Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

E


s ist Sonntag, der 24. Dezember
1989, als der Tagungsleiter des Kon -
gresses der Volksdeputierten in Mos -
kau die Abgeordneten zur letzten
Abstimmung ruft. Im Kongress palast des
Kreml herrscht Tumult – die 2250 Abgeord -
neten des wenige Monate zuvor erstmals
frei gewählten Parlaments sollen über einen
Text entscheiden, um den in den Tagen zu-
vor dramatisch gerungen worden ist.
Die Vorlage trägt die Nummer 979-1 und
nennt sich »Politische und rechtliche Be-
wertung des sowjetisch-deutschen Nicht-
angriffsvertrags von 1939« – ein Vertrag,
der den meisten als Hitler-Stalin-Pakt ge-
läufig ist. Die Abgeordneten sollen ent-
scheiden, ob das Abkommen rechtens war
oder ein Bruch internationaler Normen.
Wer in der Sowjetunion groß geworden
ist, muss das als ungeheuerlich empfinden.
50 Jahre lang hatte die Kommunistische Par-
tei den Nichtangriffsvertrag von 1939 als
höchste Kunst sowjetischer Diplomatie ge-
feiert, weil er angeblich den Krieg mit
Deutschland hinausgezögert habe. Den Rest
der Abmachungen – Geheimprotokolle, in
denen Adolf Hitler und Josef Stalin Interes-
sensphären abgrenzten – hatte Moskau ver-
schwiegen oder als Fälschungen bezeichnet.
Am Rednerpult steht Politbüromitglied
Alexander Jakowlew, einer der engsten
Vertrauten von KP-Generalsekretär Mi-
chail Gorbatschow. Stalin habe 1939 auf
moralisch unhaltbare Weise mit Hitler ge-
meinsame Sache gemacht, sagt Jakowlew.
Er habe mit den Nachbarn in der Sprache
von Ultimaten und Drohungen geredet,
gemeinsam mit Hitler Polen aufgeteilt, die
baltischen Republiken rücksichtslos sow-
jetisiert. Das habe die staatliche Moral
untergraben. »Das Geheimprotokoll vom



  1. August 1939 widerspiegelte den inne-
    ren Kern des Stalinismus«, erklärt er. »Es
    ist nicht die einzige, aber eine der gefähr-
    lichsten Minen mit Langzeitwirkung aus
    jenem Minenfeld, das wir geerbt haben
    und nun mit so großen Anstrengungen und
    Schwierigkeiten säubern müssen.«
    Mit den Tabus der Sowjetzeit Schluss
    zu machen – das ist der Anspruch der Pe-
    restroika unter Reformer Michail Gorbat -
    schow. Auch die sowjetische Geschichte
    wird einer Prüfung unterzogen. Am Vor-
    tag gab es bereits eine erste Abstimmung
    zu diesem Thema – sie war schiefgegan-
    gen, die Zweifel an der Existenz der Ge-
    heimprotokolle waren zu groß. Jakowlew


trommelte daraufhin Experten zu einer
nächtlichen Krisensitzung zusammen und
legte an jenem 24. Dezember Notizen ei-
nes Kreml-Archivars vor. Sie bezeugten,
dass es die Protokolle wirklich gab und die
Sowjetführung die Originale nach dem
Krieg aus dem Archiv entfernen ließ.
Das ist der Durchbruch. Der Entwurf
erhält mehr als die Hälfte der Stimmen:
1435 anwesende Abgeordnete votieren für
die Resolution, 251 sind dagegen, 266 ent-
halten sich – ein schwer errungener Sieg
der liberalen Kräfte. Gorbatschow schaut
angespannt in den Saal. Er ahnt wohl, dass
die Neubewertung des Hitler-Stalin-Pakts
der Wendepunkt seiner Perestroika wer-
den und die Sowjetunion – so wie sie jetzt
existiert – kaum Bestand haben wird.
In dem nun angenommenen Dokument
heißt es: Die Verhandlungen mit Deutsch-
land über die Geheimprotokolle hätten Sta-
lin und Molotow geführt, ohne das sowjeti-
sche Volk, die Parteiführung, das Parlament
und die Regierung der UdSSR davon zu un-
terrichten. »Die Unterzeichnung war ein Akt
persönlicher Macht und spiegelte nicht den
Willen des sowjetischen Volkes wider. Der
Kongress betrachtet die Geheimprotokolle
als juristisch gegenstandslos und ungültig
vom Moment ihrer Unterzeichnung an.«

