Süddeutsche Zeitung - 12.08.2019

(singke) #1
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Sergio Mattarella ist verreist, und das soll-
te man in diesem denkwürdig hektischen
italienischen Sommer unbedingt als poli-
tisches Signal lesen. Der Staatspräsident
verbringt seinen Urlaub wie gehabt auf La
Maddalena. So heißt eine Insel vor Sardi-
nien, ein Idyll, umwogt von smaragdgrü-
nem Meer. Wie lange der 78-jährige Sizili-
aner da bleibt, hängt vom Verlauf der rö-
mischen Regierungskrise ab. Oder ist es
vielleicht umgekehrt? Mattarella wird
nun zur zentralen Figur eines mehrschich-
tigen, oftmals undurchsichtigen Macht-
spiels, an dessen Ende Italien eine neue
Regierung oder eben einen Termin für
vorzeitige Neuwahlen haben wird. Jede
Geste des Präsidenten wird analysiert, je-
des scheinbar achtlos fallengelassene
Wort, auch jede nicht verschobene Ferien-
reise.
Italienische Staatschefs bringen die
meiste Zeit ihres siebenjährigen Mandats
damit zu, patriotische Reden zu halten, Or-
den an verdienstvolle Bürger zu verteilen
und Empfänge zu geben in ihrem schö-
nen römischen Palast, dem Palazzo del
Quirinale auf dem gleichnamigen Hügel,
der früher als Sommerfrische von Päps-
ten und Königen diente. Sie sind Zeremo-
nienmeister, schweben über allem. Zerfal-
len aber Regierungsmehrheiten, wird der
Präsident in die Niederungen der alltägli-
chen Politik gezerrt. Er ist dann Hauptak-
teur, mittendrin. Und alle anderen, die
sonst immer laut sind, müssen rauf zu
ihm, auf den „Colle“, den Hügel, und vor al-
lem zuhören. Sogar Matteo Salvini.
Dem rechten Innenminister wäre es be-
kanntlich lieb, wenn jetzt alles sehr
schnell ginge, bald neu gewählt würde
und er dann „mit allen Vollmachten“ re-
gieren könnte, wie er es nannte. Doch den

Takt geben andere vor. In der Krise darf
der Präsident fast alles. Mattarella weiß
da genau Bescheid. Er ist Verfassungs-
rechtler, einer der besten im Land, und
ehemaliger Verfassungsrichter. In seiner
langen Karriere war der linke Christdemo-
krat zudem Minister für die Beziehungen
zum Parlament. Ein altes Wahlrecht trägt
seinen Namen, das „Mattarellum“. Man
kann also sagen, dass das republikani-
sche Gefüge mit seinen Rädchen und Ri-
ten sein Fachgebiet ist. Er prägte es mit.
Mattarella ist ein stiller, etwas steifer
Mann. Sein Stil hebt sich wohltuend ab
vom oftmals vulgären Gebrülle aus dem

