Süddeutsche Zeitung - 12.08.2019

(singke) #1
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von christoph neidhart

Miyako – Riyota Suzuki setzt sich eine
Spielzeugkrone auf wie ein Clown. Auf sei-
nem T-Shirt steht „Squid-Prince“, Tinten-
fisch-Prinz. „Zum Jahrestag am 11. März
kommen die Medien her, die übrige Zeit
interessiert sich keiner für Miyako“, klagt
der Fischunternehmer mit bitterem Clown-
grinsen. Der Tsunami am 11. März 2011
erreichte in Miyako in der Präfektur Iwate
38 Meter Höhe. 420 Menschen kamen um,
92 werden noch vermisst. Die Fluten
zerstörten 4005 Häuser und 900 Fischer-
boote, fast die ganze Flotte.
Auch „Kyowa“, Suzukis Familienbe-
trieb, verlor ein Fabrikgebäude. „Aber von
unseren Angestellten ist niemand umge-
kommen. Die Leute sagten deshalb, ihr
seid ja ok. Aber ich fühlte mich, als hätte es
mich selber weggespült.“ Plötzlich hatte
der 37-Jährige enorme Schulden. Dennoch
nahm er Kredite auf – „Beträge, die ich mir
zuvor nicht vorstellen konnte“ –, um neu
anzufangen. Als das neue Geschäft stockte
und ihm niemand half, erfand er sich als
„Tintenfisch-Prinz“. „Seither nehmen die
Medien uns wahr.“ Als „Prinz“ hat er inzwi-
schen in Tokio, New York, Sydney, Taipeh
und Bangkok für „Ika-Somen“ geworben,
in Streifen geschnittenen rohen Tinten-
fisch in einer Sauce. In Suzukis Fischfabrik
werden die Tintenfische von Hand gesäu-
bert, von einer Maschine in Streifen ge-
schnitten, dann in Pappbecher verpackt
und gefroren.

Wenn der jüngste von drei Brüdern, der
das Geschäft übernehmen musste, weil die
anderen nicht wollten, den Tintenfisch-
Clown gibt, tut er das nicht nur für seine
50 Mitarbeiter. Sondern auch für Miyako
und die Sanriku-Küste, die noch immer
um den Wiederaufbau kämpft. Viele zogen
weg, es gibt kaum Stellen. „Was ist eine
Fischerstadt ohne Fischer und Fischverar-
beitung“, seufzt Suzuki. „Ich möchte den
Menschen einen Grund geben zu bleiben.“
Die Folgen des Tsunami sind nicht seine
einzigen Probleme. Obwohl es zu wenig
Stellen gibt, hat er Mühe, Leute zu finden.
„Die Fischerei gilt in Japan als uncool.
Höhere Löhne kann er nicht bieten, die
Margen seien knapp. „Die Fänge sind seit
dem Tsunami schlecht, seit 2016 noch
schlechter.“ Die Preise haben sich verdrei-
facht. „Die Japaner fischen wie im Gold-
rausch, sie holen alles aus dem Meer.“ Im
Handel sei der Fisch zu billig. „Dennoch
essen die Leute von Miyako kaum lokalen
Fisch, sie gehen zu McDonald’s oder Aeon“,

