Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1

hende Mensch, ein älterer Pro-
fessor und Skischüler, nimmt
sich seinerseits auf ziemlich
grausige Weise das Leben, wo-
nach sich herausstellt, dass Franz
ihn gar nicht wirklich gekannt
hat. Jener kauzige Professor war
ein Getriebener, um den sich Ge-
rüchte über pädophile Neigun-
gen und sexuelle Gewalt rankten.
Gstrein verbindet auf hand-
werklich routinierte Weise diese
beiden Tode, die Schauplätze Ti-
rol und Wyoming, aber auch die
Konstellationen sexuellen Miss-
brauchs. Als Franz schließlich
als komplett gescheiterte Exis-
tenz nach Tirol zurückkehrt
(und vom Bruder ausgehalten
wird), erfährt er vom immer
noch im Mordfall ermittelnden
Kommissar, dass die von ihm ge-
gen ihren erklärten Willen ge-
küsste Sarah erst dreizehn und,
strenggläubig, nachhaltig trau-
matisiert worden war. Was an-
fffangs wie eine fast romantische,angs wie eine fast romantische,
unerfüllte Liebesgeschichte er-
schien, entpuppt sich als plumpe
VVVerführung mit dramatischen,erführung mit dramatischen,
lebenslangen Folgen.
„Als ich jung war“ ist eine sehr
ernsthafte Reflexion über Ge-
schlechterverhältnisse, ein Werk
des #MeToo-Zeitalters aus kriti-
scher Männerperspektive. Der
ganze Roman ist durchzogen von
großen und kleinen Episoden pa-
triarchaler Gewalt. Da ist das
kleine Mädchen auf dem Truck-


Parkplatz, das ein Gespräch an-
fängt und barsch von einem Au-
tomechaniker zurechtgewiesen
wird – „Verzeihen Sie, nutzen sie
jede Gelegenheit, mit Fremden
ins Gespräch zu kommen“ –, da
sind die Machos an der Theke,
die den Frauen ungefragt die
Zunge in den Hals stecken, da ist
die Verachtung von Franz’ Hote-
liervater gegenüber der Mutter,
die er in den Alkoholismus trieb.
Auch die offene Homophobie der
Provinz gehört dazu und das
„elende Matchmaking“ in Hei-
ratsfragen, „als wäre die Welt bei
Jane Austen steckengeblieben“.
Gstrein geht mit dem eigenen
Geschlecht streng ins Gericht.
Der Prozess, der sein Roman
dem Patriarchat macht, muss gar
nicht den oder die konkreten
Schuldigen am Tod der Braut
überführen, die wohl tatsächlich
schwer depressiv war. „Wenn
sich eine junge Frau in den Tod
stürzt, brauchen diejenigen, die
sie gestoßen haben, nicht an Ort
und Stelle zu sein ... Jeder trägt
seinen Teil bei, sie ein Stück wei-
ter an den Abgrund zu bringen.“
Das sagt eine als Racheengel auf-
tretende Nonne, die auf eigene
Faust recherchiert. Franz be-
zieht diese Kollektivschuldthese
auch auf seine eigene Missach-
tung der – damals noch nicht so
ffformulierten – „Nein heißtormulierten – „Nein heißt
Nein“-Regel bei Sarah. Die Non-
ne „wusste, sie konnte mit eini-

ger Wahrscheinlichkeit davon
ausgehen, dass ich als durch-
schnittlicher Vertreter meines
Geschlechts irgendeine solche
Geschichte in der Vergangenheit
hatte“.
Wendet man das ehrwürdige
Konzept des unreliable narrator
gendertheoretisch, so bleibt ein
tiefes Misstrauen allen Ge-
schichten von Männern gegen-
über. Auch davon handelt der
Roman, der seinen Erzähler in
Richtung einer schmerzvollen
Selbsterkenntnis treibt. Als er ei-
ne Frau kennenlernt, die nichts
von ihrer Vergangenheit verra-
ten will, sagt die ihm: „Wenn ich
dir meine Geschichte erzählen
würde, würdest du sie nicht mö-
gen, und ich wäre nur mehr diese
Geschichte für dich.“ Was aber
bleibt dann noch übrig? Wie ei-
nem Menschen begegnen, ohne
von sich zu erzählen, wenn das
zu forsche, ungestüme Handeln
in jenen Zonen der Ambivalenz,
die Gstrein so virtuos erkundet,
erst recht fatale Folgen haben
kann?
Die einzige Hoffnung ist eine
existenzialistische Utopie: ein
radikaler Neuanfang, der alle
Vergangenheit hinter sich lässt,
die Sprengung des unheilvollen
historischen Kontinuums.

TNorbert Gstrein:
Als ich jung war.
Hanser, 352 S., 22 €.