Politbetrieb. Die Italiener mögen ihn gera-
de deshalb sehr. In die Politik hatte er ei-
gentlich gar nie gehen wollen, sagt er, ob-
schon ihn seine Familiengeschichte dazu
prädestinierte. Sein Vater Bernardo war ei-
ne einflussreiche Figur der Democrazia
Cristiana und sieben Mal Minister. Sein äl-
terer Bruder Piersanti war ein besonders
mutiger Gouverneur Siziliens. Am Dreikö-
nigstag 1980, kurz nach der Messe, er-
schoss ihn die Mafia. Im Auto. Er starb in
den Armen Sergios. Damals entschied
sich der Bruder, das Vermächtnis der Mat-
tarellas weiterzutragen. Etwas Schwer-
mut blieb immer an ihm haften.
Als Mattarella 2015 Präsident wurde,
sagte er, er werde ein Schiedsrichter sein,
„einer wie im Fußball“. Das Bekenntnis
war auch als Abgrenzung zu seinem Vor-
gänger gedacht. Giorgio Napolitano war
ein sogenannter „Interventionist“ gewe-
sen, er mischte sich ein. Man nannte ihn
deshalb auch „König Giorgio“.
Mattarella hat sich bisher an seine
selbst gewählte Rolle gehalten. Zuweilen
rief er die Spielführer zu sich, wie das Refe-
rees nun mal tun, um sie mit bestimmtem
Ton an die Regeln des Spiels zu erinnern.
Doch er gab sich stets geduldig mit den Po-
pulisten, auch als ihn diese angriffen. Und
er unterzeichnete alle ihre Gesetze, ob-
schon ihn viele betrübten. Er war nie par-
teiisch. Sollte sich Mattarella nun aber ein
bisschen einmischen, wie die Verfassung
das vorsieht – etwa, indem er die Parla-
mentskammern nicht sofort auflöst und
damit die Frist bis zu Neuwahlen dehnt –
ja, dann würde Salvini wohl behaupten,
der Präsident führe einen Staatsstreich
auf. Colpo di stato! Fair wäre der Vorwurf
nicht. Aber was zählt schon Fairplay in Zei-
ten des Gebrülls? oliver meiler

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von ekaterina kel

V


ielen in Moskau ist eine genehmig-
te Demonstration nicht mehr ge-
nug. Sie nennen es „spazieren ge-
hen“, wenn sie im Anschluss an die Demo
noch Straßenumzüge organisieren, die
nicht genehmigt sind. Sie riskieren da-
mit, festgenommen zu werden. Denn
Moskaus Polizei hat bereits an den ver-
gangenen Wochenenden gezeigt: Wer die
von der Staatsmacht streng gezogene
Grenze des Erlaubten überschreitet, wird
nicht geschont.
Trotzdem haben die Moskauer nun
den fünften Samstag in Folge dafür de-
monstriert, unabhängige Kandidaten zur
Wahl ins Stadtparlament zuzulassen. Die-
ses Mal kamen fast 50 000 – eine Zahl,
die Hoffnung macht. Die Menschen in
Russland geben nicht auf, für Demokra-
tie zu kämpfen.
Die Auseinandersetzung zwischen Op-
position und Staat wird aber nicht nur
auf der Straße ausgetragen; die eigent-
lich bitteren Schlachten finden in den Me-
dien statt – und somit auch in den Köp-
fen. Präsident Wladimir Putin achtet dar-
auf, dass sein Name nicht mit den Bildern
von knüppelnden Polizisten in Verbin-
dung gebracht wird. Er hat ein viel be-
währteres Mittel, um möglichst vielen
Leuten seine Erzählung aufzudrücken:
das Fernsehen.
Populäre Kanäle in staatlicher Hand
senden Tag für Tag ihre sorgfältig kons-
truierten Geschichten in Tausende Wohn-
zimmer. Ihre Version bleibt für viele einfa-
chere und ältere Menschen, von denen
die meisten weit von Moskau entfernt
leben, die einzig gültige. Die Folge: Viele
halten die Demonstranten für „Provoka-
teure“ von „Massenunruhen“, die angeb-
lich kleine Kinder als Schutzschilde nut-
zen. Diese Menschen vertrauen auf die
harte Hand des starken, weisen Anfüh-
rers.

Es ist schlimm genug, dass die staat-
lich kontrollierten Medien Demonstran-
ten diffamieren. Aber es ist noch schlim-
mer, dass sie, auch darüber hinaus, die
Wirklichkeit systematisch im Sinne
Putins manipulieren und massenhaft
Falschinformationen verbreiten. Das
wirkt wie langsam einsickerndes Gift.
Statt informierte Akteure einer Zivilge-
sellschaft formen die Medien so Unbetei-
ligte, die sich in Lethargie, Zynismus oder
glühenden Patriotismus flüchten.

