Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

D


er Sommerabend ist mild, die
Stimmung ausgelassen. Oben auf
der Bühne spielen sieben Musi-
ker aus Südtirol, die Kastelruther
Spatzen, volkstümliche Lieder zum Schun-
keln und Wohlfühlen. Unten singen und
klatschen rund 2000 Zuhörer, die meisten
jenseits der Fünfzig. Hunderte Arme stre-
cken sich hoch in die Luft.
So wie im sächsischen Wermsdorf geht
das jeden Tag. Gestern in Adelsdorf, vor-
gestern in Bad Elster. Demnächst in San-
gerhausen, Thale und Kranichfeld, später
in Dresden, Chemnitz und Hildesheim.
Mehr als 60-mal im Jahr stehen die Musi-
ker aus den Dolomiten auf der Bühne,
meist in der Provinz, nur manchmal in
Großstädten. Doch nirgendwo sind sie so
beliebt wie im Osten Deutschlands.
Um einen Ort, in dem die Musiker frü-
her gefeiert wurden, macht die Gruppe
seit 21 Jahren einen Bogen: Magdeburg.
Dort starb am 6. März 1998 der Manager
der Volksmusiker, der 38-jährige Karl-
heinz Gross, auf grausame Weise: zahl -
reiche Knochen gebrochen, der Schädel
zerschmettert, der Körper mit Prellungen
und Quetschungen übersät.
»Seitdem liegt ein Schatten über uns«,
sagt Albin Gross, der Keyboarder der Kas-
telruther Spatzen, »die Bilder gehen mir
nicht mehr aus dem Kopf.« Der Tote war
sein Bruder, Albin musste dessen schreck-
lich zugerichtete Leiche identifizieren.
Mehr als die Erinnerung quält die Gruppe
jedoch, dass das gewaltsame Ende ihres Ma-
nagers bis heute nicht aufgeklärt werden
konnte. Unzählige Rätsel sind geblieben.
»Wir haben alles umgekrempelt, keinen
Stein auf dem anderen gelassen«, ver -
sichert Kriminalrat Michael Ellrich, Chef
der Magdeburger Mordkommission. Er
deutet auf einen Aktenberg hinter sich, auf
62 Bände, gefüllt mit 4944 Seiten. Zeugen-
aussagen, Gutachten, Fotos, Skizzen. Ell-
rich ist der zweite Ermittlungsleiter in die-
ser Sache, sein Vorgänger ist pensioniert.
Auch Ellrich schaffte es bisher nicht, den
spektakulärsten Kriminalfall zu lösen, der
sich in Sachsen-Anhalt seit der Wende er-
eignet hat.
Nichts brachte den Durchbruch. Nicht
die Sonderkommission »Spatzen« mit zeit-
weise 21 Beamten. Nicht die zahlreichen
Fahndungsaufrufe in den Medien, allein
zweimal in der ZDF-Sendung »Aktenzei-
chen XY ... ungelöst«, zuletzt im Januar



  1. Nicht die Vernehmung von mehr als
    400 Zeugen. Nicht einmal die ungewöhn-
    lich hohe Belohnung von 50 000 Euro, die
    von der Musikgruppe ausgesetzt wurde.
    Der SPIEGELhat Teile der Ermittlungs-
    akte einsehen können, hat mit Polizisten,
    Bandmitgliedern, Angehörigen und Ver-
    dächtigen gesprochen, um den Fall zu re-
    konstruieren, auch die Theorien der Poli-
    zei über den Tatablauf.
    Stadthalle Magdeburg, 5. März 1998.
    Das Konzert der Kastelruther Spatzen
    ist ausverkauft, das Publikum jubelt. Die
    Band zählt zu den erfolgreichsten Volks-
    musikgruppen Europas. Dabei hat mit
    Ausnahme des Schlagzeugers keines der
    Bandmitglieder, die alle aus Kastelruth
    und Umgebung stammen, je eine Musik-
    ausbildung absolviert. Keyboarder Albin
    Gross zum Beispiel kann kaum Noten
    lesen. Das Geheimnis, glaubt er, liege wo-
    anders: »Wir spielen aus dem Gefühl, aus
    der Seele, aus dem Herzen, und das spüren
    die Leute.«
    In Magdeburg stellt die Gruppe ihr neu-
    es Album »Herzschlag für Herzschlag«
    vor, benannt nach dem aktuellen Hit. Die
    meisten Zuhörer kennen den Text auswen-
    dig: »Herzschlag für Herzschlag, denk ich
    an dich, Herzschlag für Herzschlag, hörst
    du es nicht?«
    Am Stand mit den Fanartikeln verkauft
    Karlheinz Gross in der Pause CDs, Kalen-
    der und Stofftiere. Er ist seit Jahresbeginn
    der Manager. Der Familienvater, der in
    Kastelruth gerade ein Haus baut, gilt als
    gewissenhaft und zuverlässig. Wenn ihm
    jedoch etwas nicht passt, reagiert er schon
    mal aufbrausend.
    In Magdeburg ist er wohl nicht gut
    drauf. »Ich hatte den Eindruck, dass er
    nervlich am Boden war«, erklärt seine Ehe-
    frau später bei der Polizei. In Telefonaten
    habe er niedergeschlagen und bedrückt
    gewirkt, von großen und kleinen Schwie-
    rigkeiten gesprochen. Und ein wirklich
    großes Problem angedeutet. Darüber wol-
    le er aber erst zu Hause reden. Worum es
    ging, hat die Ehefrau nie erfahren.


