Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.08.2019

(WallPaper) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 13. AUGUST 2019·NR. 186·SEITE 11


SALZBURG,12. August
Es war ein Schrei, der im Ohr von George
Enescu wieder und wieder nachhallte:
der Schrei des geblendeten Ödipus in der
Tragödie des Sophokles, die der rumäni-
sche Komponist 1909 in der Comédie
Française mit dem Schauspieler Jean
Mounet-Sully erlebt hatte. Dieser Schrei
des mit Urschuld geborenen Königs-
sohns – er wird der Mörder seines Vaters
sein, der Gatte seiner Mutter, der Bruder
seiner Töchter und Vater seiner Brüder:
das Urbild des tragischen antiken Helden


  • gewandelt zu einem der schauerlichs-
    ten Akkorde in der Geschichte des Musik-
    theaters: wenn der Verblendete in dem
    Moment, da er sehend geworden, sich die
    Augen aussticht. Gibt es eine andere Mu-
    sik, die so schmerzlich wäre? Sie ist
    schauriger als das Gesicht des Œdipe, aus
    dem die Augen gerissen sind.
    Der genialische Regisseur und Büh-
    nenbildner Achim Freyer bemerkte vor
    der Inszenierung von George Enescus
    Opern-Solitär voller Vorsicht und den
    Dirigenten Ingo Metzmacher einschlie-
    ßend, „dass nicht einmal wir ganz zur
    Gänze begreifen, was wir auf der Bühne
    schaffen“. Es ist ein Hinweis oder Einge-
    ständnis, dass das Werk selbst für die,
    die sich ihm lange gestellt haben, die Ge-
    walt des Fremden behalten hat: und die
    einer vom Schlusschor gestellten Heraus-
    forderung: „Drum, ist einer sterblich,
    achtet drauf, nach jenem letzten Tag aus-
    zuschauen: Keinen darf man glücklich
    preisen, eh er denn an des Lebens Ziel
    gelangt ist und kein Leid erduldete.“
    Jene Aufführung in der Comédie
    Française regte Enescu 1910 sogleich
    zur ersten musikalischen Skizze an,
    noch bevor er in Edmond Fleg, einem jü-
    dischen Schriftsteller schweizerischer
    Herkunft, einen kongenialen Librettis-
    ten fand. Fortan hatte der als Geigenvir-
    tuose, Dirigent und Lehrer weltweit ge-
    forderte Enescu, wie sein Geigenschüler
    Yehudi Menuhin berichtete, „stets die
    Partitur dieser überwältigenden Oper
    bei sich. Statt zu schlafen, arbeitete er
    Tag und Nacht, auch zwischen Konzer-
    ten, an diesem monumentalen Opus“ –
    mehr als zwanzig Jahre. Die Urauffüh-
    rung an der Pariser Opéra am 13. März
    1936 mit dem Bariton André Pernet in
    der riesigen Titelpartie erlebte Enescu
    als den „schönsten Tag meines Lebens“.
    Doch bald nach dem bedeutenden ers-