Es ist deshalb erstaunlich und erfreu-
lich zugleich, dass sich die Zivilgesell-
schaft trotz des anhaltenden Informati-
onskrieges nicht einschüchtern lässt.
Und dass die Opposition mittlerweile
neue Protagonisten wie etwa Ljubow So-
bol hervorgebracht hat. Deren Einsatz
für faire Wahlen und gegen willkürliche
Staatsgewalt wird auf Dauer notwendig
sein. Die Demonstranten sollten sich frei-
lich von Politik, Polizei und staatlichen
Medien nicht auf gefährliche Weise pro-
vozieren lassen. Wer beispielsweise, wie
am Wochenende geschehen, einen Repor-
ter beschimpft oder an ihm seine Wut aus-
lässt, tut der eigenen Bewegung keinen
Gefallen – auch wenn Kritik an der einsei-
tigen Berichterstattung berechtigt ist.
Will die Opposition erfolgreich sein, so
muss sie über die Kommunalwahlen und
Moskau hinausführen, in andere Regio-
nen, in denen die Unzufriedenheit mit
Putins Politik ebenfalls wächst. Sei es
wegen auslaufender Mülldeponien, rück-
sichtsloser Baumaßnahmen oder der mi-
serablen wirtschaftlichen Lage. Zur geisti-
gen Größe des Widerstands muss, wie
schon einmal im Winter 2011/2012, nun
die geografische hinzukommen.

von matthias drobinski

F


riedrich Naumann fand die Lösung,
wenige Wochen vor seinem Tod am


  1. August 1919. Die Weimarer Nati-
    onalversammlung stritt heftig, welche
    Stellung die Kirchen in der neuen Verfas-
    sung haben sollten. Die Sozialisten woll-
    ten eine strikte Trennung von Staat und
    Kirche wie in Frankreich, das katholische
    Zentrum und die Deutschnationalen mög-
    lichst viele Kirchenprivilegien in die neue
    Zeit retten. Naumann, der Liberale und
    evangelische Theologe, erarbeitete einen
    Mittelweg: Der Staat sollte säkular sein,
    die Kirchen aber einen eigenen Status ha-
    ben, Kirchensteuer inklusive. Die Weima-
    rer Verfassung lebte keine 14 Jahre – der
    Kompromiss gilt, als Bestandteil des
    Grundgesetzes, noch heute.
    Er hat sich ja auch bewährt. Die Kir-
    chen sind zu wichtigen Stützen des
    Staates und der Demokratie geworden,
    ihre Sozialträger groß und erfolgreich. Die
    theologischen Fakultäten sind weltweit
    führend, die Pfarrer gut bezahlt; der
    Religionsunterricht läuft störungsfrei.
    Und die Kirchensteuer hat gerade wieder
    Rekordeinnahmen beschert.
    Und doch werden Risse am Fundament
    dieses hundert Jahre alten Gebäudes sicht-
    bar. Die Christen sind auf dem Weg zur
    Minderheit, und je weniger Bürger sich
    einer Kirche zugehörig fühlen, desto
    mehr erscheint der Status dieser Kirchen
    als ungerechtfertigtes Privileg. Die euro-
    päischen Gerichte engen zunehmend den
    Bereich ein, in dem die Kirchen ein eige-
    nes Arbeitsrecht durchsetzen können. Die
    Integration des Islams ist schwierig gewor-
    den, seit die türkisch-islamische Ditib als
    Partnerin faktisch ausfällt. Warum nicht
    gleich ein laizistisches Deutschland schaf-
    fen, wie beim Nachbarn Frankreich?
    Das französische Modell ist aber besten-
    falls auf dem Papier besser. Es entschärft
    religiöse Konflikte eher schlechter als das


deutsche, es macht den Staat zur mächti-
gen, manchmal übermächtigen Sozial-
und Sinnagentur. Ein solcher Laizismus
würde Deutschland nicht zum Unrechts-
staat machen – er würde nur schlechter
funktionieren. Die große Stärke der
deutschen Staat-Kirchen-Verfassung ist,
dass der Staat sich überall dort selbst
begrenzt, wo er vorstaatlichen Akteuren
das Feld überlassen kann: den Kirchen
wie den humanistischen Vereinigungen,
den jüdischen Kultusgemeinden wie den
muslimischen Gemeinschaften, wenn sie
sich den Regeln gemäß organisieren.

