Süddeutsche Zeitung - 12.08.2019

(singke) #1
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E


s hat nicht geklappt. Schon wie-
der nicht. Als Erricka Bridgeford
am Samstagmorgen aufwacht,
spürt sie einen Druck auf der
Brust, eine Last wie Blei, ein Ge-
fühl, sie kennt es: Etwas ist falsch. Am
Nachmittag erhält sie dann den Anruf, vor
dem sie sich gefürchtet hatte: das nächste
Opfer. Eine Frau, 32, schwarz, erschossen
hinter dem Lenkrad ihres Autos. Die Waf-
fenruhe, die Baltimore 72 Stunden Frieden
hätte bringen sollen, ist geplatzt. Es ist der


  1. Mord des Jahres in der gefährlichsten
    Stadt Amerikas. 200 Menschen erschos-
    sen, erstochen, erdrosselt, einer wurde mit
    einem Backstein erschlagen. Dabei ist es
    doch erst Anfang August.
    Bridgeford organisiert seit zwei Jahren
    die „Ceasefire Weekends“, vier Wochen-
    enden im Jahr, an denen eine lose Gruppe
    von Bürgerinnen und Bürgern von Balti-
    more einen Waffenstillstand ausruft, von
    Freitagfrüh bis Sonntagnacht. Es gibt Frie-
    densmärsche durch die Viertel, eine Men-
    schenkette, Konzerte und Barbecues in
    den Straßen. Das Motto ist simpel, es steht
    auf den Transparenten und Aufklebern,
    die in der ganzen Stadt zu sehen sind: „No-
    body kill anybody“. Niemand bringt einen
    anderen um. Manchmal steht da noch ein
    zweiter Spruch: „Don’t be numb“. Werdet
    nicht betäubt.
    Ein paar Stunden nach dem Anruf der
    Polizei betritt Erricka Bridgeford den Park-
    platz einer Sozialsiedlung im Westen der
    Stadt. Auf ihrem bunten Rock steht Africa,
    auf dem schwarzen T-Shirt: Ceasefire –
    Waffenruhe. Sie geht zur markierten Stel-
    le, an der die Frau vor wenigen Stunden er-
    schossen wurde. Sie geht den Tatort ab
    und schwenkt ein Räucherstäbchen, es
    riecht nach Weihrauch und Salbei. Dann
    kniet sie sich hin und legt die Stirn auf den
    Asphalt. „Wir haben heute eine Schwester
    verloren“, sagt sie. „Wir wissen nicht, was
    sie durchmachte, wir kennen nicht mal ih-
    ren Namen. Aber wir werden sie nicht ver-
    gessen.“ Sie steht auf, macht noch eine Run-
    de mit dem Räucherstäbchen. „Wir reini-
    gen diesen Ort, wir heiligen ihn“, sagt sie zu
    den Leuten, die sie begleitet haben. Es sind
    Aktivisten und Anwohner. „Wir füllen die-
    sen Ort mit Licht. Mord darf hier nicht das
    letzte Wort haben.“
    Nicht weit entfernt steht eine schwarze
    Frau vor ihrer Haustür, sie heißt Carla, ist
    Ende 50. Sie hat die Arme verschränkt,
    schaut sich mit leerem Blick an, was da auf
    dem Parkplatz passiert. Erst vor wenigen
    Tagen hat sie ihren Mann beerdigt, er starb
    nach langer Krankheit. Vor vier Jahren wur-
    de ihr ältester Sohn erschossen. „Es ist al-
    les zu viel“, sagt sie. „Diese Gewalt macht
    keinen Sinn.“ Nachdem Bridgeford das
    Räucherstäbchen gelöscht hat, redet sie
    kurz mit Nachbarn, die zugeschaut haben.
    Und sie nimmt Carla in die Arme.
    Amerika ist das Land der Waffengewalt



