Die Welt - 13.08.2019

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Verleger AXEL SPRINGER (1985 †)

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IMPRESSUM


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13.08.19 Dienstag, 13. August 2019DWBE-HP



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8 FORUM DIE WELT DIENSTAG,13.AUGUST


W


as in Hongkong passiert, sollte
den Europäern bekannt vor-
kommen. In der chinesischen
Sonderverwaltungszone erhebt eine nuklear
gerüstete, illiberale Großmacht aggressiv
Ansprüche auf ein Territorium, das bisher
zur westlichen Welt zählen konnte. In Eu-
ropa geschieht dies seit fünf Jahren – seit
Russland sich die Krim einverleibte und die
Ostukraine destabilisierte.
In Ostasien droht die Führung in Peking
nun: „Hongkong steht am Scheideweg.“
Den Demonstranten wirft das Regime vor,
„Terroristen“ zu sein – ein Begriff, den auch
Moskau verwendete, wenn es über die
ukrainischen Demonstranten auf dem Mai-
dan in Kiew sprach. China ist wie Russland
eine Nation, die sich tief gedemütigt fühlt
vom Westen. Das zentrale geostrategische
Ziel beider Staaten ist es, einstige tatsäch-
liche oder eingebildete Größe wiederzuer-
langen. Das ist der psychologische Kern der
Systeme Wladimir Putin und Xi Jinping.

Was aber macht der Westen? Nach der
Krim-Annexion reagierte man mit Sanktio-
nen – Deutschland aber baut absurderweise
zusammen mit Russland eine hochlukrative
Erdgaspipeline. Bei China ist die deutsche
und europäische Haltung ähnlich opportu-
nistisch: Man mahnt lauwarm und schaut
sonst weg, zu groß sind die wirtschaftlichen
Verflechtungen mit der zweitgrößten Volks-
wirtschaft der Welt.
Donald Trumps Handelskrieg gegen Pe-
king sieht nur auf den ersten Blick wie eine
mutigere Antwort auf Chinas Weltmacht-
streben aus. Aber auch der US-Präsident
ermutigt die Mächtigen in Peking – so wie
er das längst mit denen in Moskau tut.
Denn parallel zum scharfen Kurs bei den
Zöllen zieht sich Trump aus Ostasien zu-
rück. Auch in Japan, Südkorea und Taiwan
wachsen die Zweifel am traditionellen ame-
rikanischen Schutzversprechen.
Europa und Ostasien sind jene Welt-
regionen, die von den USA nach dem Zwei-
ten Weltkrieg zu zwei Säulen der freien
Welt gemacht wurden. Russland und China
sind dabei, diese zwei Säulen langsam zu
zertrümmern. In dieser neuen Weltordnung
drohen die Demonstranten in Hongkong
auf verlorenem Posten zu stehen.
[email protected]

Hongkong ist die Krim Asiens


KOMMENTAR


KLAUS GEIGER

E


s ist nicht weit her mit der
Solidarität in Europa. Da
schimpfen viele Westeuropäer
auf die rechtsnationalen Polen
und Ungarn. Und schon wäh-
rend der Euro-Krise, als in Grie-
chenland Merkel-Bilder in Nazi-
uniform gezeigt und deutsche Fahnen öffentlich
verbrannt wurden, verschärfte sich der Ton
gegen das wirtschaftlich allmächtige und ver-
meintlich arrogante Deutschland. Durch Angela
Merkels Politik der offenen Grenzen ist die
antideutsche Stimmung vielerorts noch heftiger
geworden. Italiens Innenminister Matteo Salvini
schoss verbal gegen deutsche Gutmenschen, die
in seinen Augen Italiens Souveränität und Ge-
setze verachten.
So ließe sich die Liste innereuropäischer Kon-
flikte fortsetzen: Viele Katalanen verachten die
EU, weil diese beim Konflikt mit der spanischen
Zentralmacht nicht schlichten wollte. Selbst in
der Brüsseler Zentrale ärgern sich Funktionäre
und Politiker über „die Osteuropäer“, die zwar
viel Geld aus den Strukturfonds kassieren, aber
keine Solidarität beim Aufnehmen von Migran-
ten zeigen. Dass aber dieselben Länder ihre gut
ausgebildeten Ärzte und Ingenieure massenhaft
an besser bezahlende EU-Staaten im Norden
und Westen verlieren und dadurch in Bulgarien,
Rumänien und Kroatien vielerorts der Notstand
droht – von dieser Misere hört man bei den
EU-Gipfeln nichts.
Die Europäische Union wirkt – vom Brexitcha-
os der Briten mal ganz zu schweigen – in diesen
turbulenten Zeiten wie ein Klub der organisier-
ten Zwietracht. Wäre die EU ein Fußballklub,
dann hätte das Zerwürfnis zwischen Abwehr und
Angriff, Trainer und Präsident längst zum Ab-
stieg des Vereins geführt. Sarkastisch kann man
aber auch den Umkehrschluss antreten: Dass
trotz des grassierenden Misstrauens die EU
immer noch passabel funktioniert und man sich
mit Ach und Krach auf eine neue Kommissions-
präsidentin einigen konnte, ist fast schon ein
Wunder – und ein Indiz, dass die formidable
Grundidee transnationaler Zusammenarbeit
stärker ist als nationaler Egoismus.
Umgekehrt können wir alle uns ruhig einmal
fragen, ob wir persönlich gefeit sind gegen na-
tionale Pauschalurteile, wie sie die Nachrichten
und sogar Kommuniqués von Regierungen in-
zwischen prägen. Jüngst wurde ich von einer
Französin ironisch gefragt, wie ich es als Deut-
scher in Italien, dem „Land Salvinis“, überhaupt
aushalte. Mein dezenter Hinweis, dass in Frank-
reich bei den Präsidentenwahlen etwa doppelt
so viele Menschen für den Front National von
Marine Le Pen gestimmt haben wie bei den
Wahlen in Italien für Salvinis Lega Nord, wisch-
te die Dame mit Grandeur weg: Das sei doch
ganz etwas anderes.