Deshalb lohnt es sich, Naumanns Kom-
promiss zu erhalten. Es lohnt sich um der
Selbstbegrenzung des Staates willen, die


  • innerhalb der Gesetze – eine kulturelle
    Vielfalt ermöglicht, wo ein Laizismus
    staatsgläubige Uniformität schaffen wür-
    de. Dafür aber bräuchte das Staat-Kir-
    chen-Verhältnis eine Renovierung. Die
    Kirchen als die größten Institutionen müs-
    sen auf einige ihrer Ansprüche verzichten,
    die die innere Glaubwürdigkeit des Mo-
    dells untergraben. Muss zum Beispiel der
    Staat immer noch Ausgleichszahlungen
    für Besitztümer zahlen, die vor Hunder-
    ten Jahren enteignet wurden?
    Naumanns Kompromiss sah schon vor
    100 Jahren die Ablösung dieser Staats-
    leistungen vor, doch bis heute gibt es sie.
    Warum die halbe Milliarde Euro, die da
    Jahr für Jahr fließt, nicht in einen Fonds
    überführen, der kulturelle und soziale
    Projekte fördert, für die sonst kein Geld da
    wäre? Für die Kirchen wären das nicht
    einmal fünf Prozent ihrer Einnahmen.
    Für ein künftiges Miteinander von Staat
    und Religionen aber wäre es ein großer
    Glaubwürdigkeitsgewinn.


B


einahe 800 Milliarden Euro wird
der Staat in diesem Jahr an Steuern
einnehmen, und dennoch prägt
den öffentlichen Diskurs eine Zu-wenig-
Diskussion: zu wenig Klimaschutz, zu we-
nige Lehrer, zu wenige fahrtüchtige Züge,
zu wenige Mobilfunkmasten, zu wenig
Rente – und all das, so die Erzählung, weil
zu wenig Geld da sei. Es wird über die Sinn-
haftigkeit der „schwarzen Null“ gestrit-
ten, über die Schuldenbremse und über
höhere Steuern auf Schnitzel und Salami.
Der Finanzminister hat nun aber erst
einmal Steuererleichterungen auf den
Weg gebracht. Auf zehn Milliarden Euro
will der Bund verzichten, der Solidaritäts-
zuschlag soll für neun von zehn Steuerzah-

ler entfallen. Es kommt nicht oft vor, dass
der Staat sich von lieb gewonnenen Ein-
nahmequellen trennt. Insofern ist es lo-
benswert, dass der Soli zumindest teilwei-
se abgeschafft werden soll. Eine wirklich
saubere steuerpolitische Entscheidung
aber wäre es gewesen, den Zuschlag ganz
zu streichen – statt ihn als verkappte neue
Reichensteuer am Leben zu halten.
Der Gedanke, dass allein der Staat Geld
sinnvoll auszugeben weiß, ist zwar in
vielen Kreisen populär. Die sichtbaren
Defizite im Land, trotz jahrelanger Steuer-
rekorde, sprechen aber eine andere Spra-
che. Sie sind nicht das Ergebnis von zu
wenig Geld, sondern von falsch gesetzten
Prioritäten. henrike roßbach

