die andere Straßenseite hinüber, weil
die neuerdings einen Farbfernseher be-
saß.
Ein schönes weißes Gerät von drü-
ben, mit dem wundersamen Namen
Nordmende. Unwirklich strahlten die
Farben, rein und weiß und schön schien
der Westen.
Weiß wie Wrigley’s Spearmint, weiß
wie Raffaello, weiß wie Meister Propers
Zähne, weiß war der Westen, weiß war
er, nicht sauber, sondern rein, die Fri-
sche war groß, da war riesig was los.
Der Westen war weiß und der Osten
grau.
Bevor Paola und Kurt Felix mit „Ver-
stehen Sie Spaß?“ loslegten, sah sich
Oma noch pflichtschuldig die „Aktuelle
Kamera“ auf DDR 1 an. Danach wurde
endlich umgeschaltet. „Hier ist das Ers-
te deutsche Fernsehen mit der ,Tages-
schau‘.“
Uwe Barschel lag tot in der Badewan-
ne, Beirut wurde bombardiert und
schon wieder war ein Starfighter abge-
stürzt. Oma schüttelte sich, wenn sie
Franz Josef Strauß sah. Das war un-
dankbar. Strauß hatte die DDR doch
1983 durch das Einfädeln eines Milliar-
denkredites gerettet.
In „Verstehen Sie Spaß?“ kletterte
Reinhold Messner aufs Matterhorn, und
oben stand ein Kiosk. Messner fand das
nicht lustig und erklärte Paola und Kurt
Felix warum. Dabei glitzerte in seinen
Augen schon der heilige Glanz von Gre-
ta Thunberg.
Mutter und ich dachten uns tagelang
nach der Show noch Streiche für die
versteckte Kamera aus.
- Der Westen kam in den Osten.
Auf den Tennisplätzen der Welt stöhnte
nun Monica Seles. Steffi war zeitweise
entthront.
Bei Woolworth gab’s T-Shirts für fünf
Mark, und in einem Jeansladen im Wed-
ding besorgte ich mir endlich eine Mar-
morjeans, die ich unten aufrollte, damit
man meine neuen weißen Knöchelturn-
schuhe besser sehen konnte.
Alle ließen sich jetzt scheiden. Mutter
war nicht mehr die einzige Alleinerzie-
hende. Oma bekam eine Depression we-
gen des Untergangs der DDR, und als der
Wahnsinnige Monica Seles in den Rü-
cken stach, hatte ich die Stadt verlassen.
Mein erster Freund schnitt sich aus
Wut über die Wiederwahl Helmut Kohls
den Oberarm mit einem Cuttermesser
auf, und als Peter Graf wegen Steuer-
hinterziehung angeklagt wurde, war ich
nach Berlin zurückgekehrt.
Damals habe ich diese Surfmusik ge-
hört. Aus den Tarantino-Soundtracks
und dem von „Full Metal Jacket“. Der
Sommer war heiß, die Wohnung klein.
Ein Raum/Hinterhof/Duschkabine/Au-
ßenklo/Ofenheizung. Ich trug Trai-
ningshosen, und geschmolzene Plastik-
puppenköpfe klebten an den Wänden
der Bars.
Nach Ost-Berlin zogen jetzt alle. Die
Münchner, die Frankfurter, die Nürn-
berger, die Hamburger. Die waren in der
Werbung oder schrieben für ProSieben
oder wohnten bei Wim Wenders. Ich
blieb zu Hause, spielte „Solitaire“, kiffte
und schaute nachts Sexfilme auf Puls
TV.
Und dann trug mein Lover einen
Kenzo-Pulli, den hatten sie auf einer
Modenschau in den Hackeschen Höfen
geklaut, sich in den Backstagebereich
geschlichen und die Klamotten aus dem
Fenster geworfen, und ich fand in einem
Hausflur in der Rosenthaler Straße drei
Polaroid-Kameras, und noch jemand
hatte sich nachts auf dem Dachboden
des Tacheles eine Motorsäge gezockt,
und ab da haben wir alles mitgenom-
men, was ging.
Löffel, Zuckerstreuer, Salzstreuer,
Pfefferstreuer, Gläser, Aschenbecher,
Klopapier, Stühle, Tische und Schnaps-
flaschen. Wir schraubten die Lampen in
der S-Bahn ab, klauten Billardkugeln,
rauchten Opium, knackten Zigaretten-
automaten, pinkelten in Hausflure, vö-
gelten in Rohbauten. Ich aß Haferflo-
cken mit heißem Wasser und Brühwür-
feln und fragte mich, ob es die RAF noch
gibt und ob man da mitmachen könnte.
Am Freitag, den 13. August 1999, er-
klärte Steffi den Rücktritt vom Turnier-
tennis, und ich war im dritten Monat
schwanger.
Ein neues Zeitalter brach an.
TRuth Herzberg ist freie Autorin, ihr
Debütroman „Wie man mit einem
Mann glücklich wird“ erschien bei mi-
krotext. Sie studierte Drehbuch- und
Filmdramaturgie in Potsdam-Babels-
berg. Ihre Schwester Hannah Herzberg
ist Fotografin, sie besuchte die Ost-
kreuzschule Berlin und die Bauhaus-
Universität in Weimar. Die Schwestern
leben in Berlin.
W
ir haben Becker und
Graf gegeneinander
antreten lassen, in
den Achtzigern, in
den Sommerferien.
