BAUMANN
E
s ist immer dasselbe, und ich
habe mich damit abgefunden.
Meine Art zu laufen wird sich
nicht mehr ändern. Ich kann
noch so oft zu mir sagen: „Ich laufe locker,
heute geht es um den Spaß.“ Wenn ich
dann an einer Startlinie stehe, packt mich
doch der Laufvirus, und es gibt kein Hal-
ten mehr. Nein, ich rede nicht von einem
Dauerlauf, der täglichen Pflicht für das
Wohlgefühl. Ja, ich gebe zu, das Wohlge-
fühl hat in den Wintermonaten gelitten.
Aber dann kamen Gunter, mein Motiva-
tionscoach,und der Hannover-Marathon,
da ging wieder der Gaul mit mir durch.
Sie werden sagen: „Klar, der Baumann,
der kann nicht anders.“ Das ist zwar kein
Trost, aber Sie haben Recht. Vor dem Start
also sagte ich jedem, der es hören wollte:
Ich hatte Grippe, der Rücken, indifferente
Kniebeschwerden, Achillessehne dick.
Lauftraining war kaum möglich. Vor allem
aber sagte ich es zu mir selbst. Ich schwor
mich ein: Du hast nichts drauf. Lauf lang-
sam! Damit das auch wirklich klappte,
hatte ich aufs Aufwärmen verzichtet.
★ ★ ★
Liebe Freunde der Laufkunst, wenn Sie
wirklich mal im richtigen Tempobereich
anlaufen wollen, stellen Sie sich einfach
gefriergetrocknet an die Startlinie. Auf
dem ersten Kilometer kann nichts passie-
ren, das garantiere ich. Dann aber war es
bei mir vorbei. Die Muskulatur wurde
geschmeidiger, das Blut schoss durch die
Adern, und in meinem Kopf übernahmen
wieder die alten Bilder das Kommando.
Ich nahm Tempo auf, wurde immer
schneller, schloss Lücken, machte Druck
und zog weiter, immer weiter nach vorn.
Nach der Hälfte der Strecke hatte ich
eine sehr gute Gruppe gefunden. Doch
Zuschauer riefen uns zu, wie weit die
Nächsten vor uns entfernt waren, und so-
fort versuchte ich abzuschätzen, ob ich
noch weiter nach vorn laufen könnte. Die
Atmung, die Beine, die Gedanken – alles
wie immer: wie ein Tanz an der Grenze,
Dieter Baumanns wöchentliche
Kolumne „Mein Lauf der Woche“ finden Sie unter
http://www.runnersworld.de/baumann
wie damals. Heute völlig sinnlos, aber wie
immer schön. Nur langsamer, aber egal...
Sie fragen sich jetzt sicher, wo Gunter
abgeblieben war. Gunter war nicht dabei.
Natürlich lief Gunter in Hannover, und
ich auch, aber ich rede vom 10-Kilometer-
Lauf in Coburg. Der Marathon in Hanno-
ver? Alles wie immer, wie damals: Beine,
Gedanken, Atmung – alles schrecklich
wie immer. Natürlich habe ich mich auch
in Hannover nicht aufgewärmt, und das
hat gut funktioniert: Ich bin 35 Kilometer
langsam angelaufen, es hat mich nicht
gepackt, keinen einzigen Kilometer lang,
und ab Kilometer 35 suchte ich das Ziel.
★ ★ ★
Beim Marathon in Hannover muss man
noch eine kleine Schleife durch die Her-
renhäuser Gärten laufen. Ein paar ver-
sprengte Marathonläufer schleppten sich
voran, einsame Zuschauer, meist Ehe-
männer und -frauen, die Trinkflaschen
reichten, spendeten Applaus. Bei Kilome-
ter 38 (ungelogen: unter dem Kilometer-
schild!) hockten zwei junge Menschen auf
einer Decke und hatten ihr Picknick aus-
gepackt. Teller, Schüsseln, Sektgläser und
Flaschenkühler. Es sah toll aus, so ein-
ladend, so schön! Da rief ich aus: Ist hier
das Ziel? Keine Ahnung, gaben sie zurück.
Keine Ahnung! Es war so schrecklich!
Auf den letzten zwei Kilometern wur-
den wir – die Marathonläufer – wieder
mit den Halbmarathonstartern zusam-
mengeschleust. Sie waren noch voller
Kraft, voller Energie. Jedem, der an mir
vorbeilief, rief ich „Weichei!“ hinterher.
Eine Woche nach Hannover war ich in
Coburg: ein Nachtlauf über 10 Kilometer.
Sechs Tage bin ich keinen Schritt gelau-
fen. Sechs Ruhetage! Ja, ich stand an der
Startlinie und habe alle 30 Sekunden zu
mir gesagt: Lauf langsam, nur zum Spaß!
Das ist mir dann auch gelungen.
DIETER BAUMANN,49,
ist einer der erfolgreichsten Langstrecken-
läufer der Welt. 1992 wurde er 5000-Meter-
Olympiasieger. Heute ist er ein gefragter
Laufexperte (dieterbaumann.de)
Alles wie immer
Im Winter hatte unser Kolumnist die Freude am Laufen verloren. Es war ihm zur leidigen Pflicht geworden.
Dann kam Gunter, und die Motivation war wieder da. Seitdem ist Baumann wieder ganz der Alte
Unter dem Kilo-
meterschild
saßen zwei junge
Menschen auf
einer Decke und
picknickten.
Teller, Schüsseln,
Sektgläser und
Flaschenkühler.
Es war so ein-
ladend, so schön!
Da rief ich: Ist
hier das Ziel?
58 RUNNERSWORLD.DE • 7 / 2014 圀漀爀氀搀䴀愀最猀⸀渀攀琀圀漀爀氀搀䴀愀最猀⸀渀攀琀 ILLUSTRATION:SEAN MCCABE
圀漀爀氀搀䴀愀最猀⸀渀攀琀