N


och kürzlich hatte ein Sprecher ih-
res Hauses das Problem der Plastik-
tüten als „Peanuts“ bezeichnet
und damit Zweifel gesät, ob das Umwelt-
ministerium über den Bewusstseinsstand
der späten Siebzigerjahre wirklich hinaus-
gekommen ist. Jetzt will Ministerin Sven-
ja Schulze die Plastiktüten gesetzlich ver-
bieten lassen. Einsicht schadet nicht, ein
solches Verbot ist dringend notwendig.
Lange Zeit setzte die deutsche Umwelt-
politik im Gespräch mit der Wirtschaft
auf freiwillige Lösungen; und selbst wenn
sie damit, meist begrenzten, Erfolg hatte,
dauerte die Umsetzung viel zu lange. Aber
die Natur hat keine Zeit mehr. Der Klima-
wandel, die Sintflut von Plastikmüll, die

gegen jeden Verstand betriebene Rodung
der Regenwälder sind zwar globale Proble-
me. Aber jeder Staat muss dagegen tun,
was ihm möglich ist. Deshalb ist es richtig,
wenn die Bundesregierung dem besesse-
nen Waldabholzer Jair Bolsonaro in Brasi-
lien Millionen Euro Zuschüsse streichen
will. Und ebenso richtig ist es, die Milliar-
den Plastiktüten, die noch immer an den
Kunden kommen, zu verbieten.
Dies wäre auch eine Geste der Solidari-
tät mit der Dritten Welt. Dort haben einige
Staaten wie das arme Tansania dies näm-
lich längst getan. Das Mindeste, was man
von einem der reichsten Länder der Welt
erwarten darf, ist, sich daran ein Vorbild
zu nehmen. joachim käppner

E


in staatseigenes Institut, vom Staat
gerettet, bedient sich am Geld der
Steuerzahler, obwohl es intern Zwei-
fel gab. Was man heute über den Fall der
HSH Nordbank weiß, macht fassungslos.
Ausgerechnet Landesbanken, in deren
Aufsichtsräten Politiker und Ministerial-
beamte wachen sollten, waren tief ver-
strickt in den Cum-Ex-Steuerskandal.
Mittendrin: die HSH. Die Verantwortli-
chen dort müssen gewusst haben, was sie
taten. Die mutmaßliche Steuerhinterzie-
hung geschah trotzdem. Einfach, weil es
möglich war.
Die Steuerschuld ist beglichen; aus
Sicht der Bank, der Bundesländer Ham-
burg und Schleswig-Holstein sowie der

Hamburger Ermittler ist die Sache damit
erledigt. Nach transparenter Aufarbei-
tung sieht das aber nicht aus. Eher so, als
sollte für alle Zeit verborgen bleiben, wie
tief die Abgründe wirklich waren. Die
Hamburger Strafjustiz beließ es stets bei
„Prüfungen“, auch im Fall anderer Ban-
ken, gegen die anderswo längst wegen
Cum-Ex-Verdachts ermittelt wird.
Damit hat es sich die Justiz zu einfach
gemacht. Es ist nicht nachvollziehbar, wie
zahm die Staatsanwälte vorgegangen
sind. Es ist unredlich, wie wenig Aufklä-
rungsinteresse Minister gezeigt haben.
Und es stimmt traurig, wie viele Beteiligte
in diesem Skandal wohl nie zur Verantwor-
tung gezogen werden. jan willmroth

W


enn es einen Schlüsselmo-
ment gegeben hat für die
populistische Explosion
als beherrschendes politi-
sches Phänomen dieser
Zeit, dann war es der Sommer 2016. Da-
mals haben die Briten nach einer Kampa-
gne der Lügen und Gaukeleien für ihren
Austritt aus der EU gestimmt, und in den
USA wurde Donald Trump zum Präsident-
schaftskandidaten der Republikanischen
Partei nominiert. Ein paar Monate davor
hatte in Polen die Partei Recht und Gerech-
tigkeit (PiS) mit Hilfe von teuren Wahlge-
schenken und billigen Versprechungen
die Macht errungen und belegt, dass der
Urvater des modernen europäischen Nati-
onalpopulismus, Viktor Orbán, kein spezi-
elles ungarisches Phänomen darstellen
muss.

