Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,13.AUGUST2019 FORUM 15


E


s ist nicht weit her mit der
Solidarität in Europa. Da
schimpfen viele Westeuro-
päer auf die rechtsnationa-
len Polen und Ungarn. Und
schon während der Euro-Krise, als in
Griechenland Merkel-Bilder in Nazi-
uniform gezeigt und deutsche Fahnen
öffentlich verbrannt wurden, verschärf-
te sich der Ton gegen das wirtschaftlich
allmächtige und vermeintlich arrogante
Deutschland. Durch Angela Merkels
Politik der offenen Grenzen ist die
antideutsche Stimmung vielerorts noch
heftiger geworden. Italiens Innenminis-
ter Matteo Salvini schoss verbal gegen
deutsche Gutmenschen, die in seinen
Augen Italiens Souveränität und Geset-
ze verachten.
So ließe sich die Liste innereuropäi-
scher Konflikte fortsetzen: Viele Katala-
nen verachten die EU, weil diese beim
Konflikt mit der spanischen Zentral-
macht nicht schlichten wollte. Selbst in
der Brüsseler Zentrale ärgern sich Funk-
tionäre und Politiker über „die Ost-
europäer“, die zwar viel Geld aus den
Strukturfonds kassieren, aber keine
Solidarität beim Aufnehmen von Mig-
ranten zeigen. Dass aber dieselben Län-
der ihre gut ausgebildeten Ärzte und
Ingenieure massenhaft an besser bezah-
lende EU-Staaten im Norden und Wes-
ten verlieren und dadurch in Bulgarien,
RRRumänien und Kroatien vielerorts derumänien und Kroatien vielerorts der
Notstand droht – von dieser Misere hört
man bei den EU-Gipfeln nichts.
Die Europäische Union wirkt – vom
Brexitchaos der Briten mal ganz zu
schweigen – in diesen turbulenten Zei-
ten wie ein Klub der organisierten Zwie-
tracht. Wäre die EU ein Fußballklub,
dann hätte das Zerwürfnis zwischen
AAAbwehr und Angriff, Trainer und Prä-bwehr und Angriff, Trainer und Prä-
sident längst zum Abstieg des Vereins
geführt. Sarkastisch kann man aber auch
den Umkehrschluss antreten: Dass trotz
des grassierenden Misstrauens die EU
immer noch passabel funktioniert und
man sich mit Ach und Krach auf eine
neue Kommissionspräsidentin einigen
konnte, ist fast schon ein Wunder – und
ein Indiz, dass die formidable Grundidee
transnationaler Zusammenarbeit stärker
ist als nationaler Egoismus.
Umgekehrt können wir alle uns ruhig
einmal fragen, ob wir persönlich gefeit
sind gegen nationale Pauschalurteile,
wie sie die Nachrichten und sogar Kom-
muniqués von Regierungen inzwischen
prägen. Jüngst wurde ich von einer
Französin ironisch gefragt, wie ich es als
Deutscher in Italien, dem „Land Salvi-
nis“, überhaupt aushalte. Mein dezenter
Hinweis, dass in Frankreich bei den
Präsidentenwahlen etwa doppelt so viele


