Die Welt - 13.08.2019

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der Pelikan reiße seine Brust auf, um mit
dem Blut seine Küken zu nähren. Da-
durch wurde der Vogel zum Symbol für
Jesus Christus, der sein Blut gegeben ha-
be, um die Menschheit zu retten. Das ist
tttypisch für einen Wandel, den die Dar-ypisch für einen Wandel, den die Dar-
stellung von Tieren beim Epochenwech-
sel von der Antike zum christlichen Mit-
telalter durchmachte: Das Interesse ver-
schob sich von der tatsächlichen Biologie
der Tiere dahin, inwieweit sie für religiö-
se Symbolik tauglich waren. Deshalb wur-
de die Information, der Hirsch sei der
Todfeind der Schlange nie falsifiziert, ob-

W


ir alle haben bei Um-
berto Eco gelernt,
dass es im Mittelalter
weniger darauf an-
kam, wie ein Tier
wirklich aussah, als vielmehr darauf, wie
es in den Büchern beschrieben wurde. Zu
Beginn von „Der Name der Rose“ begeg-
nen William von Baskerville und sein Ad-
latus Adson von Melk vor einer Benedik-
tinerabtei einem Klosterbruder, der das
entlaufene Pferd seines Abts sucht. Der
Mönchdetektiv William verblüfft den
Franziskaner damit, dass er das Aussehen
des Pferdes kennt, ohne es je gesehen zu
haben: „Einen Rappen, fünf Fuß hoch,
mit prächtigem Schweif; kleine runde
Hufe, aber sehr regelmäßiger Galopp,
schmaler Kopf, feine Ohren, aber große
AAAugen.“ugen.“

VON MATTHIAS HEINE

Seinem Schüler erklärt William später,
es komme gar nicht darauf an, wie das
Pferd wirklich aussehe. Aber es handele
sich nun mal gewiss um das beste im
Stall, und ein belesener Mönch könne es –
ungeachtet seiner natürlichen Formen –
gar nicht anders beschreiben, als es bei
den „auctoritates“ stehe. In diesem Falle
sei die Autorität Isidor von Sevilla. Der
beschreibe ein hervorragendes Pferd nun
mal genau so.
Der Bischof von Sevilla, der 636 starb,
hatte kurz vor dem Ende der Antike in
seiner Enzyklopädie das ganze damals
noch verfügbare Wissen der Griechen
und Römer in den 20 Bänden seiner „Ety-
mologiae“ genannten Enzyklopädie ge-
sammelt. Durch zahlreiche Abschriften
und Auszüge wurde Isidors Lexikon zum
„Grundbuch des ganzen Mittelalters“
(Ernst Robert Curtius). Das zwölfte
Buch, das von Tieren handelt, ist die
QQQuelle zahlreicher „Bestiarien“, eineruelle zahlreicher „Bestiarien“, einer
Gattung von Tierbüchern, die in der Zeit
der Kathedralen extrem beliebt und ver-
breitet waren. Die andere Quelle ist der
„Physiologus“, eine frühchristliche Na-
turlehre in 48 Kapiteln, die im 2. Jahrhun-
dert nach Chr. in griechischer Sprache
verfasst wurde.
Die Bestiarien, deren Schönheit jetzt
eine Ausstellung im Getty Center von Los
Angeles feiert, hatten einen kaum zu
üüüberschätzenden Einfluss auf die Geis-berschätzenden Einfluss auf die Geis-
tes- und Kunstgeschichte Europas. Durch
sie wurde beispielsweise die gerade durch
den Disney-Film wieder sehr aktuelle
VVVorstellung verbreitet, der Löwe sei derorstellung verbreitet, der Löwe sei der
König der Tiere. Egal, in welcher Folge
und Auswahl die Fauna in den jeweiligen
Bestiarien beschrieben war – immer
stand der Löwe am Anfang, so wie der Kö-
nig oben in der gesellschaftlichen Pyrami-
de des Mittelalters thronte.
Redensarten wie die vom Elefantenge-
dächtnis oder der Schläue des Fuchses
sind durch die Bestiarien von der Antike
in die Neuzeit überliefert worden. Am
fffrappierendsten ist das bei der Legenderappierendsten ist das bei der Legende
von Krokodilstränen, weil es im Europa
des Mittelalters ja nur sehr wenige Men-
schen gab, die jemals ein Krokodil gese-
hen hatten. Lediglich die Kreuzritter
kannten die Tiere aus eigener Anschau-
ung, denn damals schwammen die großen
Echsen noch in Flüssen der Levante. Aber
Herodot, der Vater der griechischen Ge-
schichtsschreibung, hatte schon im fünf-
ten Jahrhundert vor Christus behauptet,
Krokodile vergössen Tränen, wenn sie ih-
re Opfer verschlingen. Über die Bestia-
rien wurde diese antike biologische Fake
News in die Bilder- und Sprachwelt des
Mittelalters eingespeist.
Ebenfalls auf den „Physiologus“ und
damit auf die Antike geht die Mär zurück,