Der Manager ärgert sich über Querelen
mit dem örtlichen Fanklub, die Vorberei-
tungen für eine Kanada-Tournee laufen
nur schleppend. Hinzu kommt der Stress
mit dem Kleinlaster für die Fanartikel. Der
Wagen, ein alter Iveco Turbo Daily, läuft
nicht rund, macht seltsame Geräusche.
Gross hat ihn nach dem Konzert in eine
Fachwerkstatt am Magdeburger Stadtrand
gebracht, will ihn am folgenden Tag wie-
der abholen. Am nächsten Abend sollen
die Musiker schon in Essen auftreten. Sie
wollen deshalb vorausfahren, Gross soll
mit dem reparierten Kleinlaster nachkom-
men. Die Bandmitglieder sehen ihren Ma-
nager nie wieder.

Einen Tag später, 6. März 1998, 10.15 Uhr.
In der Werkstatt erwartet Gross eine böse
Überraschung. Der Wagen ist nicht fertig
geworden. »Karlheinz war sehr verärgert«,
erinnert sich Bruder Albin, »er sprach von
Pfusch und Unfähigkeit.« Um 16.40 Uhr
telefoniert der Manager mit einem weite-
ren Mitarbeiter der Volksmu siker, da ist
er noch in der Werkstatt. Um 17.08 Uhr
wird von seinem Handy aus versucht, zu
Hause in Südtirol anzurufen, es kommt
aber keine Verbindung zustande. Es ist
womöglich sein letztes Lebens zeichen.
Auf der Steinkopfinsel im Industrie -
gebiet Rothensee findet ein Lastwagenfah-
rer eine gute Stunde später einen stark blu-
tenden Mann, der hilflos auf dem Rücken
liegt. Es ist Karlheinz Gross, neben sich
im Dreck seine verbogene Brille und seine
Armbanduhr. Seine Augen sind aufgeris-
sen, er ist nicht ansprechbar. Immer wie-
der habe der Mann wild mit beiden Armen
gefuchtelt, »als ob er sich vor etwas schüt-
zen wollte«, mutmaßt später ein Polizei-
beamter, der vor Ort war. Der Verletzte
wird in die Klinik gebracht und am Kopf
operiert. Er stirbt vier Stunden später.
Wie ist der Manager, der sich in Magde-
burg nicht auskannte, in diese einsame, un-
wirtliche Gegend gelangt, rund drei Kilo-
meter von der Autowerkstatt entfernt? Auf
ein Firmengelände inmitten einer Indus-
triebrache, das nur über schlammige, un-
befestigte Wege zu erreichen ist, ein Ge-
biet, das nur Ortskundige kennen? Was ist
ihm in der Stunde nach dem letzten Tele-
fonat widerfahren?
Auf diese Fragen gibt es noch immer
keine Antworten. Stattdessen kursieren
unterschiedlichste Spekulationen. Auch

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 39


Deutschland

Tod auf Tournee


KriminalitätWer tötete Karlheinz Gross, den Manager der Volksmusikgruppe Kastelruther


Spatzen? Der Fall gibt der Polizei seit 21 Jahren Rätsel auf. Von Bruno Schrep


Auf Fahndungsaufrufe
melden sich
Wahrsager, Esoteriker
und Kartenleger.
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