Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1

D


as Leben ist ein unzu-
verlässiger Erzähler.
Es konstruiert eine
schöne Lebensge-
schichte, mit glücklichen Wen-
dungen und stimmigen Leitmo-
tiven, um doch vollkommen un-
erwartet mit einem sinnlosen
Ende aufzuwarten. Oder es
täuscht nach finsteren Episoden
ein Happy End an, um dann doch
im Sumpf von Verzweiflung, un-
erfülltem Begehren und Ersatz-
befriedigungen stecken zu blei-
ben. Oder, die heimtückischste
Plotvariante, es lässt äußerlich
alles glänzend, erfolgreich und
sinnerfüllt erscheinen und ver-
birgt damit eine innere Leere,
die sich in ihrem ganzen him-
melschreienden Ausmaß erst im
Schlusskapitel offenbart.


VON RICHARD KÄMMERLINGS

Franz, die Hauptfigur in Nor-
bert Gstreins neuem Roman, ist
ein Fachmann in Sachen unzu-
verlässige Erzählung: Als Ju-
gendlicher war er jahrelang im
Restaurant seiner Familie in den
Tiroler Alpen für die Hochzeits-
fotografien zuständig. Jeden
Sommer, jedes Wochenende das
gleiche Ritual, die gleichen Po-
sen und Blicke, von der Ankunft
der Braut bis zu den letzten Zu-
ckungen auf dem Tanzboden,
mit der Hand des Bräutigams im
Haar der Braut oder dem ge-


meinsamen Blick in die Ferne.
Jede Bilderserie einer Hochzeit
muss sich zu einer Narration fü-
gen, die Höhepunkt des bisheri-
gen Lebens und der Anfang eines
noch strahlenderen neuen ist.
Doch während Franz längst
zum Meister der Stilisierung und
Inszenierung geworden ist, lässt
er sich von keiner Hochzeits-
kleidfassade mehr blenden. „Na-
türlich war es eine Anmaßung,
aber als ich zum ersten Mal von
einer Braut dachte, sie müsste ei-
gentlich davonlaufen, wenn sie
nur einen Augenblick überlegen
würde, war ein Damm gebro-
chen.“ Vor allem das vorherseh-
bare Schicksal der Ehefrauen
lässt Franz zum Zyniker werden,
in einer seltsamen Kombination
aus Feminismus und Misogynie:
„Mit einem Mann an ihrer Seite,
und es brauchte gar kein schlim-
mer Zeitgenosse zu sein, sahen
die Frauen gleich viel sterblicher
aus, und dabei hätten sie alle
noch ein paar Jahre haben kön-
nen, in denen sie nicht so offen-
sichtlich in den Lauf der Zeit ver-
strickt gewesen wären.“
Zum immer gleichen Ablauf
dieser Fotosessions gehört ein
Ausflug zu einer nahen Lichtung
am steil abfallenden Schlossberg,
was die Paare nicht selten beim
schaudernden Blick in den Ab-
grund zu halb ernsten Sprüchen
wie „Du könntest mich immer
noch loswerden“ animiert. Mit

dem Fotografieren ist es bei
Franz mit Anfang Zwanzig end-
gültig vorbei, als eine Frischver-
mählte tatsächlich am Morgen
nach der Hochzeitsnacht mit ge-
brochenem Genick am Fuß des
Abhangs gefunden wird – ein
Schock, der dem Restaurantge-
schäft ein Ende macht und den
schwer traumatisierten Hobby-
fotografen Franz nach Amerika,
ins Wintersportgebiet der Rocky
Mountains in Wyoming ver-
schlägt, wo er sich jahrelang als
Skilehrer über Wasser hält. Was
in jener Nacht wirklich geschah
und welche Rolle er selbst dabei
spielte, das beschäftigt ihn aber
auch noch auf den Pisten im fer-
nen Westen.
In der deutschsprachigen Li-
teratur hat der 1961 geborene
Norbert Gstrein den unzuverläs-
sigen Erzähler zur Perfektion ge-
trieben und zugleich zu seinem
Markenzeichen gemacht, ver-
gleichbar etwa mit dem Iren
John Banville, bei dem die noto-
rischen Lügner, Verdreher und
Hochstapler eine ähnliche litera-
rische Funktion haben. Bei Ban-
ville ist es die anthropologische
Gewissheit, dass alle Menschen
Masken tragen und Rollen spie-
len, hinter denen sie ihre Begier-
den und Obsessionen verbergen.
Bei Gstrein ist eher die narrato-
logische Einsicht, dass sich die
Wahrheit stets hinter den Erzäh-
lungen versteckt und nie in Rein-

