Die Welt - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1

W


enn Daniel Walaschek sagen
soll, was den Ausschlag gege-
ben hat für seine Flucht aus
Berlin, dann nennt einer ein
ganzes Bündel von Gründen:
Die zunehmende Enge im Stadtteil Prenzlauer
Berg. Das Verschwinden von kreativen Gestal-
tungsräumen. Das Abgeschnittensein von der
Natur. „Wenn ich am Wochenende mal raus in
die Landschaft wollte, saß ich mit Hunderten an-
derer Berliner im Zug. Und abends pendelten
wir alle wieder zurück in die Stadt. Ich wollte das
alles nicht mehr. Ich hatte das Bedürfnis nach
mehr Freiraum und Naturerlebnis.“

VON SABINE MENKENS
AUS RADDUSCH

Der gebürtige Oberschwabe ist Geograf. Als
Webentwickler für Formate im Bereich Natur,
Landwirtschaft und Umwelt arbeitet er aus dem
Home-Office heraus für einen Stuttgarter Verlag.
Ein Digitalarbeiter, der unabhängig ist vom Fir-
mensitz seines Arbeitgebers. Und so kam die
Was-wäre-wenn-Frage auf zwischen ihm und sei-
ner Frau Ina Fettig. Was wäre, wenn sie die Zelte
abbrechen würden in der Stadt? Stattdessen auf
dem Land leben, arbeiten und etwas aufbauen –
mit Gleichgesinnten, in einem ländlichen Co-
Working-Space, einer Art Digitalkommune?
Gemeinsam mit ihrer langjährigen Freundin
Dagmar Schmidt machte das Ehepaar sich auf die
Suche nach einem Ort, der diese Vision würde
einlösen können. Fündig wurden sie in der Lau-
sitz – einer Region, die dem Institut der deut-
schen Wirtschaft zufolge bedroht ist, „abge-
hängt“ zu werden. In dem Spreewalddorf Rad-
dusch entdeckten sie im Jahr 2014 ein Haus, das
ehemals einen Gasthof mit Tanzsaal und einen
Kolonialwarenladen mit Postagentur beherberg-
te. „Kaiserliche Postagentur“ lautet deshalb auch
der Claim, unter dem die drei das Objekt saniert
haben. Als Projektraum und Co-Working-Space
konzipiert, sollte es vor allem als ein Magnet für
Freelancer, kleine Firmen und Initiativen dienen,
die in der Lausitz bereits ansässig sind und eine
kreative Umgebung suchen, um gemeinsam die

nachhaltige Regionalentwicklung voranzutrei-
ben. Inzwischen arbeiten hier der Reise- und
Eventveranstalter Spreescouts, der Bildungs-
dienstleister Spreeakademie, das Entwicklungs-
büro Tamen sowie die Initiativen Lausitzer Per-
spektiven und Wertewandel zusammen. Die Sy-
nergien seien jetzt schon spürbar, sagt Schmidt.
„Wir sind wie eine Art kleines Co-Dorf im Dorf.“
Mit diesem Konzept ist die „Kaiserliche Post-
agentur“ Vorreiter für einen Trend, den Bevölke-
rungsforscher mit wachsendem Interesse beob-
achten. In dem Maße, in dem die Städte voller
und teurer werden, rückt das Landleben in den
Fokus auch des urban geprägten, digital affinen
akademischen Milieus.
AAAuf der diesjährigen Digitalkonferenz re:publicauf der diesjährigen Digitalkonferenz re:publica
gab es unter Schlagworten wie „Ländlich, digital,
sucht“ oder „Wir sehen Land: Digital“ gleich meh-
rere Workshops zum Thema. Auf Meet-up-Platt-
ffformen wie „ormen wie „Landdrang“ oder „Stadt, Land, Work