Mein Cousin und ich. Er war Boris und
ich Steffi. Wir spielten Federball hin-
term Sommerhaus in der Uckermark,
über uns der blaue Himmel von Wim-
bledon und unser Match wurde live in
die ganze Welt übertragen.
20 Millionen Fernsehzuschauer allein
in Deutschland! Also prüften wir vor
dem Aufschlag die Bespannung unserer
Federballschläger, ließen sie lässig an
unsere Schuhsohlen tippen, warfen den
Federball in die Luft, holten Schwung
und droschen direkt auf den Mann.
Ich war nicht nur Steffi, sondern
kommentierte das Geschehen auch live,
wobei Boris nicht besonders gut weg-
kam.
Die von Steffi gewohnt souveräne An-
gabe konnte von Boris erwartungsge-
mäß nicht pariert werden. Aufschlag
Boris. Der zerrupfte Federball surrte
durch die Luft und blieb im schlaffen
Netz von Steffis miesem Schläger ste-
cken. Steffi holte aus, und dann hatte
Boris sich mal wieder verkalkuliert, und
der Ball traf nicht aufs Schlägernetz,
sondern aufs Rahmenholz.
„Holz!“, brüllte Steffi. Dann rannten
Boris und Steffi um die Wette zu dem
versprungenen Ball und warfen ihre
Schläger drauf. Steffi war schneller als
Boris, der Ball lag unter ihrem Schläger,
sie machte blitzschnell eine Angabe und
Boris musste rennen, um den Ball zu-
rückschlagen zu können.
Das Turnier musste unterbrochen
werden, weil Boris sich nun höchst un-
fair und unsportlich auf Steffi gestürzt
hatte. Mit Boris’ Knien auf ihren Ober-
armen und ihren Fingern in seinen Na-
senlöchern stimmte sie dem Kompro-
miss zu, das Match fortan nicht mehr zu
kommentieren.
Wenn die blasse Kuppe des Feder-
balls im Nachthimmel nicht mehr
rechtzeitig zu erkennen war, ließen
Steffi und Boris die Federballschläger
müde ins Gras fallen und gingen ins
Haus. Drinnen machte die Tante Ärger.
„Wo sind die Schläger? Hebt die Schlä-
ger auf!“
Wenn am nächsten Tag dann alle zum
See fuhren, blieb ich im Haus und sah
„Unsere kleine Farm“ auf dem Schwarz-
Weiß-Fernseher in der Stube.
Draußen war es heiß, aber ich saß
drinnen bei geschlossenen Fensterläden
und ruckelte an der Antenne auf dem
Fernseher, weil das Bild krisselte. Mi-
chael Landon hob Laura neben sich auf
den Kutschbock und drückte ihr die Zü-
gel in die Hand. Oh, wie sehr ich sie be-
neidete!
Mir hatte Mutter kürzlich mal wieder
einen Mireille-Mathieu-Topfschnitt
verpasst, weil das eben gerade so Mode
war und sie mir vorher versprochen hat-
te, dass sie meine Haare „nur ein ganz
kleines Stückchen“ abschneiden wollte.
Aber Laura hatte zwei dicke lange Zöpfe
und Michael Landon. Steffi hatte Peter
Graf.
Ich hatte keinen Papa. Niemanden,
der mich vor Mutter und ihrer Schere in
Schutz genommen hätte. Nach jedem
Sieg rannte Steffi als Erstes zu Peter
Graf. Wie glücklich musste sie sein.
Steffi trug weiße Turnschuhe und
Laura schöne lange Kleider mit Schlei-
fen. Oh, wie sehr wollte ich das alles ha-
ben. Papas, Schleifen, weiße Turnschu-
he, lange Kleider und Zöpfe.
Ich hatte auch einen Vater, aber der
hatte andere Kinder, andere Frauen, ein
anderes Leben. Ich musste anderer Kin-
der Kleidung auftragen, mir war immer
alles zu groß oder zu klein. Ich musste
den Bauch einziehen, damit Mutter den
Knopf der Cordhose schließen konnte.
Meine Pullis rutschten nach oben, die
Socken nach unten und ich schämte
mich für meine klobigen Lederschuhe.
Dann kam der Herbst, und Mutter
und ich gingen samstags zur Oma auf
Der Himmel
über Wimbledon
Heute vor zwanzig Jahren erklärte Steffi Graf ihren
Rücktritt. Erinnerungen an eine verlorene Ästhetik.
Text: Ruth Herzberg, Bilderserie: Hannah Herzberg
HANNAH HERZBERG
(5)
WWWir waren Steffi und Boris.ir waren Steffi und Boris.
Bis wir es nicht mehr waren
DRAUSSEN WAR ES
HEISS, ABER ICH
SASS DRINNEN BEI
GESCHLOSSENEN
FENSTERLÄDEN UND
RUCKELTE AN DER
ANTENNE AUF DEM
FERNSEHER, WEIL
DAS BILD KRISSELTE
21
13.08.19 Dienstag, 13. August 2019DWBE-HP
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FEUILLETON-REDAKTION: TELEFON: 030 – 2591 71950|FAX: 030 – 2591 71958|E-MAIL: [email protected]|INTERNET: WELT.DE/KULTUR
DIE WELT DIENSTAG,13.AUGUST2019 SEITE 21 *
Salvini und die neue
Nacktheit der Männer Seite 23
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