Drei Jahre später ist die Chance auf ei-
ne neue Zäsur gekommen. In diesem
Herbst wird eine bemerkenswert hohe
Zahl der Europäer eine Entscheidung fäl-
len können, ob sie in dieser Politik ihre Zu-
kunft sieht – oder eben nicht. Eine Verket-
tung von Regierungsbrüchen und Koaliti-
onsmiseren beschert Europa eine außer-
gewöhnliche Wahlserie: Österreicher, Po-
len, mutmaßlich die Briten und die Italie-
ner werden zu den Urnen gerufen, eine
Neuwahl könnte auch den Spaniern blü-
hen, und selbst die Rumänen haben bis
spätestens Dezember Gelegenheit, ihr Ur-
teil über Nationalismus und Misswirt-
schaft abzugeben. Wem das als Populis-
mus-Barometer noch nicht reicht, der
schaut im September nach Israel und im
Oktober auf die Schweiz.
All diese Wahlen verbindet, dass hier
Regierungsmodelle zur Beurteilung anste-
hen, die den Nektar Populismus löffelwei-
se in sich hineingestopft haben und nun
feststellen, dass der Saft schwer verdau-
lich ist. In Italien hat sich das populistisch-
nationalistische Modell in seiner Schrill-
heit selbst überboten. Sollte sich die mode-
rate Mitte sammeln und eine glaubwürdi-
ge Alternative aufbieten, hat sie durchaus
eine Chance auf die Machtübernahme. In
Großbritannien leidet das System unter
extremistischen Führungsfiguren in bei-
den Lagern. Die pragmatische Mitte ist
klar in der Mehrheit, aber nicht an der
Macht. In Polen häufen sich die Proteste
gegen die Regierung, deren Kulturkampf
das Land bis zum Zerreißen unter Span-
nung setzt.
Auch wenn der Wahlherbst auf den ers-
ten Blick Unsicherheit schafft und neue In-

stabilität verspricht, könnte sich ein Mo-
ment der Läuterung entwickeln. Die Wahl
zum Europaparlament in diesem Früh-
jahr hat einen guten Vorgeschmack dar-
auf gegeben, wie eine alarmierte und
kampfbereite Öffentlichkeit mobilisiert
werden kann. Die Zahl populistischer und
antieuropäischer Kräfte ist entgegen aller
Prognosen nicht gewachsen. Gestiegen ist
hingegen die Wahlbeteiligung und damit
die Bereitschaft, für moderate Politik und
die Regeln der klassischen Demokratie
einzustehen. Dies ist der Vorteil des Popu-
lismus: Er schärft den Blick bei der Wahl-
entscheidung und kann Kräfte bündeln,
die sonst nicht zusammenfinden.
Für Europa kämen diese Signale der
Mäßigung keine Sekunde zu spät. Die
neue Kommission nimmt ihre Arbeit auf,
und die Mitgliedsstaaten müssen sich
schnell auf eine Finanzplanung einigen,
damit die politische Energie für die wirk-
lich brennenden Probleme aufgewendet
werden kann: eine in sich schlüssige euro-
päische Klima- und Energiepolitik, ein Ge-
genmodell zur amerikanischen Linie in
der Handels- und Wachstumspolitik und
ein eigenes Selbstbewusstsein in der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik, die Europa
angesichts der chinesisch-amerikani-
schen Konfrontation vordringlich aufbau-
en muss.
Es zeugt von der Kleinmütigkeit der
deutschen Politik, dass sie diese Chance
nicht sieht, sondern vielmehr zum eigent-
lichen Problem dieses Wahlherbstes zu
werden droht. Der Schwelbrand im Ma-
schinenraum der schwarz-roten Koaliti-
on, die Verzagtheit im ostdeutschen Land-
tagswahlkampf gegenüber der Rassisten-
Truppe von der AfD, die Verantwortungs-
scheu der SPD und die Energielosigkeit
der Union können sich schnell zum größ-
ten Menetekel für Europa verdichten und
die Wahlsaison unangenehm bereichern.
In der deutschen Innenpolitik wird ger-
ne unterschätzt, welch stabilisierende
Funktion dieses Land für seine Nachbarn
erfüllt, welche Bedeutung Wachstum und
Sicherheit in Deutschland für den ganzen
Kontinent haben – und wie im Umkehr-
schluss das leiseste Beben in Berlin einen
Tremor im letzten Winkel des Kontinents
auslösen kann.
So wie Amerikas globale Unberechen-
barkeit in Deutschland viel stärker wahr-
genommen und gefürchtet wird als etwa
in Kentucky, so sorgen sich Deutschlands
Nachbarn vor der Introvertiertheit und
Kleingeistigkeit im politischen Betrieb in
Berlin. Was dieses Europa in seinem Wahl-
herbst also am wenigsten gebrauchen
kann, ist ein unplanmäßiger Regierungs-
bruch in Deutschland. Verantwortung für
Europas Mitte muss in Deutschland vorge-
lebt werden.