  • und Baltimore seine Hauptstadt. 309
    Menschen wurden hier im vergangenen
    Jahr umgebracht. Rechnet man das auf die
    600000 Einwohner um, sind das mehr
    Morde als irgendwo sonst im Land, mehr
    als in Chicago, New York oder Philadel-
    phia. Dazu noch 681 Schießereien mit Ver-
    letzten. In der Polizeistatistik steht, dass
    mehr als die Hälfte der Opfer durch einen
    Kopfschuss getötet wurde. 291 von 309 To-
    ten waren Schwarze, 275 Männer. Für ein
    Drittel der Fälle waren laut Polizei Drogen-
    banden oder Gangs verantwortlich, ver-
    mutlich ist die Zahl höher. Zehn Opfer wa-
    ren Kinder unter zehn Jahren.
    Eines dieser Kinder war die siebenjähri-
    ge Taylor Hayes. Sie saß im Juli 2018 auf
    dem Rücksitz des Autos, mit dem ihre Pa-
    tentante in einen Schusswechsel geriet. Ei-
    ne Kugel traf Taylor in den Rücken. Vor ei-
    nigen Tagen fand der Prozess gegen den
    Mann statt, der die Schüsse abgefeuert hat-
    te. Die Geschworenen bekamen Aufnah-
    men aus der Body-Cam eines herbeigeeil-
    ten Polizisten abgespielt. Sie sahen, wie
    der Polizist die Autotür aufriss und sich
    über das Mädchen beugte. Sie sahen, wie
    er das Kind schüttelte und nach dem Puls
    tastete, und sie hörten, wie er rief: „Come
    on, sweetie!“ Halte durch, Süße.


Taylor starb zwei Wochen später im
Krankenhaus. Der Sarg, in dem sie begra-
ben wurde, war gerade mal 1,40 Meter lang
und pink. Alltag in Baltimore. Es ist ein All-
tag, für den sich nur wenige in den USA in-
teressieren. Gerade diskutieren die Ameri-
kaner wieder über die neuesten Massen-
schießereien, diesmal jene von El Paso und
Dayton, bei denen 31 Menschen ums Le-
ben kamen. Sie streiten wieder über neue
Waffengesetze und über die Rolle der Waf-
fenlobby NRA, die jede vernünftige Ver-
schärfung sabotiert. Doch über die Morde
von Baltimore spricht kaum jemand. Da-
bei geschieht hier jedes Jahr ein Massaker,
verteilt über 365 Tage.
Erricka Bridgeford ist 46, sie ist in ei-
nem schwarzen Viertel der Stadt aufge-
wachsen, Gewalt war immer in ihrem Le-
ben. Sie war zwölf, als sie eines Nachts im
Bett lag und Schüsse hörte. Sie ging zum
Fenster und sah, wie ein befreundeter
Nachbarsjunge an die Haustür gegenüber
hämmerte und um Hilfe schrie. Sie sah,
wie kurz darauf Polizei und Krankenwa-
gen kamen. Sie erinnert sich daran, wie der
Junge auf einer Trage lag, voller Blut. Er
sagte: „Bitte lasst mich nicht sterben.“
Dann fuhren sie ihn davon.
Am nächsten Tag nahm Bridgeford den
Bus in das Viertel, in dem ihre Schule lag.
Was mit dem Jungen passiert war, wusste
sie nicht. Erst als sie am Abend nach Hause
kam, erfuhr sie, dass er tot war. „Sein Na-
me war Michael. Ein guter, süßer Junge.“
Seit diesem Tag hat Erricka Bridgeford
zwei Cousins und ein halbes Dutzend
Freunde durch Waffengewalt verloren. Ihr
Bruder David wurde 2007 erschossen.

Sie sitzt im Gemeindezentrum ihres
Quartiers. Es sind noch ein paar Tage bis
zum Marsch am Wochenende. Im Raum ne-
benan machen Mütter Yoga, eine Studen-
tin geht mit einem Mädchen Hausaufga-
ben durch. Erricka Bridgeford rückt mit
der linken Hand einen Bürostuhl zurecht,
der rechte Arm endet kurz nach dem Ellbo-
gen, ein Geburtsfehler. Früher machte sie
darüber Witze als Stand-up-Komikerin,
sie lacht gerne und laut. Heute bildet sie
Mediatoren aus, Konfliktschlichter. Dem
Waffenstillstand widmet sie ihre ganze
Freizeit.
Das erste Wochenende im August 2017
war als einmalige Aktion gedacht, doch in-
zwischen rufen sie und ihre Mitstreiterin-
nen – es sind vor allem Frauen – alle drei
Monate eine Waffenruhe aus. Sie gehen in
die Viertel, verteilen Poster, sprechen mit
den Bewohnern – und auch mit den Gangs.
„Anfangs haben diese Leute gelacht, hiel-
ten mich für naiv. Aber ich appellierte an ih-
ren Stolz: Habt ihr nicht mal euer eigenes
Revier im Griff?“