wohl es doch in Europa genügend Gele-
genheiten gab, Hirsche in der Natur zu
beobachten. Man wollte sich die vielen
schönen Hirsche, die in der mittelalterli-
chen Buchmalerei oder auf Schmuckplas-
tiken von Kirchen die bösen Schlangen
zertreten oder totbeißen, nicht durch Re-
cherche kaputt machen.
Manche Tiere existierten ohnehin nur
in der Fantasie. Etwa der Greif, ein geflü-
geltes Mischwesen aus Vogel und Löwe
mit vier Krallenfüßen, einem Schnabel
und gewaltigen Adlerschwingen, das Pfer-
de und ihre Reiter in Stücke reißt, wo es

sie schnappen kann. Oder das Einhorn,
das nur von einer Jungfrau gefangen wer-
den konnte. Wie der Pelikan wurde auch
dieses Fabelwesen allegorisch als Jesus
Christus gedeutet. Die Jungfrau setzte
man mit Maria gleich, und das einzige
Horn verwies auf den Glauben an den
einzigen Gott.
Nun richtet ausgerechnet das Getty
Center in Los Angeles, ein Ort, der denk-
bar weit vom europäischen Mittelalter
entfernt ist, eine solche Ausstellung aus,
die den ganzen Wissensstand über die
Bestiarien von den besten Köpfen aus al-
ler Welt sammelt. Das hat damit zu tun,
dass das Museum 2007 das Northumber-
land-Bestiarium erwarb, eines der pracht-
vollsten Werke der Gattung aus dem 13.
Jahrhundert. Dadurch wurde das Getty
Center zur Hochburg der Bestiarienfor-
schung. Wissenschaftler aus aller Welt
reisen dorthin, wenn sie die Illustratio-
nen einmal im Original sehen wollen.
ZZZwar gab es auch Bestiarien, die nurwar gab es auch Bestiarien, die nur
aaaus reinem Text bestanden. Doch oft wa-us reinem Text bestanden. Doch oft wa-
ren es schön illustrierte Exemplare, die
von wohlhabenden Stiftern für Kloster
oder öffentliche Kirchen gespendet wur-
den. Ursprünglich dienten Bestiarien da-
zu, Mönchen anhand von Fabeln die ele-
mentaren Grundsätze des Glaubens na-
hezubringen. Bald wurden sie aber auch
bei öffentlichen Predigten, die vor Laien
gehalten wurden, gezeigt. Ihre Illustratio-
nen halfen auch Analphabeten, sich das
Gehörte einzuprägen. Noch Leonardo da
Vinci hat sich für solche allegorischen
Tierdarstellungen interessiert. Von ihm
stammt eines der letzten Bestiarien.
Sogar real existierende Tiere wurden in
der Überlieferungsgeschichte der Bestia-
rien zu reinen Fabelwesen umgewandelt,
beispielsweise der Tiger. Von ihm heißt es
im „Physiologus“, er sei ein „bunt ge-
schecktes“ Tier, das vor allem in der per-
sischen Provinz Hyrcania am Kaspischen
Meer zu Hause sei – heute der nördliche
Iran und das südliche Turkmenistan. In
dieser Information hallte vielleicht noch
nach, dass die Griechen von der Raubkat-
ze erstmals auf dem Wege über Persien
gehört hatten. Im vierten Jahrhundert v.
Chr. erwähnte der griechische Arzt Ktesi-
as von Knidos in seinem Werk „Indiká“
den Tiger. Dabei verarbeitete er wohl per-
sische Quellen. Zu Gesicht bekamen Eu-
ropäer einen Tiger erstmals ein paar Jahr-
zehnte später, als der Diadoche, Seleukos
I., Nachfolger Alexanders als Herrscher
des Perserreichs, den Athenern ein Exem-
plar schenkte. Während der gesamten An-
tike sind nur wenige dieser schwer zu fan-
genden Tiere in Europa aufgetaucht und
meist in römischen Zirkusarenen ver-
braucht worden. Der letzte wurde 448 in
Konstantinopel gesehen. Danach hat sich
1 000 Jahre lang kein Abendländer mehr
ein realistisches Bild von einem Tiger ma-
chen können.
Das führte dazu, dass mittelalterliche
Buchillustratoren sich bei der Interpreta-
tion dessen, was mit „bunt gescheckt“ ge-
meint war, ziemlich viele Freiheiten he-
rausnehmen durften. Eine Darstellung im
1 200 entstandenen Aberdeen-Bestiarium
zeigt einen nachtblauen Tiger mit roten
und weißen Punkten. Das war aber im-
merhin schon realistischer, als Ktesias
von Knidos die „Bestie Indiens“ beschrie-
ben hatte: Laut seinen Informanten – of-
fffenbar Perser, die sehr gut Jägerlateinenbar Perser, die sehr gut Jägerlatein
konnten – sollte der Tiger drei Zahnrei-
hen haben und außerdem einen Stachel
am Schwanz, den er auf ihn verfolgende
Feinde schleudern konnte.