    ten Erfolg wurde „Œdipe“ zum Fremd-
    ling des Repertoires – aus politischen
    Gründen, vielleicht auch deshalb, weil
    das in der Musik der Spätromantik wur-
    zelnde und vom Klangfarbenreichtum
    des Impressionismus wie von der rumä-
    nischen Folklore inspirierte Werk das
    von einem mächtigen Häuflein gestellte
    Postulat des Materialfortschritts nicht er-
    füllte. Zwar wurde der Oper nach verein-
    zelten Aufführungen stets die Lobesflos-
    kel „Meisterwerk“ nachgeworfen, aber
    erst die von Götz Friedrich betreute Auf-
    führung an der Deutschen Oper Berlin
    (1996) – eine Koproduktion mit der Wie-
    ner Staatsoper – verschaffte dem auf ei-
    nem ständigen Klage-Gestus voran-
    schreitenden „Œdipe“ die verdiente Auf-
    merksamkeit. Nebenbei: Auslöser für
    diese Produktion war eine großartige
    Plattenaufnahme unter dem Dirigenten
    Lawrence Foster mit José van Dam in
    der Titelpartie.
    Bei seinem Libretto hielt sich Fleg
    nicht an die nach dem Modell der „Detek-
    tiv-Geschichte“ erzählte Tragödie des So-
    phokles, in der Ödipus das Rätsel der
    Sphinx löst, zum König von Theben auf-
    steigt und entdecken muss, dass die Ver-
    brechen, die aufzuklären er gezwungen
    ist, von ihm selbst begangen worden sind.
    Der Mythos des Ödipus – schlechthin Ur-
    bild der tragischen Menschengestalt –
    wird, wie ein Bildungsroman, in einer
    durchgehenden, aber aus Fragmenten ge-
    fügten Handlung erzählt: von der Geburt
    am thebanischen Hof des Laïos und der
    Jocaste über sein Aufwachsen als Findel-
    kind am Hofe des kinderlosen Königspaa-
    res in Korinth; seiner durch einen neuen
    Orakelspruch erzwungene Flucht, bei der
    er auf einem Dreiweg den Vater er-
    schlägt, und dem Sieg über die Sphinx bei
    seinem unheilvollen Weg nach Theben.
    Die vom Librettisten umgewandelte
    Sphinx stellt nicht die Frage nach dem
    mal vier-, dann zwei- und schließlich
    dreibeinigen Wesen, sondern: „Wer ist
    stärker als das selbst die Götter beherr-
    schende Schicksal?“ Mit der Antwort:
    „Der Mensch“ fordert Œdipe blasphe-
    misch das Schicksal heraus. Mit einer
    wie aus dem Jenseits kommenden tonlo-
    sen Stimme antwortet die Sphinx in ei-
    nem gespenstisch lachenden Sprechge-
    sang: „Die Zukunft wird dir sagen, ob
    die Sphinx sterbend ihre Niederlage be-
    weint oder über ihren Sieg lacht“ – ihre
    Schreie gehen über in ein gespenstisch-
    aufsteigendes Glissando der singenden
    Säge. „Ich musste das Unvorstellbare