Die Aktionen wirken. An den „Ceasefire
Weekends“ gibt es 60 Prozent weniger
Schießereien als an anderen Wochenen-
den, weniger Tote und weniger Verletzte.
„Das ist in Baltimore schon viel“, sagt Brid-
geford. Trotzdem hat sie ihr Ziel – 72 Stun-
den ohne Mord – noch nie erreicht.
Die Gewalt plagt die Stadt seit Jahrzehn-
ten. Und doch gab es einen Einschnitt: Im
April 2015 starb der junge Schwarze Fred-
die Gray in Polizeihaft. In den schwarzen
Vierteln kam es zu gewaltsamen Ausschrei-
tungen, die Polizei wurde kritisiert. Der Po-
lizeichef hat seither fünfmal gewechselt,
wegen Etatkürzungen fehlen Beamte, in
der Stadt tobt ein endloser Streit: Greift die
Polizei zu wenig durch? Oder geht sie nicht
eher zu aggressiv vor und schürt damit das
Misstrauen in der Bevölkerung?
Die Zahl der Morde fiel nach Grays Tod
nie mehr unter 300 im Jahr. Auf der Web-
site der LokalzeitungBaltimore Sunsind al-
le Mordfälle auf einer Karte mit bunten
Punkten markiert. Die meisten finden sich
an den Rändern der Stadt, im Westen und
im Osten, wo die Armut am größten ist und
wo die meisten Drogen gehandelt werden.
In manchen Gegenden ist jedes dritte Haus
mit Brettern zugenagelt, 17000 Gebäude
stehen in Baltimore leer, in manchen die-
ser Ruinen wachsen Bäume.
Durch eines dieser Viertel zieht jetzt Er-
ricka Bridgeford. Es ist der erste Samstag
im August, 30 Leute haben sich am frühen
Morgen dem Friedensmarsch angeschlos-
sen. Weiße, Schwarze, Rentner, auch eine
Familie mit Kindern ist gekommen. Eine
Krankenschwester trägt noch ihren blauen
Arbeitskittel. Die Leute halten Plakate mit
dem Ceasefire-Aufdruck in die Höhe. Ein
protestantischer Pfarrer geht voran, er
trägt Shorts, Kurzarmhemd und einen Hut
gegen die Sonne, die schon um neun Uhr
vom Himmel brennt. Die Route führt an
acht Orten vorbei, an denen in diesem Jahr
jemand erschossen wurde. Es ist eine Pro-
zession durch den gewalttätigsten Teil der
Stadt. Nach 30 Minuten kommt ein Polizei-
auto, fährt im Schritttempo neben der
Gruppe her. Begleitschutz.
Die Straßen sind an diesem Morgen ru-
hig. Am ersten Tatort in der Ruskin Avenue
bleibt die Gruppe stehen. Um einen Later-
nenpfahl ist ein Pullover gewickelt. Hier
starb am 11. April nach einem Schusswech-
sel Levar Mullen, 20 Jahre alt. Der Pfarrer
spricht ein Gebet, Bridgeford schwenkt ih-
re Räucherstäbchen, kniet sich hin und
legt die Stirn auf den Boden. Von der Ecke
gegenüber schauen vier schwarze Männer
zu. Einer kommt näher, er trägt ein ärmel-
loses Shirt und eine goldene Uhr am Hand-
gelenk. „Seid ihr wegen Levar hier?“, fragt
er. „Er war mein Kumpel.“ Der Mann lässt
sich von einigen Teilnehmern umarmen
und sagt: „Danke, dass ihr vorbeigekom-
men seid.“
So geht das in den nächsten zwei Stun-
den öfter. „Ich habe Sie im Fernsehen gese-
hen“, sagt eine ältere Frau ein paar Straßen
weiter zu Bridgeford. „Betet alle für uns!
Diese Nachbarschaft hat es nötig.“ Viele Au-
tofahrer hupen und winken, einer ruft aus
dem Fenster: „Peace!“ An der Fulton Ave-
nue bleibt die Gruppe stehen. Auf einer
Treppe vor einem Haus sitzen zwei ältere
Männer und eine Frau, der Gehsteig ist
übersät von Abfall, es stinkt nach Urin. Erri-
cka Bridgeford fragt nach der Stelle, an der
vor zwei Wochen der 24-jährige Johnny
Johnson erschossen wurde. „Kanntet ihr
Johnny?“ Die Frau auf der Treppe schüttelt
den Kopf und zeigt auf den Eingang einer
Gasse gegenüber: „Dort ist jemand gestor-
ben.“ Als Bridgeford die Stelle gefunden
hat, beginnt sie mit ihrem Ritual.
Gewalt, Drogen, Elend. Um zu wissen,
dass ihre Stadt Probleme hat, brauchen die
Einwohner nicht Donald Trump. Doch als
der US-Präsident kürzlich die ersten von
vielen Tweets über Baltimore verschickte,
standen sie plötzlich im nationalen Fokus.
Begonnen hatte die Debatte mit einem Bei-
trag bei Fox News, den sich Trump offen-
bar angeschaut hatte. Der Bezirk des demo-
kratischen Kongressabgeordneten Elijah
Cummings, in dem ein Großteil von Balti-
more liegt, sei ein „widerliches, von Ratten
und Nagetieren befallenes Chaos“, in dem
kein Mensch freiwillig lebe, twitterte der
US-Präsident. Er nannte Cummings, des-
sen schwarze Eltern als Feldarbeiter in den
Südstaaten geschuftet hatten, einen „Ras-
sisten“ und „Tyrannen“. Auf einer Wahl-
kampfveranstaltung verglich Trump Balti-
more später höhnisch mit Afghanistan, die
Mordrate sei ähnlich hoch. Seine Anhän-
ger johlten.
„Die Leute sind wütend“, sagt Erricka
Bridgeford. „Bei uns läuft vieles falsch.
Aber wie kann es Trump wagen, über uns
zu reden, als würden wir die Dinge einfach