form zu haben ist. Und dass zu-
gleich jede Geschichte eine an-
dere, unerzählte tarnt.
Der klassische Gstrein-Roman
hat eine dem Krimi vergleichba-
re Konstruktion, die die Litera-
turtheorie „analytisch“ nennt:
Am Anfang steht ein unerklärli-
ches Geschehen, ein Mord oder
Selbstmord oder ein spurloses
Verschwinden, und die rückbli-
ckende Aufdeckung von Kausal-
ketten und Motiven bestimmt
die Erzählstruktur. Das war
schon in einem frühen Meister-
werk wie „Das Register“ (1992)
so; aber auch sich ins Zeithistori-
sche weitende Bücher wie „Die
englischen Jahre“ (1999) oder
„Das Handwerk des Tötens“
(2003) rekonstruierten Biogra-
fien und Ereignisse in detektivi-
scher Art und Weise.
„Als ich jung war“ zeigt dieses
Verfahren idealtypisch auf meh-
reren Ebenen. Nicht nur der tra-
gische Tod am Hochzeitstag ist
ein Rätsel, sondern auch der Er-
zähler hat einiges zu verbergen.
Ist er etwa nicht nur ein wichti-
ger Zeuge für den wegen Mordes
ermittelnden Kommissar, son-
dern auch zumindest auf indirek-
te Weise mitschuldig? Die erste
Version der Ereignisse jener
Nacht wird nicht so stehenblei-
ben, auch wenn man einer wirk-
lichen Aufklärung nicht unbe-
dingt näherkommt. Jede neue
Spur, jedes neue Detail verkom-

pliziert vielmehr das Geflecht
aus Gier und Neid und Geilheit
während jener komplett aus dem
Ruder gelaufenen Hochzeitsfei-
er. Für Stunden wurde die Braut
in jener Nacht von abgeblitzten
Verehrern entführt, ein in Tirol
offenbar nicht unüblicher Spaß,
aus dem tödlicher Ernst wurde.
Die emotionale Verstricktheit
des Erzählers rührt von einer
ganz anderen Quelle her. Ein
paar Wochen vorher hatte sich
Franz in Sarah, die minderjähri-
ge Cousine einer anderen Braut,
verliebt. Zum Kuss kam es im
Wald genau an jener Stelle, von
der aus die Frau später in den
Tod sprang. Das eigentlich Mys-
teriöse an der Sache ist aber, wa-
rum dieses so harmlose Techtel-
mechtel Franz fast noch mehr
beschäftigt als der Todesfall we-
nige Wochen später.
„Als ich jung war, glaubte ich
an fast alles, und später an fast
gar nichts mehr, und irgendwann
in dieser Zeit dürfte mir der
Glaube, dürfte mir das Glauben
abhandengekommen sein“ –
Franz ist ein tief verstörter und
beziehungsgestörter Mensch. In
der amerikanischen Provinz ver-
steckt er sich nicht nur vor dem
Gerede am Ort oder der eigenen
Familie, sondern vor dem Leben
selbst. Er ist gehemmt und unsi-
cher, zutiefst einsam. Und ausge-
rechnet der ihm in den amerika-
nischen Jahren am nächsten ste-

24 BÜCHER DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 13. AUGUST 2019


Was as


Männeränneränner


so für o für


Storystorystorys


erzählenrzählen


Zwei Hochzeiten und ein Todesfall: Norbert Gstrein rechnet in seinem neuen Roman mit dem Patriarchat ab

Free download pdf