imaginieren“, sagte Enescu, „als ich die
Feder niederlegte, dachte ich, dass ich
den Verstand verliere.“ Mit dem als Epi-
log bezeichneten vierten Akt sorgt der
Librettist für eine weitere Modifikation
der Detektiv-Geschichte: Nach der
Selbstblendung wird Œdipe von seiner
Tochter Antigone „dem Licht meiner
Augen“ – nach Kolonos geführt. Wie in
einem Mysterienspiel wird er entsühnt
und findet den Weg ins ewige Licht. Wie
seltsam und wie schwer zu entschlüs-
seln: Œdipe fühlt sich als Opfer – „Je
suis innocent, innocent, innocent“ –
und wird umgedeutet in eine christliche
Märtyrergestalt, besungen von den Eu-
meniden: „Glücklich ist, dessen Seele
rein ist: der Friede sei mit ihm.“
In ihrer Anlage gleicht die Oper einem
symphonischen Monolog, bei dem die
Nebenfiguren durch kurze Stichworte die
Impulse der Handlung geben – nur der
Stasimon, der antike Chor, ist ein Gegen-
spieler zum Titelhelden. Die überreich in-
strumentierte Partitur – Streicher, je vier-

zehn Holz- und Blechbläser, Schlaginstru-
mente und diverse Sonderinstrumente –
ist bis ins feinste Gewebe ausdifferen-
ziert und reich an Erinnerungen wie
etwa mit einem Flötensolo, das Enescu
aus dem „Tristan“ seines Vorbildes Wag-
ner herübergerettet hat. Ganz im Sinne
Wagners, so hat Carl Dahlhaus betont,
sei im „Œdipe“ die Musik „das Wesen
des Dramas“ und die sichtbare Handlung
dessen die bloße „Erscheinung“.
„Bloße“ Erscheinung? Als Regisseur
führt Achim Freyer uns mit den ihm urei-
genen Mitteln phantastischer Bilder und
gespenstischer Schattenspiele in ein sur-
reales Traumland. Bei seiner Geburt
liegt Œdipe als zappelnder und zucken-
der Embryo auf dem Boden und verwan-
delt sich in den Doppelgänger des un-
glaublichen Hulk. Die Gegen- und Mit-
spieler sind Figuren aus Märchenwun-
derländern, die oft, nach dem Prinzip
des antiken „personare“, hinter Masken
sprechen. Auf der Bühne liegen und
leuchten, durch den Raum schweben Fi-
guren oder Objekte wie riesenfrucht-
baumelnde Phalli als Chiffren für das
Unbewusste. Während der Begegnung
mit der Sphinx geistern Schlangen, Lö-
wen und Rieseninsekten umher. Selbst
die Bilder, die Anspielungen, die Allusio-
nen, die kaum zu verstehen sind, stei-
gern die Spannung. Es gibt auf dem
Theater eine Vollkommenheit, die darin
liegt, dass das letzte Geheimnis eines
Werks nicht offenbart wird.
Der Bariton Christopher Maltman ist
ein stimmlich wie darstellerisch charis-
matischer Sänger der Titelpartie – mit
eherner Wucht in den syllabisch notier-
ten dramatischen Ausbrüchen des wider
das Schicksal aufbegehrenden Helden,
dann mit feinen, schmerzgetränkten
Klanggesten im „Requiem“ des vierten
Aktes. Die Mit- und Gegenspieler wer-
den durch Kostüme und ihre Körperspra-
che eindringlicher charakterisiert als
durch gesangliche Gesten.
Der Jubel des enthusiasmierten En-
sembles konzentrierte sich auf den Diri-
genten Ingo Metzmacher, der mit den
Wiener Philharmonikern sowohl die glü-
henden Ausbrüche als auch die kühnen
Klangerfindungen mit höchster Diffe-
renzierung zur Geltung brachte. Durch
ihn wurde die Aufführung zum Nach-
hall jenes Schreis, der die Oper inspi-
riert hatte. JÜRGEN KESTING