so hinnehmen? So sind wir nicht. So ist Bal-
timore nicht.“ Die Menschen, die sie kenne,
kämpften jeden Tag, für sich, für ihre Fami-
lien, für ihre Stadt. Wenn sie sich jetzt vom
US-Präsidenten solche Dinge anhören
müssten, beleidige er sie persönlich. Wenn
Trump ihre Stadt als Rattennest bezeich-
ne, in dem kein Mensch leben wolle, greife
er ihre Identität an.
Baltimore ist eine alte Arbeiterstadt, die
meist im Schatten ihrer wichtigeren Nach-
barn an der Ostküste stand: Philadelphia
und New York im Norden, Washington im
Süden. Ihre Lage an der Chesapeake-Bucht
machte sie zu einem wichtigen Handels-
zentrum, an dem auch viele Schiffe mit Ein-
wanderern aus Europa landeten. Als Indus-
triehafen verlor Baltimore nach dem Zwei-
ten Weltkrieg an Bedeutung, die Zahl der
Einwohner sank, von 950 000 im Jahr 1950
auf 600 000, Häuser und Straßen verlotter-
ten. Um etwas gegen den Zerfall zu tun, in-
vestierte die Stadt in den Siebzigerjahren
in den Umbau des Hafens. Aus Lagerhallen
wurden Appartementhäuser, am Wasser
gingen gläserne Wolkenkratzer hoch, ein
Aquarium wurde eröffnet. In dieser Zeit er-
fanden Marketingleute auch den Slogan
der Stadt: „Charm City“. Der Charme blieb
meist auf die Innenstadt beschränkt, auf
den Hafen, die Kunstmuseen, das Grab
von Edgar Allan Poe, auf das ein Unbekann-
ter über Jahrzehnte drei Rosen und eine
Flasche Cognac legte.
An den Rändern dagegen blieben die
Viertel arm. In Baltimore praktizierten die
Banken schon früh das sogenannteRedli-
ning: So nannte sich die Praxis, um arme
schwarze Gegenden einen Strich zu ziehen
und dort keine Hypotheken und Kredite zu
vergeben. Das beschleunigte den Zerfall
und bereitete den Boden für den Drogen-
handel, der Ende der Achtzigerjahre ein-
zog – und der die Straßen mit Waffen über-
schwemmte. Manche Bewohner dieser
Viertel nennen die Stadt deshalb nicht „Bal-
timore, Maryland“, sondern „Bodymore,
Murdaland“.
Noch ein Toter im Land der Morde. Das
stand auf einem Graffiti, das durch die
Fernsehserie „The Wire“ berühmt wurde.
Sie gilt auch heute noch als eine der besten
Serien der Welt. Geschrieben hat sie David
Simon, ein ehemaliger Polizeireporter der
Baltimore Sun. Sie zeigt, wie der Drogen-
handel das Leben in der Stadt verändert,
die Polizei, die Justiz, die Politik – alle In-
stanzen von Korruption durchsetzt.