einem Einkaufszentrum. „Dort kommt der
Lachs aus Norwegen oder Chile statt aus
Iwate. Sollten wir nicht stolz sein auf
unsere Produkte?“ Er hoffe, der Touris-
mus belebe die Nachfrage.
Darauf hofft auch Ichiro Nakamura, der
Chef von Sanriku-Railway, der Bahnlinie
entlang der Küste, deren letztes Teilstück
erst im März wieder in Betrieb genommen
wurde. Der Tsunami hatte die Trasse, Brü-
cken und Bahnhöfe mitgerissen. Bisher
war die Linie von Japan Rail (JR) betrieben
worden, den früheren Staatsbahnen. Ei-
nen Teil der Linie hat JR als Bustrasse res-
tauriert. Als Eisenbahn sei sie nicht mehr
zu finanzieren: Zug fahren fast nur noch
Schüler und alte Leute. Aber die Menschen
im Norden wollten ihre Bahn zurück. Also
restaurierte JR die Linie, um sie dann zu
privatisieren. Sie gehört jetzt der Präfektur
und den Gemeinden. „Unsere finanzielle
Situation ist sehr schwierig“, sagt Nakamu-
ra. Deshalb fahren die Züge im Einfraube-
trieb, wie die Bahn betont. Die Lokomotiv-
führerin verkauft und kontrolliert auch die
Fahrkarten. Frauen, die Züge steuern, sind
in Japan noch eine Attraktion.
Die Sanriku-Küste ist schroff, aber
grün, das Wasser klar. Die Berge fallen in
den Pazifik, die Täler sind eng – deshalb
stieg die Flut so hoch –, die kleinen Buch-
ten waren dicht verbaut. Das Brackwasser
bot Meeresvögeln, Muscheln und Fischen
ein Habitat. Den Touristen bietet sie
300 Kilometer Idylle. Aber seit 2011 wer-
den die Buchten mit Ufermauern verram-
melt. Damit verschwinden die Brackwäs-
ser – und die naturgeschützte Fauna, die
Touristenattraktion. Man fühle sich, als sei
man im Gefängnis, klagen die Menschen
in Yamada, wo die Sicht aufs Meer von ei-
ner zehn Meter hohen nackten Betonwand
verstellt wird. In anderen Städtchen wurde
der Boden der ganzen Bucht angehoben.
Im Schock nach dem Tsunami, in dem
fast 18000 Menschen umkamen, spra-
chen sich viele Leute für Seewälle aus,
erzählt Akiko Iwasaki, die am Nebama-
Strand weiter südlich ein Hotel betreibt.
Das habe sich jedoch bald geändert. Die
Fischer leben mit dem Meer, sie wollen es
sehen. Iwasaki selber wurde vom Tsunami
auf dem Parkplatz ihres Hotels erfasst, sie
blieb zwischen einem Bus und einer Hütte
hängen. Von dort hangelte sie sich einen
Hang hoch. Dennoch lehnt sie den Wall ab,
der in der Nachbarbucht gebaut wird.
„Aber weil Leute, die Angehörige verloren
haben, ihn wollten, haben wir uns zurück-
gehalten.“ Die Küste wurde immer wieder
von Tsunamis heimgesucht, zuletzt 1896
und 1932. „Das gehört zu unserer Geschich-
te.“ Wichtiger als Mauern sei es, „das
Wissen unserer Vorfahren an die nächste
Generation weiterzugeben: Bei Alarm
muss jeder sofort in die Höhe rennen.“

Iwate hat lange vor der Katastrophe
begonnen, in den Schulen Tsunami-Alarm
zu üben. Mit Erfolg. Anders als in der Nach-
barpräfektur im Süden kamen hier wenige
Schulkinder um. Um das Wissen, wie man
sich verhält, weiterzugeben, hat sich in der
Oberschule von Otsuchi ein „Wiederauf-
bau-Klub“ gebildet. Die Schülerinnen, die
die Katastrophe als Kinder erlebten und
im Ausnahmezustand aufgewachsen sind,
bereiten Hilfsaktionen für künftige Katas-
trophen vor und dokumentieren den Wie-
deraufbau an 180 Orten fotografisch.
Das benachbarte Kirikiri, das als störri-
sches Dorf in die japanische Literatur ein-
gegangen ist, wehrte sich ebenfalls gegen
einen Wall. Trotzdem wird er gebaut.
„Nicht für uns, für die Zenekon“, sagte ein
Bürger von Kirikiri derSüddeutschen Zei-
tung. Zenekon nennt man die Generalun-
ternehmer, die eng mit der Politik verban-
delt sind. Die Regierung in Tokio hat be-
reits zehn Milliarden Euro in Schutzwälle
gesteckt. „Die Hälfte davon blieb in Tokio“,