TBook of Beast. The Bestiary in the
Medieval World, Getty Center,
Los Angeles

Das Einhorn symbolisierte in der Allegorik mittelalterlicher Tierbücher Jesus Christus. Man glaubte, es könne nur von einer Jungfrau gefangen werden


THE BODLEIAN LIBRARIES, UNIVERSITY OF OXFORD/ MS. ASHMOLE

Die Erfindung des Einhorns


Im Mittelalter glaubte man, Tiger seien


buntgescheckt und Krokodile würden weinen –


eine Ausstellung in Los Angeles erzählt vom


wunderbaren Einfluss tierischer


Missverständnisse auf die Kulturgeschichte


Auch der Greif, ein Mischwesen aus Löwe und Raubvogel, gehört zum
Standardrepertoire der Bestiarien

NATIONAL LIBRARY OF THE NETHERLANDS

/NATIONAL LIBRARY OF THE NETHERLANDS

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13.08.19 Dienstag, 13. August 2019DWBE-HP



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22 FEUILLETON DIE WELT DIENSTAG,13.AUGUST2019


D


ie Kultur, soweit sie sich über-
blicken lässt, ist schon manch-
mal ziemlich einseitig. So wis-
sen wir – aus einer Unzahl von Roma-
nen, Filmen, Serien – sehr genau über
das Pubertieren, das Erwachsenwerden,
das „Coming of Age“ Bescheid. Oder
könnten wenigstens Bescheid wissen.
Was sich aber auf der anderen – zumin-
dest theoretisch kaufkräftigeren und in-
zwischen zahlenmäßig der Jugend über-
legeneren – Seite abspielt, was mit Vä-
tern geschieht, mit Müttern, wenn ihre
Kinder sich erst einmal dem Einflussbe-
reich ihrer Helikopter entfernen, das
wissen wir eher nicht. Jedenfalls nicht
aus Romanen, Filmen und Serien. Inso-
fern ist gegen „Otherhood“ prinzipiell
erst einmal gar nichts zu sagen.

VON ELMAR KREKELER

Cindy Chupacks Netflix-Film erzählt
von drei Müttern, vom Alter her Ange-
hörige der Babyboomer, Mittfünfzige-
rinnen, unbemannte Raumfahrerinnen
gewissermaßen. Sie leben ein leeres, ge-

pflegtes Leben in leeren gepflegten Vil-
len, die mehr leere gepflegte Zimmer
haben, als ein durchschnittliches Ge-
müt auszuhalten in der Lage ist. Ehe-
männer, Lebensabschnittsgefährten
sind gekommen und gegangen, die Söh-
ne, alle in ihren Dreißigern inzwischen,
leben nicht so weit weg in der großen,
großen Stadt, die niemals schläft.

Poughkeepsie heißt der Ort, wo Carol
und Helen und Gillian bei zu viel Bour-
bon, als ihrer Leber guttut, ihr leeres
Leben leben. Sie kennen sich, seit ihre
Söhne sich kennen. Ihnen geht es gut.
Die Social-Work-Life-Balance stimmt.
Wir sind hier ja nicht in der Niederlau-
sitz, sondern in einer Art gestrandetem
Traumschiff, einer amerikanischen Pa-
rallelwelt zum Cornwall Rosamunde
Pilchers. Kein Staubkörnchen liegt auf
der Produktion, die ganze Geschichte,
alle Gesichter wirken, als hätte man vor
dem Dreh zentimeterdick Creme mit
Lotuseffekt aufgetragen, um bloß keine
Tiefe zuzulassen und Ablagerungen von
Realitätsdreck von vorneherein zu ver-
hindern.
Es ist Muttertag. Von Daniel, Matt
und Paul, ihren drei Fragezeichen in
New York, haben Carol, Helen und Gil-
liam schon lange nichts mehr gehört.
Den Muttertag haben alle Filiusse na-
türlich auch vergessen. Die Blumen, die
bei Carol, der Muttertags-Gastgeberin
des Jahres, zwischen Bourbon und
Brunch stehen, hat sie sich selbst ge-