Menschen für den Front National von
Marine Le Pen gestimmt haben wie bei
den Wahlen in Italien für Salvinis Lega
Nord, wischte die Dame mit Grandeur
weg: Das sei doch ganz etwas anderes.
Gerade solches Denken unterminiert
die Europäische Union. Wer für sich
und die Seinen andere Maßstäbe gelten
lässt als für „die anderen“, wer selber
eine Extrawurst genießen und die ande-
ren niedermachen möchte, der ist tief
in nationalem Denken gefangen. Dabei
sollte es keine Überraschung sein, dass
Italiener mehr Furcht vor massenhafter
Migration übers Mittelmeer haben als
Iren, Dänen oder Letten. In Italien
landen die Menschen schließlich an.
Dasselbe gilt für die eingeforderte Soli-
darität der Osteuropäer bei der Auf-
nahme von Migranten. Wieso sollen
Staaten wie Bulgarien, die demografisch
ihre gut Ausgebildeten verlieren, statt-
dessen viele Menschen ohne Ausbil-
dung aufnehmen, die es am Ende ohne-
hin nach Westeuropa zieht?
Noch ein Beispiel: „Die populistischen
Polen“ gibt es nicht, denn längst nicht
alle Bürger dort haben die PiS-Partei
gewählt. Wer die gegenwärtige Regierung
eines Landes mit allen Bewohnern, mit
der Nation an sich oder auch nur mit
allen Politikern gleichsetzt, handelt lu-
penrein nationalistisch: Hier wir (die
Guten), dort die anderen (die Bösen). So
wird der innereuropäische Diskurs zu
einer Echokammer, bei der die Streiten-
den keine Argumente austauschen, son-
dern die Position in anderen Ländern
und Kulturkreisen einzig zur Untermaue-
rung der eigenen Urteile nutzen. Und
weil diese Urteile schon vorher fest-
stehen, laufen sie auf bloße Vorurteile
hinaus. Der nächste Schritt ist dann die
AAAbschottung, die uns in einem kom-bschottung, die uns in einem kom-
plexen Europa keinen Schritt weiterhilft.
Dennoch gibt es immer mehr Zeitge-
nossen, die sich besonders engagiert

In der EU herrscht


organisierte Zwietracht


Wir kritisieren Polen oder Ungarn, dem Süden


geht Deutschland auf die Nerven. Hüten wir uns in


Europa vor bequemen Pauschalisierungen. Jedes


Land tickt anders. Das müssen wir aushalten


DIRK SCHÜMER

LEITARTIKEL


fffühlen, wenn sie ihren Vorurteilen ver-ühlen, wenn sie ihren Vorurteilen ver-
meintlich engagierte Taten folgen las-
sen. Kann man überhaupt noch in Un-
garn Urlaub machen? Wie kann ich nach
Österreich in die Ferien fahren, wenn
dort die FPÖ an der Regierung beteiligt
ist? Darf man noch polnische Waren
kaufen? Solche törichten Individual-
kampagnen verabsolutieren politische
Meinungsverschiedenheiten und zer-
stören das bisschen transnationales
VVVerständnis, auf dem die Gemeinsam-erständnis, auf dem die Gemeinsam-
keiten innerhalb Europas beruhen. Und
sonderbarerweise hört man solche Pau-
schalurteile selten zu Ländern, in denen
die grundlegenden Menschenrechte
kaum gesichert sind.

WWWenn wir Europäer aus dem Blickenn wir Europäer aus dem Blick
verlieren, dass uns alle mit einer illibera-
len, durchaus kritikablen Demokratie
nach dem Verständnis von Viktor Orbán
oder Matteo Salvini immer noch unend-
lich viel mehr verbindet als mit dem
Gesellschaftssystem im Iran, in Marokko
oder in China, dann haben wir unsere
eigenen Maßstäbe komplett verloren.
Dann übernehmen wir die absurden
Moralurteile der Vereinten Nationen,
wenn diese in Menschenrechtsausschüs-
sen Israel für verminderte Frauenrechte
oder Österreich für unangemessene
Flüchtlingsbetreuung kritisieren. Schaut
man ins Kleingedruckte, dann sind es oft
genug schlimme Unrechtsregime wie der
Sudan, Saudi-Arabien oder Pakistan, die
sich ein vernichtendes Urteil über auf-
klärerische Rechtsstaaten herausnehmen.
Wir Europäer sollten – um es mit
einem hübschen Bibelwort zu sagen –
aufhören, immer nur die Splitter im
eigenen Auge zu sehen und dabei kultur-
relativistisch die Balken woanders zu
übersehen. Oft hilft ein Blick auf die
Geschichte, um nicht immer die eigene
nationale Befindlichkeit zur Weltbeglü-
ckung hochzustilisieren. Im Fall Polens
beispielsweise müssen wir an die bluti-
gen Überfälle und Besetzungen des
Landes durch Nazis und Sowjets den-
ken, um das größere polnische Miss-
trauen gegen eine Kommandozentrale
im Ausland zu verstehen. So ist es mit
allen Nationen der EU und ihren diver-
gierenden Geschichten. Jedes Land tickt
anders, reagiert anders. Das macht ja
gerade die Faszination der EU aus, die
täglich neu verhandelt werden muss.
WWWenn wir jedoch aus den Konfliktenenn wir jedoch aus den Konflikten
einen groben Holzschnitt aus Schwarz
und Weiß, West und Ost, rechts und
links, Gut und Böse fabrizieren, hat die
europäische Vielfalt in einer Welt immer
größerer Einfalt schon verloren.
[email protected]