so der Mann in Kirikiri, „ein Viertel ging in
die Präfekturhauptstädte. Wir haben von
der Mauerbauerei gar nichts. Nicht einmal
Stellen. Die Arbeiter und Lkw-Fahrer wer-
den von den Zenekon hergeschickt.“ Tsuna-
miwälle gab es schon vor 2011, die Flut spül-
te sie einfach weg. Die neuen „bieten den
bestmöglichen Schutz“, sagte Premier
Shinzo Abe. Viele Bewohner der Sanriku-
Küste glauben das nicht, zumal der Staat
nur ihren Bau finanziert. Den teuren Unter-
halt, damit die Wälle einem nächsten Mega-
Tsunami standhalten, muss die Präfektur
übernehmen. Die hat bereits gesagt, dass
ihr dafür das Geld fehle.
In Kamaishi, dem Zentrum der Region,
versucht Vizebürgermeister Hideki Yama-
zaki erst gar nicht, den Mauerbau als Si-
cherheitsgarantie zu verteidigen. Die Wäl-
le hielten kleinere Tsunamis auf, meint er.
„Bei großen verschaffen sie den Menschen
mehr Zeit zur Flucht.“ Auch sonst grenzt er
sich gegen Tokio ab. Abe nennt die Olympi-
schen Spiele nächsten Sommer „Spiele der
Regeneration“. In Wirklichkeit behindert
Olympia den Wiederaufbau. Für den Stadi-
enbau sind Baumaschinen und Leute abge-
zogen worden. „Und das Baumaterial ist
20 Prozent teurer geworden.“ In Kamaishi
wohnen acht Jahre nach der Katastrophe
noch immer etwa 150 Familien in Provisori-
en. Allerdings baute sich die frühere Stahl-
stadt selbst auch ein umstrittenes Stadion
für 40 Millionen Euro, im Herbst beher-
bergt es zwei Spiele der Rugby-WM. „Da-
mit Kamaishi auf die Weltkarte kommt.“
Ryota Suzuki hofft, bei Fidschi-Urugu-
ay und Namibia-Kanada viel Fish-n-Chips
zu verkaufen, Nakamura hofft auf volle
Züge, die Hotels werden ein paar Nächte
ausgelastet sein. Aber dann kommt der
harsche Winter, und die Sanriku-Küste
wird wieder vergessen. Zurück bleiben
Rechnungen für das Stadion und der
schleppende Wiederaufbau. Aber auch tap-
fere Menschen, die sich allen Widrigkeiten
zum Trotz für ihre Küste einsetzen.

Berlin – Die Debatte über einen möglichen
deutschen Beitrag zur Sicherung der Han-
delsschifffahrt im Persischen Golf und der
Straße von Hormus ebbt nicht ab. An der
US-Militärmission wird sich Deutschland
zwar nicht beteiligen. Die Absage der Bun-
desregierung war deutlich. Aber Außenmi-
nister Heiko Maas (SPD) hat die Hoffnung
noch nicht aufgegeben, europäische Part-
ner für eine gemeinsame Beobachtermissi-
on zu gewinnen, nachdem in der Straße
von Hormus wiederholt Tanker festgesetzt
worden waren. Die USA machen Iran für
die Eskalation verantwortlich und befeu-
ern den Konflikt. Täten sich die Europäer
zusammen, wären sie militärisch durch-
aus in der Lage, einen eigenen Einsatz
stemmen zu können. Zu diesem Ergebnis
kommt ein Zusammenschluss von Exper-
ten der Deutschen Gesellschaft für Auswär-
tige Politik (DGAP) und der Universität der
Bundeswehr München in einer bisher un-
veröffentlichten Analyse. Sie liegt derSüd-
deutschen Zeitungvor.
Das 13 Seiten umfassende Dokument
mit dem Namen „Ein Schiff wird kommen?
Deutsche maritime Optionen in der Straße
von Hormus“ liefert Anhaltspunkte dafür,
wie ein Einsatz an der Straße von Hormus
konkret ausgestaltet sein könnte. Dazu hat
sich das Autorenteam aus Christian Möl-
ling, Torben Schütz (beide DGAP) und Car-
lo Masala (Bundeswehr-Universität) auch
konkret mit der Leistungsfähigkeit der
jeweiligen Flotten beschäftigt. Alleine
könnten die einzelnen Staaten „keinen
sinnvollen Beitrag“ leisten. Sollten sich je-
doch EU-Staaten zusammenschließen, so

schreiben sie im Ergebnis, verfügten diese
„über hinreichende Mittel, um sowohl eine
Beobachtermission oder auch eine Schutz-
mission durchzuführen“. Allerdings würde
dies – vorsichtig geschätzt – zwischen
zehn und 30 Prozent der maritimen Fähig-
keiten Europas einfordern. Jede neue Ope-
ration würde zwangsläufig zulasten beste-
hender Aufgaben und der Ausbildung ge-
hen, schreiben die Autoren. Deutschland
müsste ständig „mit mindestens einem
Schiff“ an der Mission teilnehmen.
Sowohl für eine Beobachtermission als
auch für den weitergehenden Einsatz, der
den Schutz der Handelsschiffe sicherstellt,
haben die Analysten den Bedarf an Schif-