Gerade solches Denken unterminiert die Eu-
ropäische Union. Wer für sich und die Seinen
andere Maßstäbe gelten lässt als für „die ande-
ren“, wer selber eine Extrawurst genießen und
die anderen niedermachen möchte, der ist tief
in nationalem Denken gefangen. Dabei sollte es
keine Überraschung sein, dass Italiener mehr
Furcht vor massenhafter Migration übers Mit-
telmeer haben als Iren, Dänen oder Letten. In
Italien landen die Menschen schließlich an.
Dasselbe gilt für die eingeforderte Solidarität
der Osteuropäer bei der Aufnahme von Migran-
ten. Wieso sollen Staaten wie Bulgarien, die
demografisch ihre gut Ausgebildeten verlieren,
stattdessen viele Menschen ohne Ausbildung
aufnehmen, die es am Ende ohnehin nach West-
europa zieht?
Noch ein Beispiel: „Die populistischen Polen“
gibt es nicht, denn längst nicht alle Bürger dort
haben die PiS-Partei gewählt. Wer die gegen-
wärtige Regierung eines Landes mit allen Be-
wohnern, mit der Nation an sich oder auch nur
mit allen Politikern gleichsetzt, handelt lupen-
rein nationalistisch: Hier wir (die Guten), dort
die anderen (die Bösen). So wird der inner-
europäische Diskurs zu einer Echokammer, bei
der die Streitenden keine Argumente austau-

schen, sondern die Position in anderen Ländern
und Kulturkreisen einzig zur Untermauerung
der eigenen Urteile nutzen. Und weil diese Ur-
teile schon vorher feststehen, laufen sie auf
bloße Vorurteile hinaus. Der nächste Schritt ist
dann die Abschottung, die uns in einem kom-
plexen Europa keinen Schritt weiterhilft.
Dennoch gibt es immer mehr Zeitgenossen,
die sich besonders engagiert fühlen, wenn sie
ihren Vorurteilen vermeintlich engagierte Taten
folgen lassen. Kann man überhaupt noch in Un-
garn Urlaub machen? Wie kann ich nach Öster-
reich in die Ferien fahren, wenn dort die FPÖ an
der Regierung beteiligt ist? Darf man noch pol-
nische Waren kaufen? Solche törichten Indivi-
dualkampagnen verabsolutieren politische Mei-
nungsverschiedenheiten und zerstören das biss-
chen transnationales Verständnis, auf dem die
Gemeinsamkeiten innerhalb Europas beruhen.
Und sonderbarerweise hört man solche Pauschal-
urteile selten zu Ländern, in denen die grund-
legenden Menschenrechte kaum gesichert sind.
Wenn wir Europäer aus dem Blick verlieren,
dass uns alle mit einer illiberalen, durchaus
kritikablen Demokratie nach dem Verständnis
von Viktor Orbán oder Matteo Salvini immer
noch unendlich viel mehr verbindet als mit dem
Gesellschaftssystem im Iran, in Marokko oder in
China, dann haben wir unsere eigenen Maßstäbe
komplett verloren. Dann übernehmen wir die
absurden Moralurteile der Vereinten Nationen,
wenn diese in Menschenrechtsausschüssen
Israel für verminderte Frauenrechte oder Öster-
reich für unangemessene Flüchtlingsbetreuung
kritisieren. Schaut man ins Kleingedruckte,
dann sind es oft genug schlimme Unrechts-
regime wie der Sudan, Saudi-Arabien oder Pakis-
tan, die sich ein vernichtendes Urteil über auf-
klärerische Rechtsstaaten herausnehmen.
Wir Europäer sollten – um es mit einem hüb-
schen Bibelwort zu sagen – aufhören, immer nur
die Splitter im eigenen Auge zu sehen und dabei
kulturrelativistisch die Balken woanders zu
übersehen. Oft hilft ein Blick auf die Geschichte,
um nicht immer die eigene nationale Befindlich-
keit zur Weltbeglückung hochzustilisieren. Im
Fall Polens beispielsweise müssen wir an die
blutigen Überfälle und Besetzungen des Landes
durch Nazis und Sowjets denken, um das größe-
re polnische Misstrauen gegen eine Kommando-
zentrale im Ausland zu verstehen. So ist es mit
allen Nationen der EU und ihren divergierenden
Geschichten. Jedes Land tickt anders, reagiert
anders. Das macht ja gerade die Faszination der
EU aus, die täglich neu verhandelt werden muss.
Wenn wir jedoch aus den Konflikten einen gro-
ben Holzschnitt aus Schwarz und Weiß, West
und Ost, rechts und links, Gut und Böse fa-
brizieren, hat die europäische Vielfalt in einer
Welt immer größerer Einfalt schon verloren.
[email protected]

