Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1
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Wissenschaft

E


in massives Stahltor öffnet sich und
gibt den Blick frei auf einen düsteren
Stollen. Vom gegenüberliegenden
Wittekindsberg grüßt die Statue Kaiser
Wilhelms I. mit imperialer Geste. In der
nasskalten Grotte, rund einen
Kilometer Luftlinie vom Denk-
mal entfernt, ist zu besichtigen,
wohin der deutsche Nationalis-
mus am Ende führte.
Die unterirdische Anlage im
westfälischen Porta Westfalica
erinnert daran, wie tief eine Na-
tion sinken kann. Das Stollen-
system war in der Nazizeit als
»Dachs 1« bekannt; noch weni-
ge Monate vor Ende des Zwei-
ten Weltkriegs mussten vor al-
lem Insassen aus dem Konzen-
trationslager Neuengamme in
Hamburg hier unter menschen-
verachtenden Bedingungen
schuften. Mit Spitzhacken und
bloßen Händen bauten die
Häftlinge den Stollen zu einer
Produktionsstätte für Schmier-
öl aus.
Lange Jahre war das Tunnel-
system in Vergessenheit gera-
ten. Bis heute weist vor Ort kei-
ne Gedenktafel auf jene entsetz-
lichen Geschehnisse hin, die
sich dort von März 1944 an
ereigneten. Nun aber soll der
Schacht des Grauens zu einer
Gedenkstätte ausgebaut wer-
den, um an die dort geschehe-
nen Gräuel des NS-Regimes zu
erinnern. Zu diesem Zweck ha-
ben Bürger der Stadt den Ver-
ein KZ-Gedenk- und Dokumen-
tationsstätte Porta Westfalica
e. V. gegründet, dessen Vorsit-
zender der parteilose Bürger-
meister Bernd Hedtmann ist.
Unter dem Druck alliierter
Bomberangriffe hatten die Na-
zis vielerorts Industrieanlagen
in Bergwerke verlagert und ver-
steckt. Viele dieser Produktions-
stätten wurden von den Alliier-
ten nach Kriegsende gesprengt.


An der Porta Westfalica scheiterte die
britische Besatzungsmacht jedoch an den
örtlichen Gegebenheiten: »Wenn man die
Anlage hätte sprengen wollen, hätte man
den ganzen Berg sprengen müssen«, sagt
der Historiker Thomas Lange, Geschäfts-
führer des Gedenkstättenvereins. Für die
Errichtung einer unterirdischen Raffinerie
war die Höhle eigentlich gänzlich ungeeig-
net. »Ein riesiger technischer Aufwand«
sei dafür erforderlich gewesen, erläutert
Lange. Das mehr als kühne Unterfangen
wäre schon im Ansatz zum Scheitern ver-
urteilt gewesen, wenn die braunen Macht-
haber ihre Sklavenarbeiter nicht skrupel-
los verheizt hätten.
Historiker und Heimatforscher haben
inzwischen die erbarmungslosen Bedin-
gungen rekonstruiert, unter denen die
Wachkommandos der SS die Häftlinge zur

Arbeit prügelten. In Zwölfstundenschich-
ten hackten sich die Geschundenen durch
den Sandstein des Jakobsberges – bei fast
vollkommener Dunkelheit.
Gegen die Kälte bei konstanten zehn
Grad in dem Stollen schützten die Gefan-
genen lediglich ihre dünnen, gestreiften
Häftlingsanzüge. Die bis zur Besinnungs-
losigkeit Schuftenden schoben sich des-
halb leere Zementsäcke unter die Klei-
dung.
Weder Helme noch festes Schuhwerk
bewahrten die Männer jedoch vor herab-
stürzendem Geröll. Schon die geringsten
ungenehmigten Arbeitspausen bestrafte
das Wachpersonal mit Tritten oder Schlä-
gen mit Schaufeln. Zu essen bekamen
die Schwerstarbeiter lediglich Margarine-
brote und eine zerkochte Pampe aus
schimmligem Gemüse.
»Vernichtung durch Arbeit«
lautete das zynische Mordmotto
der Nationalsozialisten. Die
Strapazen im Stollen von Porta
müssen dabei selbst für Nazi -
verhältnisse besonders groß
gewesen sein, wie die Berichte
von Zeitzeugen belegen. Rund
1500 Häftlinge wurden in dem
Schacht in Ostwestfalen ein -
gesetzt. Wie viele von ihnen
durch die Sklavenarbeit umka-
men, liegt bis heute im Dunkel.
Wahrscheinlich war die Todes-
rate deutlich höher als in ande-
ren Arbeitslagern.
Zeitzeugen beobachteten da-
mals Kolonnen von Elends -
gestalten auf ihrem Weg in ihr
unterirdisches Joch. »Keiner
kann aufrichtig behaupten, dass
er davon nicht gewusst hätte«,
sagt Bernd Hedtmann. Den-
noch wurde der Stollen jahr-
zehntelang totgeschwiegen.
Offenkundig sei die Schacht-
anlage als so schwere Schande
der Stadt empfunden worden,
vermutet Historiker Lange, dass
sich niemand damit ernsthaft
habe befassen wollen. Die mitt-
lerweile begonnene Aufarbei-
tung dieses düsteren Kapitels
in der Geschichte Porta Westfa -
licas förderte denn auch manch
befremdliche Anekdote zutage.
Fern schien über Jahrzehnte
der Gedanke, den Ort des Grau-
ens in eine Gedenkstätte umzu-
wandeln. Stattdessen durfte
sich in den Sechzigerjahren ein
Unternehmer in dem historisch
belasteten Tunnelsystem austo-
ben – mit dem erfolglosen Auf-
bau einer Champignonzucht.
Frank Thadeusz

Schande


einer Stadt


GeschichteForscher ergründen
einen lange vergessenen
Stollen in Porta Westfalica.
KZ-Insassen mussten
sich dort zu Tode schuften.

BORIS ROESSLER / PICTURE ALLIANCE / DPA

NATIONAL ARCHIVE WASHINGTON
Unterirdische Anlage in Porta Westfalica, Schmierölraffinerie 1945
»Vernichtung durch Arbeit«
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