fen, Hubschraubern und Flugzeugen skiz-
ziert. Für eine Beobachtermission seien
demnach „mindestens“ fünf Fregatten
oder Zerstörer mit Bordhubschraubern er-
forderlich, drei Seefernaufklärer sowie ein
bis zwei Versorgungsschiffe. Die Schiffe
würden außerhalb der Hoheitsgewässer
Irans und Omans operieren. Je ein Schiff
wäre stets an den beiden Ausgängen der
Straße von Hormus im Einsatz, die übrigen
Schiffe würden Tanker begleiten, im Seege-
biet Präsenz zeigen oder im Hafen versorgt
werden. Im internationalen Luftraum wür-
den die Seefernaufklärer „mit weitem
Blick“ die Straße von Hormus aufklären.
Weit mehr Kraft müssten die Europäer
für eine Schutzmission aufbringen – dann
kämen mindestens zwei Korvetten hinzu.
Die Hubschrauber müssten bewaffnet
sein, auf den Handelsschiffen bewaffnete
Schutzteams eingesetzt werden. An Haupt-
quartieren in einem Mitgliedsstaat sowie
im Einsatzgebiet führe dann kaum mehr
ein Weg vorbei. Theoretisch erachten die
Analysten Beiträge von 13 EU-Staaten für
möglich. Seeaufklärer und Führungsstruk-
turen für Hauptquartiere im EU-Land so-
wie im Einsatzgebiet könnten jedoch nur
fünf Staaten beisteuern. Neben Deutsch-
land nennen die Experten Frankreich,
Großbritannien, Spanien und Italien. Laut
der Analysten spräche vieles dafür, dass
nur Frankreich für das Missionshauptquar-
tier infrage kommt. Großbritannien hat
sich der US-Mission angeschlossen. Spani-
en und Italien sind in anderen Missionen
eingebunden. In Deutschland sehen die
Analysten nur „geringe Erfahrung“ mit Ma-
rineoperationen. Frankreich verfüge über
Militärbasen, von denen aus ein solcher
Einsatz unterstützt werden könnte.
Die Autoren sprechen sich klar dafür
aus, dass Deutschland sich stark einbrin-
gen solle. „Berlin sollte zum Erhalt seines
Gestaltungsanspruches und zur Wahrung
seiner Interessen eine Mission mitentwi-
ckeln und die gegebenenfalls führen.“ Eine
europäische Mission mag spät kommen,
könne aber die „willkommene Alternative
für viele Europäer“ sein, die sich nicht der
US-Mission anschließen wollten. Auch bei
einer Beobachtermission müsse jedoch im
Mandat sichergestellt werden, dass die
Soldaten unter Anwendung von Gewalt
eingreifen dürften, wenn etwas passiert.
Andernfalls bestehe die Gefahr, lediglich
als Abhängige der USA vorgeführt zu wer-
den. An einer engen Koordinierung mit
den USA führe bei aller Eigenständigkeit
jedoch nichts vorbei. pkr, msz

Rom – Hat sich Matteo Salvini verrechnet?
Geblendet von den Umfragen, die seine Le-
ga bei fast vierzig Prozent sehen? Verführt
vom Chor „Grande Matteo!“, den ihm seine
Anhänger auf allen Plätzen und Stränden
des Landes entgegenschmettern? Ge-
bauchpinselt von den langen Warteschlan-
gen derer, die unbedingt ein Selfie mit ih-
rem „Capitano“ wollen? Vor ein paar Tagen
rief der italienische Innenminister ins Pu-
blikum: „Gebt mir alle Vollmachten.“ Dann
werde er schon für Italien sorgen. Er, ganz
allein. Darum wolle er jetzt, nach dem
Bruch mit den Koalitionspartnern von den
Cinque Stelle, schnell Neuwahlen.
Gut möglich, dass es nicht so schnell
gehen wird, wie Salvini das gerne hätte. Es
formiert sich gerade ein mächtiger Block,
der andere Pläne hat. Und da Salvinis
rechte Lega im aktuellen Parlament real
viel weniger Gewicht hat, als es der forsche
Auftritt des Vizepremiers vermuten ließe,
kann ihm diese Front alles vermiesen. Im
Senat, wo bald ein Misstrauensantrag ge-
gen Premier Giuseppe Conte eingebracht
werden soll, verfügt die Lega über 58 Stim-
men. Sie ist nur viertgrößte Fraktion, so-
gar die bürgerliche Forza Italia ist stärker.
Wenn sich also einige Akteure zusammen-
tun, endet Salvini womöglich für eine
ganze Weile in der Opposition. Dafür gab
es prominente Signale am Wochenende.