W


enn Spiegel etwas nicht leis-
ten, dann ist es das, was ge-
meinhin von ihnen erwartet
wird – eine unveränderte Wie-
dergabe des Gegenübers zwecks objekti-
ver Begutachtung.
Schon physikalisch verändert jede klei-
ne Lufttrübung oder Lichtschwankung
die „getreue“ Wiedergabe unseres Bildes.
Erst recht war dies der Fall bei den alten,
unebenen Spiegeln mit unregelmäßiger,
ja fleckiger Quecksilberbedampfung: Bis
endlich Mitte des neunzehnten Jahrhun-
derts Justus von Liebig durch die Be-
schichtung mit Silber annähernd perfekte
Spiegel zu produzieren lehrte, die – Ironie
am Rande – von der Bevölkerung anfangs
gerade aufgrund ihrer ungewohnten und
natürlich teureren Perfektion abgelehnt
wurden. Immer aber blickt einen ein Bild
aus einer Millisekunden zurückliegenden
Vergangenheit an. Alternativ sehen die
Betrachter angesichts ihres Spiegelbildes
die Zukunft, räsonieren darüber, wie die-
ses oder jenes Detail des Gesehenen nach
dem Make-up, übermorgen, in einem
Jahr oder gegen Ende des Lebens ausse-
hen wird. Das Sehen in den Spiegel ist mit-
hin nie das Momentum eines Status quo,
vielmehr immer ein Blick in die Vergan-
genheit oder die Zukunft.
Mit dieser überraschenden Erkenntnis
wartet eine der anregendsten Ausstellun-
gen dieses Jahres in den reichen ethnologi-
schen Sammlungen des Museums Rietberg
in Zürich auf: Der Spiegel ist immer an Zeit-
lichkeit gebunden, er krümmt und dehnt
diese; in jedem Fall ist er eigenaktiv.
Diese Janusköpfigkeit des in Vergangen-
heit und Zukunft zugleich blickenden Spie-
gels beginnt bereits mit dem ältesten gefun-
denen Exemplar. In der frühesten urbanen
Siedlung der Menschheit, dem anatoli-
schen Catalhöyük, lag vor über siebentau-
send Jahren ein blank polierter Spiegel aus
Obsidian, also schwarzem vulkanischem
Gesteinsglas, als Grabbeigabe einer Bestat-
tung bei. Man könnte dies als banales Attri-
but der beerdigten Frau abtun, als eine ih-
rer Habseligkeiten; es ist jedoch mit großer
Wahrscheinlichkeit der frühe Nachweis ei-
nes Blicks in die Zukunft, denn hätten sich
die Bestattenden kein künftiges Weiterle-
ben nach dem Tod vorstellen können, für
das ein solches Schönheitsrequisit nötig
wäre, ergäbe dessen Mitbestattung keinen
Sinn, da er für die Hinterbliebenen durch-
aus noch gebrauchstüchtig war. In den
etruskischen Gräbern des vorchristlichen
Jahrtausends hat sich die Sitte der Spiegel-
grabbeigabe in zahlreichen Fällen erhal-
ten.
Dabei läuft die Ausstellung an keiner
Stelle in die Trivialitätsfalle eines rein
weiblichen Beauty-Accessoires. Vielmehr
stellt sie wiederholt klar, dass mindestens
bis ins neunzehnte Jahrhundert beide Ge-
schlechter und alle dazwischen sich glei-
chermaßen frequent bespiegelten. Grund-
mythos des eitlen und vergänglichen
Selbstbespieglers bleibt Narziss, nicht
Narzissa, und dass Ovid bei der Metamor-
phose des Hirten in die gleichnamige Blu-
me ausnahmsweise keine Nymphe oder
anderes weibliches Personal wählte, ist
kein Zufall.
Erst in der zunehmenden Verhäusli-
chung des Viktorianischen Zeitalters wird
den Frauen der Spiegel gleichsam an die
Hand gekettet. Eines der entlarvendsten
Bilder der Schau ist insofern ausgerechnet
die Studiofotografie des jungen Indianers
Moragootch von etwa 1884. Obwohl der
Shoshone mit seinen klassisch grie-
chischen Gesichtszügen, dem langen ge-
wellten Haar und dem länglichen Spiegel
in der Armbeuge auf den ersten Blick wür-
devoll erscheint, war diese Ausstaffierung
nicht weniger als eine Diffamierung des
Dargestellten als effeminiert, da das Por-
trät nicht freiwillig entstand. Das offene
Tragen von langen Haaren, Federn und
Spiegeln wurde damit vom weißen Atelier-
betreiber oder den Auftraggebern der foto-
grafischen Inventarisation als weibisch
festgeschrieben und verhöhnt.
Obwohl noch mehrfach Zauberspiegel
von Hexen und diejenigen der Göttin Ve-
nus und all ihrer Nachfahrinnen als
scheinbar typisch weibliches Attribut wie-
derkehren, sind sie stets mit einer aktivier-
renden Funktion versehen – auch der heu-
te noch im Spessartstädtchen Lohr am
Main gezeigte „Originalspiegel“ der bö-
sen Königin aus Schneewittchen zeigt
schließlich nicht das Momentum, son-
dern die Zukunft. Solch sagenumwobene
Märchenspiegel, die in „Alice in Wonder-
land“ sogar zum Durchlass in eine gänz-
lich andere Welt werden, „through the
looking- glass“, bilden einen Basso conti-
nuo der Schau: Der Blick in den Spiegel
ist immer auch ein Blick in die Seele, häu-
fig ein Ausloten ihrer Untiefen wie im
Fall der bösen Königin oder den zahlrei-
chen Spiegelbildern der Surrealisten, die