Kein Zweifel, die Politik habe versagt,
sagt Leon Pinkett. „Wir tragen alle Verant-
wortung dafür.“ Der Demokrat vertritt im
Stadtparlament einen der ärmsten Bezirke
von Baltimore. Jetzt sitzt er auf einer Bank
vor der City Hall. In den vergangenen drei
Wochen gab es in Pinketts Bezirk mindes-
tens zehn Schießereien. „Ich fürchte mich
jeden Morgen davor, die Nachrichten einzu-
schalten, weil in der Nacht wieder etwas
passiert sein könnte.“ In manchen Gegen-
den seien Gewalt und Armut zwar beson-
ders verbreitet, aber in anderen Innenstäd-
ten der USA gebe es ähnliches. „Das ist ein
sehr amerikanisches Problem. Deshalb
macht es mich auch so wütend, wenn Präsi-
dent Trump uns beleidigt, als gehöre Balti-
more nicht zu Amerika. Er hätte es in der
Hand, die Dinge mit einem Federstrich bes-
ser zu machen.“
Es sei ja nicht nur die Bundesregierung,
die Baltimore im Stich lasse. Der republika-
nische Gouverneur von Maryland stoppte
kürzlich den Bau einer neuen Zuglinie in
Pinketts Bezirk, die den Menschen neue
Perspektiven geboten hätte. „Ich will hier
keine Kriminellen verteidigen“, sagt Pin-
kett, „aber wo Leute keine Jobs haben, tref-
fen sie manchmal schlechte Entscheidun-
gen.“ Baltimore brauche Investitionen, in
die Infrastruktur, in den Verkehr, in ein
schnelles Internet. Was der Abgeordnete
nicht sagt: Seine Partei regiert die Stadt
seit vielen Jahren. Hervorgetan hat sie sich
vor allem mit Skandalen, viele Millionen
Dollar für Hilfsprojekte sind versandet. Im
April musste die Bürgermeisterin nach ei-
nem Korruptionsfall zurücktreten.
Er selbst konzentriere sich auf kleine
Schritte mit großer Wirkung, sagt Pinkett.
Ein Viertel der Stadt sei eine „Lebensmittel-
Wüste“, in der die Bewohner keinen Zu-
gang zu frischen Nahrungsmitteln haben.
„Das verschlimmert viele soziale Proble-
me, es macht die Menschen krank.“ Weil
die großen Ketten in seinem Bezirk keine
Supermärkte eröffnen wollen – zu gefähr-
lich, zu wenig rentabel –, bemüht er sich
darum, kleine Läden anzulocken.
Die kleinen Schritte also: Das ist es, was
auch Erricka Bridgeford macht. Manch-
mal plagen sie Selbstzweifel, sagt sie in ih-
rem Büro im Gemeindezentrum. Vor den
Wochenenden des Waffenstillstands sei es
immer besonders schlimm. Sie hält den
Trinkbecher aus Alu hoch, den eine Freun-
din ihr geschenkt hat, darauf steht: „Ich
bin wichtig. Auf mich kommt es an.“ Dar-
um gehe es auch in Baltimore. „Der Friede
beginnt bei jedem Einzelnen“, sagt sie. Die
Menschen in Baltimore müssten lernen,
Konflikte auf gute Art auszutragen. Das gel-
te für das ganze Land: „Amerika ist eine ag-
gressive Gesellschaft. Wir zerren Leute vor
Gericht, wir demütigen sie, wir wollen sie
besiegen. Unser Präsident ist Ausdruck die-
ser Gesellschaft.“ Wenn an einem Ort erst
einmal Waffen seien, sei es von der Aggres-
sion zu echter Gewalt nicht mehr weit. Und
wenn sich die Gewalt festsetze, im Alltag,
gehe sie fast nicht mehr weg.
Als die Waffenruhe vorbei ist, zieht Brid-
geford Bilanz: An einem Tag ist ein Mensch
gestorben. An den zwei anderen Tagen nie-
mand. Auf Facebook schreibt sie: „Gebt
Baltimore nicht auf.“ Im November geht
sie wieder auf die Straße. „Nobody kill
anybody“, wird sie wieder rufen. Irgend-
wann muss es klappen.

Baltimore hat – gemessen an der Einwohnerzahl – die höchste Mordrate
in den USA, mehr als 300 Menschen werden jedes Jahr erschossen, erstochen,
erdrosselt, erschlagen. Das Bild oben zeigt einen Tatort, in der Mitte ist
die Aktivistin Erricka Bridgeford zu sehen und unten ein „Friedensmarsch“.
FOTOS: SPENCER PLATT/ AFP

DEFGH Nr. 185, Montag, 12. August 2019 (^) DIE SEITE DREI 3
Die Leute sind wütend auf Trump.
Er habe es in der Hand, mit einem
Federstrich vieles zu verbessern


Zu viel des Schlechten


Donald Trump beschimpft Baltimore als „widerliches, von Ratten befallenes


Chaos“. Das hat gerade noch gefehlt. Wie eine Bewohnerin


versucht, das Morden zu stoppen – zumindest an manchen Wochenenden


vonalancassidy


„Habt ihr nicht mal euer eigenes
Revier im Griff?“ Mit dieser Frage
bekam sie die Hilfe der Gangs

Sie hat Erfolg. Aber ihr Ziel,
72 Stunden ohne Mord, das hat
sie bis heute nicht geschafft

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