Zuverlässig unzuver-
lässiger Erzähler:
Norbert Gstrein,
geboren 1961

OLIVER WOLF

DI E W E LI E W E LI E W E LT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 13. AUGUST 2019 BÜCHER 25


W


ie wichtig Toni Mor-
rison für Amerika
war, lässt sich aus
deutscher Perspektive nur
schwer nachvollziehen. Die ers-
te afroamerikanische Autorin,
die den Literaturnobelpreis be-
kam? Ja, das war sie auch, aber
eben noch viel mehr.

VON MARA DELIUS

In den Nachrufen, Kommen-
taren und Twitter-Würdigungen,
die in den letzten Tagen auf die
am Montag Verstorbene in Ame-
rika tausendfach erschienen,
wurde interessanterweise eben
nicht einfach betont, dass es sich
bei der Schriftstellerin um eine
Größe der afroamerikanischen
Literatur handelte, wie es hier-
zulande hieß, was zweifelsohne
richtig ist, aber eine Künstlerin
eben auf die relative Enge ihrer
eigenen Erfahrung festzulegen
scheint. Wie sehr Amerika ein-
mal schon jenseits dieser Fest-
schreibungen war, zeigt ein Bild
aus dem Jahr 2012, das parado-
xerweise sowohl an die jahrhun-
dertelange Unterdrückung von
Schwarzen erinnert und die
Überwindung eben dieser Unter-
drückung: Der schwarze Präsi-
dent Obama verleiht der schwar-
zen Literaturnobelpreisträgerin
Morrison, lachend, begeistert,
gelöst, im Weißen Haus die Pre-
sidential Medal of Freedom. „Ih-
re Texte waren eine wunder-
schöne und bedeutende Heraus-
forderung an unser Gewissen
und unsere moralische Vorstel-
lungskraft“, twitterte Obama
nun zum Tod von Morrison und
„Herausforderung an das Gewis-
sen“ und „moralische Vorstel-
lungskraft“ sind wohl die pas-
senden Stichworte.
Es sei nicht unbedingt eine äs-
thetische, sondern vielmehr eine
existenzielle Erfahrung für sie
gewesen, die Bücher von Morri-
son zu entdecken, schrieb Zadie
Smith, die in London aufge-
wachsen ist und seit Jahren in

New York lebt, in ihrem Nachruf
fffür den amerikanischen PEN; sieür den amerikanischen PEN; sie
habe sonst schlicht keine Geis-
tesverwandte gehabt, schwarze
Frauen habe es damals nur in
der Musik gegeben, vielleicht
noch im Sport. Sie habe als Mäd-
chen dieselbe leicht faule Selbst-
gefälligkeit von verwandter Nä-
he spüren wollen, die jeder wei-
ße Junge spüre, wenn er von
Shakespeare oder Keats höre,
egal wie wenig er sich für Litera-
tur interessiert. So eine Last
sollte kein Schriftsteller tragen
müssen, aber Toni Morrison ha-
be diese Last nicht nur bewusst
gewählt, sondern sei ihr auch ge-
recht geworden: „Sie wusste,
dass sie für uns nicht einfach nur
eine Schriftstellerin sein konnte,
sondern ein ganzer Diskurs –
und so wurde sie einer“. Morri-
son schrieb ihren ersten Roman
„„„The Bluest Eye“ erst mit 40,The Bluest Eye“ erst mit 40,
fffrüh morgens um vier, bevor ihrerüh morgens um vier, bevor ihre
zwei Söhne aufwachten, die sie
allein großzog, neben ihrem Job.
Sie schaffte es, zum amerikani-
schen Diskurs zu werden, indem
sie zwar über Erfahrungen von
Schwarzen schrieb, aber eben
nicht, um sie ausschließlich als
Erfahrungen von Schwarzen zu
beschreiben. Sie habe die Stu-
denten in Princeton, die sie, als
sie längst ein Literaturstar war,
in Creative Writing unterrichte-
te, ermutigen wollen, eben nicht
über ihr Milieu, sich selbst oder
die Freunde zu schreiben, son-
dern eben über das, was sie nicht
kennen, die Mexikanerin im
Café zum Beispiel. So wäre man
zumindest in der Lage, sich
selbst als Fremdem zu begeg-
nen, selbst wenn man über sich
schriebe.
Am häufigsten zitiert wurden
ein paar Sätze von Morrison, die
in ihrem Ton so vielsagend und
amerikanisch sind, dass man sie
am besten nicht übersetzt: „We
die. That may be the meaning of
life. But we do language. That
may be the measure of our
lives“.

„Eine Herausforderung an


Gewissen und Vorstellungskraft“


Was die amerikanischen Reaktionen
auf den Tod von Toni Morrison bedeuten

GETTY IMAGES

/ JEAN-CHRISTIAN BOURCART
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