In der EU herrscht


organisierte Zwietracht


Wir kritisieren Polen


oder Ungarn, dem


Süden geht Deutschland


auf die Nerven. Hüten


wir uns in Europa


vor bequemen


Pauschalisierungen.


Jedes Land tickt


anders. Das müssen


wir aushalten


LEITARTIKEL


ǑǑ


DIRK SCHÜMER

Die formidable Grundidee


der Zusammenarbeit ist stärker


als nationaler Egoismus


Ihre Post an: DIE WELT, Brieffach 2410,
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Leserbriefe geben die Meinung unserer
Leser wieder, nicht die der Redaktion.
Wir freuen uns über jede Zuschrift,
müssen uns aber das Recht der Kürzung
vorbehalten. Aufgrund der sehr großen
Zahl von Leserbriefen, die bei uns einge-
hen, sind wir leider nicht in der Lage, jede
einzelne Zuschrift zu beantworten.

LESERBRIEFE


Religion und Gewalt


Zu: „Sagen, was ist“
vom 9. August

Deutlich, aber an keiner Stelle
verletzend, hat Kristina Schröder in
ihrem Essay die kulturellen Unter-
schiede zwischen Christentum und
Islam im Alltäglichen und bei der
Gewaltbereitschaft herausgear-
beitet. Die beiden großen Welt-
religionen sind in der Tat „in zen-
tralen Glaubenssätzen“ nicht
gleich, sondern liegen weit aus-
einander. Solange diese Unterschie-
de bei interreligiösen Dialogver-
anstaltungen nicht klar angespro-
chen und ausdiskutiert, sondern
mehr oder weniger übertüncht
werden, wird es auch kein echtes
gegenseitiges Verständnis zwischen
den Dialogpartnern geben. Nicht
zuletzt deshalb plädiert die Autorin
dafür, immer auch den kulturellen
Teil von Religion bei der Gewalt-
diskussion zu berücksichtigen.
Besonders bemerkenswert ist

schließlich auch ihr Hinweis darauf,
dass die eine Religion (das auf-
geklärte Christentum) vor allem
„in demokratischen und rechts-
staatlichen Systemen verbreitet“
ist, während die andere (der Islam,
der noch keine Aufklärung erfahren
hat) „fast ausschließlich in Despo-
tien“ das religiöse und gesellschaft-
liche Leben prägt.
MANFRED H. OBLÄNDER, KÖNIGSWINTER

Alles für den Osten


Zu: „Droht Ihrer Region
die Abwärtsspirale?“
vom 10. August

Die Stellungnahme des IW über-
rascht nicht wegen der zutreffen-
den Aussage, überraschend ist, dass
es einer solchen Studie überhaupt
bedarf. Im Ruhrgebiet jedenfalls
kommt man zur gleichen Aussage,
wenn man die Entwicklung mit
offenen Augen wahrnimmt. Was
Professor Hüter fordert, ist ein Akt

der Gerechtigkeit. Denn trotz der
Tatsache, dass das Ruhrgebiet
schon lange nicht mehr der Motor
der BRD ist wie früher, floss ab
1990 das Geld ausschließlich Rich-
tung Osten. Das wird sich ange-