ǑǑ


Die formidable Grundidee


der Zusammenarbeit ist stärker


als nationaler Egoismus


KOMMENTAR


ULF POSCHARDT

Die obersten


zehn Prozent


D


ie Spitzensteuersatzzahler
sind Verachtung gewohnt.
Wann immer sich irgendwo
eine soziale Ungerechtigkeit auftut,
die mit Steuergeldern korrigiert
werden sollte, zeigen die Finger nach
oben. Zu jenem Teil der deutschen
Steuergesellschaft, der seit Jahren
und Jahrzehnten dieses Land trägt
und maßgeblich finanziert. Dafür
gibt es weder Dankbarkeit noch
Anerkennung, sondern im gleich-
heitsseligen Deutschland eher Neid
und Gehässigkeit.
Jetzt wird über die Abschaffung
des Solidaritätszuschlags gespro-
chen, der dringend zu erfolgen hat,
und die populäre Logik des Entwurfs
von Vizekanzler Olaf Scholz ist es,
das Land zu spalten: in die 90-Pro-
zent-Mehrheit, die davon profitieren
soll, und jene zehn Prozent, deren
strukturelle und groteske Benach-
teiligung über eine viel zu hohe Ab-
gabenlast perpetuiert werden soll. So
was kommt natürlich gut an, be-
sonders bei jenen, die entlastet wer-
den. Es verdeutlicht aber auch, dass
man die Zumutungstoleranz der
Spitzenverdiener wohl realistisch
einschätzt: Die haben den Glauben
an Leistungsgerechtigkeit weithin
aufgegeben. Sie haben ein ironisch
bis sarkastisches Verhältnis zu Steu-
ergeschenken und Verschwendungen
entwickelt. Die Spitzenverdiener
haben keine Lobby: nur sich selbst.
Die Verbitterten schielen zur AfD,
weil es ihnen einfach reicht – und
nicht nur bei den Steuern.
Der Staat nimmt gerade circa 800
Milliarden Euro ein. Der Sozialetat
scheint einer eitel opportunistischen
AAAllmachtsfantasie entsprungen. Es istllmachtsfantasie entsprungen. Es ist
richtig, wenn die FDP jetzt nach einer
Senkung des Solis für alle ruft und
den Gang nach Karlsruhe ankündigt.
Drastischer als der Sarkasmus der
Topverdiener, die ihre erschwitzten
Milliarden in den Bundeshaushalt
stiften, ist die Neigung, sich irgend-
wann aus diesem Land zu verziehen.
Es gibt auch in Europa schöne Alter-
nativen. Die Schweiz ist die nächst-
liegende, aber vielleicht wird ein wirt-
schaftsliberales Großbritannien ein
nächster Fluchtpunkt. Im Wahlkampf
gewinnt man mit Verständnis für die
Topverdiener keinen Blumentopf,
auch weil in den Medien der Wohl-
habende als Schreckgespenst insze-
niert wird. Auch kluge Mainstreamme-
dien kommen dann schnell mit den
Klischees Villa, Porsche, Rolex, pfui.
Steuersenkungen für alle sind
immer richtig. Der Staat hat nicht zu
wenig, sondern zu viel Geld. Eine
künftige Steuerreform kann gerne
auch im Sinne eines ökologischen
Umbaus konzipiert werden. Solch
eine Reform würde Bürgerliche be-
lohnen, die heute oft schon umwelt-
freundlicher leben als viele grüne
Scheinheilige aus dem Easy-Jetset.
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