80 Jahre sind seit der Unterzeichnung
des Hitler-Stalin-Pakts vergangen, fast 30
seit jener Abstimmung im Kreml-Palast.
Wer meint, dass es zu diesem Thema kaum
noch etwas zu sagen gibt, hat weit gefehlt:
Pünktlich zum 80. Jahrestag jenes Abkom-
mens, das der deutsche Bundeskanzler
Helmut Kohl einst, wie schon andere vor
ihm, »Teufelspakt« nannte, regt sich in
Russland Widerstand gegen die unter Gor-
batschow vorgenommene Bewertung. Es
ist eine ernst zu nehmende Debatte. Sie
ist mehr als eine historische Petitesse oder
Stalin-Nostalgie, sie ist auch keine inner-
russische Angelegenheit. Sie zielt auf Russ-
lands Umgang mit dem Völkerrecht und
betrifft die aktuelle Weltpolitik. Denn der
Pakt beeinflusst bis heute die geopoliti-
schen Realitäten in Europa.
Den Startschuss zu der Debatte gab im
März in der Moskauer Zeitung »Iswestija«
Michail Mjagkow, der wissenschaftliche
Direktor der Russischen Militärhistori-
schen Gesellschaft. Sie wurde 2012 durch
einen Erlass von Präsident Wladimir Putin
gegründet und soll der »Verzerrung der

russischen Militärgeschichte entgegenwir-
ken«. Vorsitzender ist Putins Kulturminis-
ter, ihr gehören Minister, kremlnahe Un-
ternehmer, Wissenschaftler und namhafte
Vertreter der russischen Elite an.
Im Westen wachse mit der »Geschwin-
digkeit einer herabstürzenden Schnee -
lawine«, so Mjagkow, die Zahl jener Kom-
mentare, die Moskau die Schuld an der
Abmachung mit Hitler zuwiesen – und da-
mit die Schuld an der Entfesselung des
Zweiten Weltkriegs. Es sei an der Zeit auf-
zuhören, »sich Asche aufs Haupt zu streu-
en«, sagt Mjagkow. Es lohne sich »für Russ-
land und vor allem für die Abgeordneten
der Staatsduma, eine Revision jener an-
klagenden Beschlüsse vorzunehmen, die
auf dem Kongress der Volksdeputierten
1989 verabschiedet worden sind«. Es ist
die ungeschminkte Aufforderung ans Par-
lament, die Verurteilung des Pakts aus der
Gorbatschow-Zeit zu kippen.

Geht man heute durch Moskauund
sucht Spuren jener dramatischen Tage vom
August 1939, als Hitlers Außenminister Joa-
chim von Ribbentrop zur Unterzeichnung
des Pakts in der Sowjetunion war, wird
man kaum noch fündig. Den alten Flugha-
fen an der früheren Leningrader Chaussee
gibt es nicht mehr. Dort waren Ribbentrop
und seine Delegation am frühen Nachmit-
tag des 23. August mit zwei Focke-Wulf-
Maschinen Fw-200 »Condor« gelandet.
Kaum jemand hatte etwas von der Ankunft
der deutschen Delegation gewusst, und wer
davon hörte, der mochte es kaum glauben.
Die Spannungen mit Hitler-Deutschland
hatten in den letzten Jahren stetig zuge-
nommen, die Moskauer Zeitungen waren
voll antideutscher Propaganda. Die Gast-
geber hatten die Hakenkreuzflaggen, die
zur Begrüßung auf dem Flugplatz wehten,
aus einem der Moskauer Filmstudios ho-
len müssen, wo sie bislang in antifaschis -
tischen Filmen eingesetzt worden waren.
Das sowjetische Orchester spielte zu Rib-
bentrops Begrüßung erst das Horst-Wes-
sel-Lied, die Hymne der NSDAP, und
dann die »Internationale«, das Kampflied
der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Die Verhandlungen begannen am 23. Au -
gust 1939 um 18 Uhr im Büro von Ribben-

* Mit Reichspressechef Otto Dietrich (r.) in der Nacht
zum 24. August 1939 auf dem Ober salzberg in Erwar-
tung der Moskauer Verhandlungs ergebnisse.

80 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019


Ausland

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