Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1
pe namens H0LiCOW an (von Kollegen
scherzhaft »holy cow« genannt). Die Grup-
pe vermaß die Hubble-Konstante mithilfe
von Quasaren, hellen Galaxiekernen. Fo-
lie für Folie ging der Doktorand über die
noch unveröffentlichten Messungen. Auf
der letzten Folie stand die entscheidende
Zahl: 73,3. »Mir lief ein kalter Schauer
über den Rücken«, erinnert sich Riess.
Das Ergebnis stimmt nicht nur nahezu
perfekt mit seinem eigenen überein, es ist
zudem unabhängig von seiner Messung
mit einer ganz anderen Methode zustande
gekommen – für ihn eine grandiose Be-
stätigung. Zusammengenommen über-
schreiten die beiden Analysen die statisti-
sche Schwelle, an der für Physiker typi-
scherweise aus einer Vermutung eine
Gewissheit wird. Seitdem der Fachartikel
vor wenigen Wochen online ging, hat sich
die Krise der Kosmologie massiv ver-
schärft.
Für das Verständnis des Universums ist
die Hubble-Konstante schon seit Langem
von großer Bedeutung. Seit fast einem
Jahrhundert versuchen die Himmelsfor-
scher, ihren genauen Wert zu ermitteln.
Alles begann damit, dass der amerika-
nische Astronom Edwin Hubble 1927 das
damals beste Teleskop der Welt auf einige
schwach glimmende Galaxien am Nacht-
himmel richtete. Er analysierte ihre Spek-
tren und erkannte: Je schwächer eine Ga-
laxie leuchtet, je weiter entfernt sie also
vermutlich ist, desto rotstichiger ihr Licht.
Hubble wusste, dass Licht wegen des
sogenannten Dopplereffekts umso lang-
welliger und damit röter wird, je schneller
sich seine Quelle vom Beobachter weg -
bewegt. Er selbst berechnete für die relati-
ve Ausdehnungsgeschwindigkeit – später

Hubble-Konstante genannt – einen sieben-
fach zu hohen Wert. Dennoch war die Er-
kenntnis bahnbrechend: Das Universum
wird immer größer. Alle fremden Galaxien
fliegen von der Milchstraße weg – und
zwar umso schneller, je weiter sie entfernt
sind.
Lange Zeit gingen die Astrophysiker da-
von aus, dass sich diese Expansion mit
zunehmendem Alter des Universums ab-
schwäche. Doch aus den Arbeiten von
Riess und anderen ergab sich das Gegen-
teil. Um die permanente Beschleunigung
zu erklären, postulierten die Kosmologen
eine mysteriöse dunkle Energie, die eine
Art negativen Druck aufbaut. Aufgrund
ihres Wirkens dehnt sich der Raum aus
sich selbst heraus aus und treibt alle Dinge
darin auseinander – ähnlich wie sich Rosi-
nen in einem aufgehenden Kuchenteig im
Ofen voneinander entfernen.
Diese unheimliche Wirkung entfaltet
die dunkle Energie überall im Universum.
Doch auf – kosmisch gesehen – kurzen
Distanzen überwiegen zumindest derzeit
noch die elektromagnetische Kraft und die
Gravitation. Beide Urkräfte halten Atome,
das Sonnensystem und die Milchstraße zu-
sammen.
Bis heute weiß niemand, was die dunkle
Energie genau ist. Manche vermuten da-
hinter bizarre Fluktuationen im Vakuum,
Teilchen und Antiteilchen, die spontan ent-
stehen und sich wieder in Strahlung auf -
lösen. Andere glauben eher an ein Energie-
feld, das den gesamten Raum durchzieht.
Fest steht nur, dass die dunkle Energie, zu-
sammen mit der ebenfalls mysteriösen
dunklen Materie, 95 Prozent aller Energie
und Materie im Universum ausmacht. Alle
sichtbare Materie – die Sonne, die Plane-

ten und dieses SPIEGEL-Heft – kommt zu-
sammen nur auf fünf Prozent.
Trotz der ungelösten Fragen um die
dunkle Energie war das Standardmodell
der Kosmologie bislang erstaunlich erfolg-
reich. Es erklärt, wie sich Teilchen einst
aus einer dichten Ursuppe zu Galaxien
ballten, wie in diesen Galaxien Sterne
geboren wurden und wieder vergingen,
wie einige von ihnen am Ende ihres Le-
bens zu massereichen schwarzen Löchern
schrumpften und andere sich zu roten
Riesen aufplusterten. Und es erklärt, wie
am Rande einer Galaxie namens Milch-
straße eine Sonne entstand und in ihrer
Nähe ein Planet, den Menschen einmal
Erde nennen würden.
Bis zur neuen Bestimmung der Hubble-
Konstanten gab es wenig Grund, an dem
kosmologischen Standardmodell zu zwei-
feln. Kein Wunder, dass die Fachleute auf
die neuesten Analysen zurückhaltend rea-
gieren. Die Astrophysikerin Wendy Freed-
man von der University of Chicago hat
kürzlich ebenfalls einen Wert für die Hub-
ble-Konstante ermittelt: Sie landete bei
knapp unter 70, einem Wert, der noch
eher mit dem Standardmodell verträglich
wäre. Freedman: »Erst in einigen Jahren,
mit deutlich mehr Daten, werden wir kla-
rer sehen.«
Auch für Adam Riess hat das Standard-
modell noch nicht automatisch ausgedient.
Er hält es aber für denkbar, dass man es
»zurechtruckeln« muss.
An Ideen mangelt es nicht, fast wöchent-
lich präsentieren Astrophysiker neue Vor-
schläge. Manche denken sich weitere,
noch unentdeckte Teilchen aus, etwa eine
vierte Klasse von Neutrinos; andere stellen
gar Albert Einsteins allgemeine Relativi-

Wissenschaft

Inflationäre
Ausdehnung
Im Bruchteil einer
Sekunde wächst
das Universum
auf astronomi-
sche Größe.

Urknall Ur-Universum
Der Kosmos wird durch-
sichtig. Dieser Urzustand
ist gleichsam eingefroren
in der kosmischen Hinter-
grundstrahlung. Mithilfe
von Satelliten können
Forscher sie exakt
kartieren.

Heutiges Universum
Das Weltall dehnt sich weiter-
hin aus, abzulesen an der
Rotverschiebung des Lichts
ferner Galaxien. Astronomen
nutzen unter anderem Super-
novae (explodierende Sterne)
für genaue Entfernungs-
bestimmungen.

Berechnungen der Hubble-Konstante, des Maßes für die Ex-
pansion des Weltalls, führen zu unterschiedlichen Ergebnissen,
je nachdem ob die Astronomen vom Ur-Universum oder vom
heutigen Weltall ausgehen.

010 –^35 Sekunden


Zeit seit
dem Urknall/
Alter des
Universums

Suche nach dem rechten Maß
Phasen des expandierenden Universums nach dem Standardmodell

380 000 Jahre 13,8 Milliarden Jahre

NASA / WMAP

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 99
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