Zunächst meldete sich Beppe Grillo aus
der Versenkung, der Gründer und „Ga-
rant“ der Cinque Stelle. Auf seinem Blog
schrieb er, Kohärenz sei nicht alles, jetzt
gelte es, den „neuen Barbaren“ den Weg zu
versperren. Gemeint waren Salvini und die
Seinen, mit denen die Fünf Sterne eben
erst noch regiert hatten. Es gehe ums
Überleben, räumte der Komiker ein. „Unse-
re Bewegung ist zwar biologisch abbaubar,

doch das heißt nicht, dass wir Kamikazen
sind.“ Fänden bald Neuwahlen statt, verlö-
ren die meisten Sterne ihren Sitz im Parla-
ment. Grillos Kapriole lässt sie nun hoffen,
dass die Legislaturperiode nicht bereits zu
Ende ist. Allerdings müssten sie sich dafür
mit bisherigen Gegnern verbünden.
Mit den Sozialdemokraten vom Partito
Democratico hatten sie nach den Wahlen
im März 2018 schon mal verhandelt. Die
Gespräche scheiterten, weil Matteo Renzi,
früher Premier und Parteichef, wild
entschlossen gegen eine Koalition war.
Noch vor wenigen Wochen sagte er: „Mit
den Cinque Stelle? Nie!“ Nun aber ist er zu
einem Pakt bereit. In einem Interview in

der ZeitungCorriere della Seraspricht
Renzi von der Gefahr eines Abdriftens in
den Autoritarismus. Man könne das Land
doch nicht für fünf Jahre Salvini überlas-
sen. Es zirkuliert auch schon ein Name für
die Operation: „Regierung der nationalen
Rettung“. Die Rede ist von einem institutio-
nellen Kabinett, angeführt von einer Per-
sönlichkeit ohne klare Parteiprägung. Das
würde man unterstützen, eigene Minister
hätte man darin nicht.
Folgt die Partei der Idee des Ex? Nicola
Zingaretti, ihr neuer Generalsekretär, for-
derte in den vergangenen Tagen inständig
baldige Neuwahlen, wie Salvini. Doch im
Parlament sitzen derzeit fast nur „Renzia-
ni“. Auch bei Silvio Berlusconis Forza Italia
überlegt man sich, ob nicht Zeit sei, den
rechten Aufsteiger zurückzustutzen. Zu-
sammen hätten Cinque Stelle, Partito De-
mocratico und Forza Italia mehr als 200
Stimmen; für die Mehrheit braucht es 161.
Conte würde den Misstrauensantrag
der Lega auch überstehen, wenn sich „Ren-
zianer“ und „Berlusconianer“ nur der Stim-
me enthielten. Seinen Rücktritt müsste
der süditalienische Anwalt trotzdem einrei-
chen, weil die Koalition, die ihn bislang
trug, offiziell zerbrochen wäre. Doch
Staatspräsident Sergio Mattarella könnte
den parteilosen Conte – oder einen ande-
ren konsensfähigen Kandidaten – mit ei-
nem neuen Regierungsauftrag ins Parla-
ment schicken. Bringt der dann eine Mehr-
heit zusammen, regiert er, solange diese
Mehrheit eben hält. Am Ende kommt es
auf die Zahlen an – so funktioniert eine par-
lamentarische Demokratie. Das scheint
Salvini vergessen zu haben.
In dieser Geschichte gibt es aber auch
eine politische Dimension, die große
Gunst Salvinis im Volk ist ja nicht nur ein
Hirngespinst des Innenministers. Wird er
ausgebremst, fördert das vielleicht seine
Popularität zusätzlich, wenigstens kurz-
fristig. Mattarella könnte deshalb entschei-
den, einer allfälligen Übergangsregierung
nur einen begrenzten Zeithorizont und
einige wenige Aufgaben zuzugestehen,
bevor neu gewählt würde: die Verabschie-
dung des Haushalts für 2020 etwa, und die
Umsetzung der bereits auf den Weg ge-
brachten Verkleinerung des Parlaments.
Die beiden Kammern sollen in Zukunft
345 Sitze weniger haben als heute. Dafür
muss die Verfassung umgeschrieben wer-
den, und das braucht Zeit. Vor dem kom-
menden Sommer wären Wahlen unmög-
lich. Und wer weiß schon, was bis dann
alles passiert. oliver meiler  Seite 4