Das Lied „Wind of Change“
stammt von denScorpions
und wird wie die Band selbst
hierzulande gerne belächelt.
Tatsächlich zählen Hit und
Musiker zu den erfolgreichsten Rock-Ex-
porten des Landes, und zwar eines Lan-
des, dessen Wiedervereinigung ohne
„Wind of Change“ zwar möglich gewesen
wäre, sich aber ganz anders angehört hät-
te. Geschrieben Monate vor dem Fall der
Mauer 1989 sollte das Lied die Hoffnung
ausdrücken, die Sänger Klaus Meine wäh-
rend einer Tour durch die späte Sowjet-
union zu spüren glaubte: dass die Zeiten
des Kalten Kriegs bald vorbei sein wür-
den. Er singt: „I follow the Moskva /
Down to Gorky Park / Listening to the
wind of change.“ In Moskau am Fluss ent-
lang, runter zum Park, den Wind der Ver-
änderung im Ohr. „Wind of Change“ er-
schien allerdings erst im Februar 1991 als
Single, die Band hatte mit der Veröffentli-
chung auch deswegen gezögert, weil den
Instrumentalisten das Intro zu unge-
wöhnlich gewesen sei, sagte Meine spä-
ter. Doch gerade dieses ohrwurmende
Pfeifen sollte mitverantwortlich sein für
den Erfolg der „Wende-Hymne“ (wie
auch für dessen Belächeltwerden). Die
frühere Verteidigungsministerin Ursula
von der Leyen (CDU) wird die Ballade am
Donnerstag bei ihrer Verabschiedung
beim großen Zapfenstreich hören, auf ei-
genen Wunsch. mwit

(^4) MEINUNG Montag, 12. August 2019, Nr. 185 DEFGH
FOTO: REUTERS
RUSSLAND


Sickerndes Gift


STAAT UND KIRCHE

Risse am Fundament


SOLIDARITÄTSZUSCHLAG

Zu viel und zu wenig


UMWELTSCHUTZ

Vorbild Tansania


LANDESBANKEN

Lieber im Dunkeln


sz-zeichnung: kittihawk

EUROPA


Die Rechnung, bitte


von stefan kornelius


AKTUELLES LEXIKON


Wind of Change


PROFIL


Sergio


Mattarella


Hauptfigur
im Spiel um die
Macht in Rom

Die Demonstranten sollten sich
von Politik und Polizei
nur nicht provozieren lassen

Kirchen müssen
auf Ansprüche verzichten,
um glaubwürdig zu bleiben

Deutsche unterschätzen gerne,
welch stabilisierende Funktion
ihr Land für Europa hat

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