schickt, samt gefakter Grußkarte an die
beste Mutter von allen. Der Sohn denkt
daran nie.
Sie tauschen sich aus. Was denn ei-
gentlich mit ihnen geschehen ist, was
denn eigentlich kommt nach Mo-
therhood? Otherhood? Eine neue Form
von Coming-of-Age-Verzweiflung
bricht sich Bahn. Der Alkoholpegel
steigt. Und dann kommen die drei, die
ja, weil der Feminismus anscheinend ei-
nen großen Bogen um Poughkeepsie ge-
macht hat, ohne Söhne nicht sein kön-
nen, auf die Idee, den alten Volvo Kombi
zu nehmen und von den Trümmern je-
nes uralten Rollengebäudes herab, das
sie gerade zu begraben droht, in die
Stadt zu fahren und noch einmal nach
Herzenslust zu helikoptern. Was sie
dann auch zum Entsetzen ihrer weitge-
hend selbstständigen Nachkommen,
denen es – zum Glück für die Drehbuch-
autoren – an Familie fehlt, nach Her-
zenslust tun.
Wie gesagt – prinzipiell ist nichts zu
sagen gegen das, was Cindy Chupack,
von der auch einige Folgen „Sex and the

City“ stammen, da vorhat. Universelle
Themen, anerzählen eines noch lange
nicht auserzählten Generationenkon-
flikts, die ziemlich passgenaue Orien-
tierung auf eine Streaming-Zielgruppe,
die so breit ist, dass der Versuch, sie ge-
wissermaßen cinematografisch zu be-
friedigen, schon in den öffentlich-recht-
lichen Sendern des alten und überal-
ternden Deutschland für eine Schwem-
me von Familienkomödien gesorgt hat,
die noch seichter sind als der Platten-
see. „Otherhood“ ist Inga Lindström
mit anderen (vor allem finanziellen)
Mitteln.
Mit Realität haben die (von einer
Deutschen verfassten) Schweden-
Schnulzen natürlich genauso wenig zu
tun wie „Otherhood“. Und wie peinlich
genau Netflix eine Vermischung ihrer
Mutterfiktion mit der Wirklichkeit ver-
meintlich sinnlos gewordener Erzie-
hungsberechtigten zu vermeiden sucht,
kann man daran erkennen, dass „Other-
hood“ mit vier Monaten Verspätung
zum Streamen bereitgestellt wurde. Im
April kam nämlich dummerweise ans

Licht, dass Felicity Huffman, Mutter
Helen in „Otherhood“, es mit der Heli-
kopterei auch im wirklichen Leben ein
bisschen übertrieben hatte. Sie hielt ih-
re Tochter für so dämlich, dass sie
meinte, sie müsse die Schulbehörden
mit umgerechnet 13.000 Euro schmie-
ren, um sie auf ein Elite-College zu be-
kommen.
Das Problem an Cindy Chupacks
Film ist das aber nicht, auch nicht die
verschnulzte Parallelwelt, in der er
spielt, und nicht die grundsätzliche Vor-
hersagbarkeit seiner Dramaturgie und
seines Humors, die Flachheit seiner
Scherze, die Art und Weise, wie er Kari-
katuren konstruiert, die zum Leben zu
bringen weder Felicity Huffman noch
Patricia Arquette (Gillian) noch Angela
Bassett (Carol) hinbekommen.
Das Problem an „Otherhood“ ist das
alberne Mutterbild, das Cindy Chupack
transportiert. Das ist im Gegensatz zum
Design des Films derart verstaubt, dass
man irgendwann unbedingt befürchtet,
Doris Day käme um die Ecke und wolle
mitmachen. Sie würde kaum auffallen.

Das Helikoptern höret niemals auf


Im Netflix-Film „Otherhood“ treiben Felicity Huffman, Patricia Arquette und Angela Bassett als drei Mütter ihre Söhne in den Wahnsinn


Mütter, zu dritt in New York: Patricia
Arquette, Angela Bassett, Felicity Huffman

PA/ COURTESY EVERETT COLLECTION/ NETFLIX/ L. KALLERUS

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