  • Berlin und Brandenburg“ diskutieren Gleichge-
    sinnte, wie sie Projekte, die sie in den enger wer-
    den Städten nicht mehr realisieren können, statt-
    dessen auf dem Land verwirklichen können.
    Einige von ihnen haben ihren Traum bereits
    realisiert. Sie haben in leerstehenden Resthöfen,
    alten Schulen und ehemalige Landwirtschaftli-
    che Produktionsgenossenschaften neue Formen
    gemeinschaftlichen Wohnens und Arbeitens
    etabliert – und damit eine Art
    des Zusammenlebens auf das
    Land gebracht, die man bis-
    lang eher aus dem städtischen
    Raum kannte.
    Und anders als die Ökokom-
    munen der Vergangenheit sind
    die Neudörfler Menschen, die
    nicht Selbstgenügsamkeit und
    Abgeschiedenheit suchen,
    sondern global vernetzt sind.
    Menschen, die vorwiegend di-
    gital arbeiten und ihren Ar-
    beitsplatz im Idealfall immer
    dabei haben – vorausgesetzt,
    es gibt einen leistungsfähigen
    Internetanschluss. In der Stu-
    die „Urbane Dörfer – wie digi-


tales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“
haben das Berlin-Institutfür Bevölkerung und
Entwicklung und der Verein Neuland21, ein
Thinktank für innovative Regionalentwicklung,
den neuen Trend im Osten Deutschlands unter-
sucht. Sie machen allerdings nicht nur die origi-
näre Landlust für die Bewegung verantwortlich.
In Berlin fehlten inzwischen einfach die Frei-
räume, sagte Rolf Novy-Huy, geschäftsführender
Vorstand der Stiftung Trias, die schon seit 2002
Gemeinschaftsprojekte unterstützt, den Auto-
ren der Studie. „Die Chance, Projekte in Metro-
polregionen umzusetzen, ist immer kleiner ge-
worden. Teilweise treibt die Not die Gruppen
aufs Land, weil vieles in der Stadt nicht mehr be-
zahlbar ist und die Räume nicht mehr in der ge-
suchten Größe verfügbar sind.“
So unterstützt die Stiftung Trias jetzt auch
viele ambitionierte neue Landprojekte, wie zum
Beispiel den Hof Prädikow bei Strausberg. Auf
einem der größten noch einigermaßen erhalte-
nen Vierseithöfe Brandenburgs mit einer stillge-
legten Brennerei werden ab 2020 rund 40 Men-
schen einziehen, die sich in den vergangenen
Jahren in der Berliner Wohngenossenschaft
Selbstbau eG zusammengefunden haben. Darun-
ter auch Philipp Hentschel, der als Projektmana-
ger für Digitalprojekte ein typischer Vertreter
der neuen digitalen Avantgarde ist.

Der 36-Jährige hat bereits das weithin bekann-
te Projekt „Coconat“ in Bad Belzig mit initiiert.
Das „Workation Retreat“ mit angeschlossenem
Gästehaus hat sich zum Treffpunkt für Wissens-
arbeiter und Digitalnomaden aus der Region ent-
wickelt. Zudem betreibt Hentschel die Website
„Kreativorte Brandenburg“, auf der moderne
ländliche Projekte präsentiert werden, und das
Netzwerk „Zukunftsorte“, das Wissen weiterge-
ben und andere Gründer unterstützen will.
Sein eigentliches Herzensanliegen aber ist der
Hof Prädikow. Hier will der gebürtige Branden-
burger, der derzeit noch mit seiner Freundin
und den zwei gemeinsamen Kindern im Berliner
Szenekiez Friedrichshain lebt, einen Traum ver-
wirklichen. „Meine Freundin und ich sind beide
auf dem Land aufgewachsen. Diese Freiheit und
Naturnähe wollen wir auch unseren Kindern bie-
ten. Es ist eine Lebensentscheidung.“
Von der gut 200-köpfigen Dorfgemeinschaft
würden die künftigen Hofbewohner unterstützt
und wohlwollend begleitet, sagt Hentschel.
Schließlich wollen die neu Zugezogenen dem
Ort auch etwas zurückgeben. Es soll einen Dorf-
laden und eine -kneipe geben, Schreibtische für
die Digitalarbeiter der Region und einen Saal für
Feste. „Als Einzelkämpfer kann man an einem
solchen Ort nicht viel erreichen. Aber als größe-
re Gruppe sind wir eine kritische Masse“, sagt
Hentschel. „Bei unserem ers-
ten Hoffest hat der alte Brenn-
meister die Menschen über
den Hof geführt und am
Schluss gesagt: ‚Dieser Hof
war mein Leben. Jetzt überge-
be ich ihn an euch und ich will,
dass er auch euer Leben wird.‘
Das war ein Gänsehautmo-
ment.“
Als reinen Landmensch
sieht sich Hentschel dennoch
nicht. „Ich lebe durchaus ger-
ne in der Stadt. Aber auf dem
Land gibt es inzwischen Ge-
staltungsräume, die in der
Stadt fehlen. Uns geht es um
ein Zusammendenken von