sichts der anstehenden Landtags-
wahlen in der ehemaligen DDR und
dem ausgeprägten Macht-
erhaltungswillen von Frau Merkel
auch nicht ändern. Ich lebe seit 50
Jahren in Dortmund und habe das
Auf und Ab nach dem Niedergang
der Montanindustrie erlebt. Von
650.000 Einwohnern im Jahre 1967
ging es auf jetzt 600.000. Rund
150.000 direkte und sekundäre
Arbeitsplätze gingen verloren, rund
85.000 hoch qualifizierte Arbeits-
plätze wurden aufgrund einer be-
wundernswerten Dynamik dieser
offenen Gesellschaft neu geschaf-
fen, die Arbeitslosigkeit wurde von
ehemals 14 Prozent auf 9,5 redu-
ziert. Wenn bei dem Geschehen in
Chemnitz entschuldigend darauf
hingewiesen wurde, was die Bürger
nach der Wende alles verloren
hätten und die Arbeitslosigkeit
noch immer bei 6,9 Prozent liege,
dann wird das fehlende Maß deut-
lich und ruft hier nur ein müdes
Lächeln hervor.
RÜDIGER BÖNIG, DORTMUND

D


ie Nachricht ist nicht ganz neu,
aber irgendwie an mir vorbeige-
rauscht. Was auch damit zusam-
menhängen kann, dass wir von Nachrichten
überrollt werden und kaum dazu kommen,
darüber nachzudenken, was um uns herum
passiert, wie wir abstumpfen und verrohen.
Eine Gruppenvergewaltigung in Freiburg,
ein „Vorfall“ am Gleis 7 des Frankfurter
Hauptbahnhofs, ein Gemetzel in der Stutt-
garter Innenstadt. Gemessen daran ist die
Nachricht, vor dem Westportal des Reichs-
tagsgebäudes in Berlin solle eine „neue
Sicherheitszone“ entstehen, ein zweiein-
halb Meter tiefer und zehn Meter breiter
Graben, eine Nebensächlichkeit. So hat es
eine Kommission des Ältestenrates des
Bundestages beschlossen, zugleich mit dem
Bau eines Informations- und Besucherzen-
trums am Rande des Tiergartens. Das ganze
Projekt soll 150 Millionen Euro kosten und
spätestens Mitte 2023 fertiggestellt sein.
Genug Zeit also, uns an den Gedanken zu
gewöhnen, dass im Zeitalter digitaler
Kriegsführung und ferngesteuerter Droh-
nen der Bundestag wie eine mittelalterliche
Festung geschützt werden muss, vor mut-
maßlichen Terroristen, die auf Pferden
angeritten kommen.

Wenn es etwas gibt, das die technologi-
sche Rückständigkeit der Bundesrepublik
symbolisiert, dann ist es dieser „kleine
Westwall“ vor dem Reichstagsgebäude,
ebenso wie der Vorschlag, zur Gewähr-
leistung der Sicherheit an Bahnhöfen wieder
Bahnsteigkarten einzuführen. Wer jünger
als 40 ist, kann sich nicht einmal daran
erinnern, dass es jemals welche gegeben hat.
Dieses Relikt aus der Zeit, da Lokomoti-
ven mit Kohle gefüttert wurden, weckt
keine nostalgischen Gefühle. Es steht für
den Abbau der Zivilität in unserer Gesell-
schaft. Und wer jetzt „Zuwanderung!“ ruft,
der möge bitte einen Moment die Luft an-
halten. Die innere „Entgrenzung“ begann,
lange bevor die Landesgrenzen im Zuge der
„Willkommenskultur“ aufgemacht wurden.
Sie begann mit Hooligans, die Züge demo-
lierten, mit dem Abfackeln von Autos, wo-
rauf die Polizei den Autohaltern den Rat
gab, ihre Fahrzeuge nicht unter Laternen zu
parken, mit der Verharmlosung von Delik-
ten wie öffentliches Urinieren und Laden-
diebstahl. Die polizeiliche Deeskalations-
strategie im Umgang mit politisch moti-
vierten Gewalttätern hatte die gleiche Wir-
kung wie der Einsatz von Grillanzündern
beim Entwerten von Automobilen.
Inzwischen hat sich einiges getan, und
wir haben uns an vieles gewöhnt. An Weih-
nachtsmärkte hinter Betonbarrieren, an das
Tränengasspray in der Handtasche, an den
präventiven Blick über die Schulter in der
U-Bahn. Und demnächst auch an den Burg-
graben vor dem Reichstag.

WWWestwall vor dem Reichstagestwall vor dem Reichstag


PLATZ DER REPUBLIK


HENRYK M. BRODER

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