Moskau – Bei einem missglückten Rake-
tentest in Nordrussland sind sieben Men-
schen ums Leben gekommen. Auf einem
Militärgelände in der Nähe der Hafenstadt
Sewerodwinsk soll dabei am Donnerstag
ein Raketentriebwerk explodiert sein. Of-
fenbar wurde durch die Explosion Radioak-
tivität freigesetzt, was von der russischen
Regierung jedoch bisher nicht bestätigt
worden ist. Am Samstag teilte die Atombe-
hörde Rosatom jedoch mit, dass fünf ihrer
Mitarbeiter bei dem Unglück ums Leben
kamen. Zuvor hatte das Verteidigungsmi-
nisterium lediglich bestätigt, dass zwei Sol-
daten zu Tode gekommen seien. Zudem
soll es mehrere Verletzte gegeben haben.
Sewerodwinsk liegt am Weißen Meer, ei-
nem Nebenarm des arktischen Ozeans im
Nordwesten Russlands. Auf dem Militärge-
lände etwa 40 Kilometer außerhalb der
Stadt werden Raketen für Atom-U-Boote
getestet. Es war eine Sprecherin der Stadt,
die am Donnerstag erklärt hatte, in der Re-
gion sei erhöhte Radioaktivität gemessen
worden. Das russische Verteidigungsminis-
terium dagegen hatte zunächst behauptet,
es habe keinerlei Verstrahlung durch den
Unfall gegeben. Am Freitag dann ver-
schwand die Erklärung der lokalen Spre-
cherin wieder von der Internetseite der
Stadt, in der etwa 180 000 Menschen le-
ben. Dennoch berichteten lokale Medien,
dass in einigen Apotheken in Sewerod-
winsk und der nächsten größeren Stadt Ar-
changelsk Jodtabletten bereits ausver-
kauft seien. Jod kann die Folgen radioakti-
ver Strahlung lindern.
Laut Atombehörde Rosatom ist der ge-
testete Raketenmotor mit flüssigem Treib-
stoff betrieben worden. Der Test habe auf
einer schwimmenden Plattform auf dem
Wasser stattgefunden. Dabei habe sich der
Treibstoff entzündet und sei detoniert. Die
Explosion habe dann mehrere Beteiligte
von der Plattform ins Wasser geschleu-
dert. Die Nachrichtenagentur Reuters zi-
tiert Experten, die Zweifel an dieser Versi-
on äußern. Eine Explosion mit flüssigem
Treibstoff könne keine Radioaktivität frei-
setzen. Vermutlich handele es sich eher
um ein Triebwerk, das mit Atomenergie be-
trieben werden.
Wladimir Putin hatte bereits im Früh-
jahr 2018 eine neue Generation Marsch-
flugkörper angekündigt, die atomar ange-
trieben sein sollen, eine quasi unbegrenzte
Reichweite hätten und unaufhaltsam für al-
le Raketenabwehrsysteme seien. Damals
sagte der russische Präsident, die neuen
Raketen seien bereits 2017 erfolgreich ge-
testet worden. silke bigalke

An Italiens Stränden testet Innenminister Salvini gerade seine Beliebtheit – die er
gerne bald in einem neuen Parlament abgebildet sähe. FOTO: A. PARRINELLO / REUTERS

Mindestens fünf Fregatten


Experten berechnen mögliche Mission an Straße von Hormus


Capitanos Zahlenschwäche


Ein überraschendes Bündnis in Italiens Parlament könnte Neuwahlen verhindern


Tote bei Explosion auf


russischem Militärgelände


In Miyako in der Präfektur Iwate versperrt ein Wall aus Beton die Sicht auf das Meer. Er soll die Bewohner in Zukunft
besser schützen: 2011 forderte der Tsunami in dem Ort an der Sanriku-Küste 420 Tote. FOTO: CARL COURT / GETTY

Hubschrauber müssten bewaffnet
und auf den Handelsschiffen
Schutzteams eingesetzt werden

(^6) POLITIK Montag, 12. August 2019, Nr. 185 DEFGH
Mauern
vor dem Meer

Acht Jahre nach dem Tsunami läuft der Wiederaufbau an
Japans Sanriku-Küste schleppend. Kann Tourismus helfen?
In Kamaishi wohnen noch
immer etwa 150 Familien
in Provisorien
„Gefahr des Abdriftens in den
Autoritarismus“: Renzi will Salvini
das Land nicht überlassen
Wälle sollen künftige Tsunamis
aufhalten. Manche fühlen sich
aber nun wie im Gefängnis

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