Stadt und Land.“ Die wichtigste Lebensader da-
bei ist allerdings das Vorhandensein von leis-
tungsfähigem Internet. Der Anschluss an die di-
gitale Autobahn sollte heute so selbstverständ-
lich sein wie der Anschluss an das Wasser- oder
Stromnetz, heißt es dazu in der Studie. Einen
klaren Vorteil hätten zudem die Gemeinden mit
einem Bahnanschluss in Richtung Hauptstadt.
Auch Raddusch, wo Daniel Walaschek, Ina
Fettig und Dagmar Schmidt ihre „Kaiserliche
Postagentur“ aufgezogen haben, hatte zum Zeit-
punkt des Kaufs noch einen Regionalbahnan-
schluss nach Berlin. Dass der Haltepunkt ein hal-
bes Jahr später geschlossen wurde, war ein
schwerer Schlag. Gleichzeitig aber hatten sie
durch die prompt gegründete Bürgerinitiative
gleich Anschluss im Dorf. Bürgerschaftlich orga-
nisieren die Dorfbewohner auch das Thema
Netzanschluss. Bis zu diesem Jahr gab es noch
keinen flächendeckenden Glasfaserkabelan-
schluss. Um dennoch schnelles Internet nutzen
zu können, gründeten die Radduscher das „Bür-
gernetzwerk Digitalisierung“ und nutzen den
Anschluss eines großen Hotels über ein Funk-
netzwerk. Die Sanierungsarbeiten am Haupt-
haus haben die drei Ex-Berliner inzwischen zu-
sammen mit einem Architekten aus Lübben ab-
geschlossen. Die Wände wurden energetisch ge-
dämmt und Solarpanels angebracht, alte Stilele-
mente sorgsam restauriert und mit modernen
Materialien kombiniert. Auch die 220 Quadrat-
meter große Wohnung im Obergeschoss, die sich
die Freunde zu dritt teilen, ist fertig.
Als nächsten Sanierungsschritt wollen sich
die Eigentümer den alten Tanzsaal vornehmen.
Daniel Walaschek überlegt: „Man muss lernen,
damit umzugehen, dass man überall Arbeit
sieht.“ Und dass er jetzt auch mal wieder ein
bisschen Stadtluft brauche. Im Gegenteil zu den
beiden Frauen, die noch regelmäßig in Berlin zu
tun haben, verbringt er seine Arbeitstage aus-
schließlich auf dem Dorf. Dennoch bereut er
nichts. Am Storch im Garten freue er sich jeden
Tag, sagt Walaschek. Und an dem neuen Kajak,
mit dem er gleich hinten auf dem Fließ hinter
dem Garten seine Touren starten kann. Ganz
analoge Freuden.

„Wie eine Art kleines Co-Dorf im Dorf“,
sagt Dagmar Schmidt über ihr Haus in
Raddusch in der Lausitz. Gemeinsam
mit Daniel Walaschek und dessen Frau
bauen sie die „Kaiserliche Postagentur“
in einen Projektraum für Freelancer,
Firmen und Initiativen um

MARLENE GAWRISCH / WELT(6)

VVVom glücklichen Arbeiten in der om glücklichen Arbeiten in der PROVINZ


Hohe Mieten und der Wunsch nach Natur treiben eine neue Klientel in die Dörfer. Junge Städter wollen das Landleben neu erfinden. Kann das funktionieren?


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Quelle: mapbox.de

BERLIN Strausberg

SACHSEN�
ANHALT

POLEN

BRANDENBURG

Raddusch

LuckenwaldeLuckenwalde

JüterbogJüterbog

Luckau

Frankfurt
(Oder)

6


13.08.19 Dienstag, 13. August 2019DWBE-HP



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6 POLITIK DIE WELT DIENSTAG,13.AUGUST


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