfach so
dahergesagt. Es spielt an auf einen Streit,
den vor allem die FDP seit Längerem führt:
ob nicht jeder Cent Solidaritätszuschlag,

der vom 1. Januar an noch erhoben wird, in
Wahrheit verfassungswidrig ist. Der Soli
wurde 1995 mit der Begründung einge-
führt, dass es für den Aufbau Ost zusätzli-
chen Finanzbedarf gibt. Grob gesagt
wurden mit ihm die beiden Solidarpakte
dafür finanziert. Der Solidarpakt II läuft
Ende 2019 aus. Daraus folgt, dass die „Son-
derlage einer besonderen Aufbauhilfe zu-
gunsten der Neuen Länder als beendet er-
achtet werden“ kann – so steht es in einem
Gutachten, das Hans-Jürgen Papier, der
frühere Präsident des Bundesverfassungs-
gerichts, im März für die FDP-Fraktion
geschrieben hat. Mit dieser Ansicht steht
Papier keinesfalls allein. Kay Scheller,
Präsident des Bundesrechnungshofs, sagt:
„Die Grundlage für den Solidaritäts-
zuschlag fällt Ende 2019 weg. Wie im Fall
der Kernbrennstoffsteuer ist die Gefahr
real, dass der Bund zu milliardenschweren
Steuerrückzahlungen verurteilt wird.“

Und Kläger sind bereits unterwegs.
Michael Sell, der von Olaf Scholz gefeuerte
langjährige Chef der Steuerabteilung im
Bundesfinanzministerium, berät eine
Gruppe von Bürgern, die der Bund der
Steuerzahler mobilisiert hat: Sie sollen vor
Finanzgerichten in ganz Deutschland ihre
Vorauszahlungsbescheide für 2020 an-
fechten.
Die FDP hingegen braucht nicht durch
die Instanzen zu gehen; ihre Bundestags-
fraktion kann sich direkt ans Verfassungs-
gericht wenden. Parteichef Christian Lind-
ner sagte am Sonntag, sollte Scholz keinen
Pfad für die komplette Abschaffung des
Soli aufzeigen, „werden Tausende Steuer-
zahler und die FDP bis Karlsruhe klagen“.
Sein Vize Wolfgang Kubicki wagt bereits ei-
ne Prognose, wie das ausgehen wird: Falls
die Union sich mit den Plänen von Scholz
begnüge, werde sie „krachend in Karlsru-
he scheitern“. detlef esslinger

Aufbau Ost, fertig
und erledigt? Das damalige
Universitäts- und
heutige City-Hochhaus
in Leipzig, aufgenommen
1992 (unten) und 2017.
Links daneben das
Gewandhaus.
FOTOS: JENS SCHULZE/EPD,
REGINA SCHMEKEN

Der Minister trennte sich
vom Chef seiner Steuerabteilung.
Nun kämpft der Mann gegen ihn

SolidaritätszuschlagViele Steuerzahler von heute kennen das schon gar nicht mehr: eine Zeit ohne Soli. Und womöglich haben


sie schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass der Staat ihn eines Tages senken oder gar streichen würde. Aber jetzt ist es so weit.


Das Finanzministerium verkündet sogar, die Pläne seien nur der „erste Schritt“. Ob und wann ein zweiter folgt, weiß indes noch keiner


Schluss damit. Schluss damit?


Die SPD will Reste des Soli erhalten, die Union nicht, und die FDP droht mit einer Klage vorm Bundesverfassungsgericht


Freibetrag, Freigrenze,
Milderungszone – klingt sehr
abstrakt. Und wirkt sehr konkret

26 Jahre


später


Bundesfinanzminister Olaf Scholz legt


einen Entwurf vor, mit dem er den Soli abschaffen


will – für die meisten Bürger jedenfalls. Nur noch


jeder zehnte Steuerzahler soll ihn leisten,


und nur noch jeder dreißigste im bisherigen Umfang


Scholz findet: Eine komplette
Abschaffung würde Einkommen
von Spitzenverdienern erhöhen

Solidaritätszuschlag


Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) plant eine Reform des Soli von 2021 an. Die meisten
Menschen sollen ihn künftig gar nicht mehr zahlen müssen – oder zumindest deutlich weniger als bisher.

Einnahmeverluste des Bundes
in Millionen Euro

SZ-Grafik: Sead Mujić; Quelle: Bundesfinanzministerium

2020 2021 2022 2023 2024

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Jahr

Familie mit Alleinverdiener und zwei Kindern

0 151990 221375

Betrag

Ledige sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitnehmer

Bruttojahreslohn in Euro

Bruttojahreslohn in Euro

0 73874 109451

kein Soli mehr geringerer Soli als bisher voller Soli

(^2) THEMA DES TAGES Montag, 12. August 2019, Nr. 185 DEFGH
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