wie im Fall von Salvador Dalí nicht davor
zurückschreckten, ein Originalgemälde
der Cranach-Schule mit einer aus dem
vorhandenen Renaissancespiegel quellen-
den geflügelten Schlange zu übermalen.
Dass eine derart steile These nicht zu
weit hergeholt ist, verdichtet die Ausstel-
lung an Objekten aus verschiedensten Kul-
turen, die völlig unabhängig voneinander
entstanden sind: Ein sibirisches Schama-
nenkostüm des achtzehnten Jahrhunderts
aus der Universitätssammlung Göttingen
ist ebenso vor dem bösen Blick durch tote
Seelen und andere Unruhestifter gefeit
wie die bestrickenden hölzernen Nagelfe-
tischfiguren aus dem Kongo, die häufig
auf Höhe des Bauches einen Spiegel appli-
ziert haben. Genauso waren auch die Rüs-
tungen arabischer Reiter wie auch der Az-
teken mit Spiegel versehen, wohl nicht zu-
letzt, um den Gegner zu blenden. Damit
erweiterten mindestens die in Rietberg ge-
zeigten mesoamerikanischen Beispiele
die Spiegelmetaphorik um eine weitere Fa-
cette – diejenige als Verkörperung der Son-
ne. Die unumschränkt höchste Gottheit in
diesen Kulturen materialisiert sich in
Form eines Spiegels, weshalb nicht ver-
wundert, dass christliche Mönche diese
unfassbar kostbaren Sonnenspiegelgötzen
aus dem fein geschnittenen und in Strah-

lenform einem Metallgrund aufgelegten
Katzengold Pyrit so schnell wie möglich
zerstörten.
Dass der Aberglaube der demolieren-
den Mönche wirklich nur die Sonnenver-
körperung treffen sollte, zeigt sich darin,
dass sie lediglich die kreisrunde Pyritschei-
be im Zentrum mittels Harz in Brand setz-
ten und den restlichen Spiegel „verschon-
ten“. Derartige selektivedamnatio-memo-
riae-Bildschändungen hatte nicht nur die
christliche Religion über Jahrhunderte hin-
weg an Augen, Ohren und Nasen fremder
Götterstatuen erprobt.
Selbst die heutige Selfiekultur, auf die
sich die Schau in mehreren Anläufen und
mit unterschiedlichen Ansätzen einlässt,
wird nicht als reines Oberflächenphäno-
men disqualifiziert. Im Gegenteil bewährt
sich an ihr Andy Warhols Diktum, dass in
der Oberfläche die Tiefe liege. Der Him-
mel als Sitz höherer Mächte und vermute-
tem Alterssitz der Seele spiegelt sich in
Wasseroberflächen, in allen Kulturen mit
Gottesebenbildlichkeitsvorstellungen des
Menschen aber auch in Spiegelflächen; Tie-
fe wird diesen Überlegungen primär nie-
mand absprechen wollen. Auch im heuti-
gen narzisstischen Selfiekult haben sich da-
her – so eine These der Schau – Reste die-
ser alten Thematik erhalten, allerdings mit
modernsten Verbesserungsmöglichkeiten.

Das beginnt bereits mit dem sogenann-
ten Hexenspiegel des Fotopioniers Charles
Nègre: Auf seinem „Selbstporträt im Spie-
gel“ von 1845 erscheint sein Antlitz gleich
elffach wie in einer altertümlichen Wähl-
scheibe gespiegelt, weil Kamera wie auch
zu porträtierendes Gesicht in einem be-
stimmten Winkel positioniert sind. Fixiert
wurde diese Mehrfachreflexion des Selbst
mittels Daguerreotypie, einer versilberten
Kupferplatte, die selbst ein Spiegel ist.
Schon in ihren ersten Jahren wurde die Fo-
tografie daher als „festgehaltenes Spiegel-
bild“ gerühmt, der Arzt und Schriftsteller
Oliver Wendell Holmes beschrieb die
neue Technik 1859 sogar als „Spiegel mit
Gedächtnis“. Immer sind die jeden Tag
milliardenfach geschossenen Selfies visuel-
le Tagebücher gegen das Vergessen, Arbeit
gegen die Zeit und den Tod. Der Hauptun-
terschied zu den vor allem gemalten See-
lensuchen, von denen die Kunstgeschichte
wimmelt und bei denen die Leinwand die
Spiegelfläche ist, bleibt, dass sie das Selbst
ausloten wollten, während heute bevor-
zugt das Seelenheil im nachzueifernden
Bild anderer gesucht wird.
Die in Zürich angebotene Lösung
stammt von Plato. Ihm zufolge gibt es das
Göttliche in der Seele des anderen. Indem
er sich im Blick des anderen spiegelt, er-
kennt der Mensch sich selbst und zugleich
das Göttliche, findet zu sich selbst. Eine we-
niger exteriore Sicht hat der Apostel Pau-
lus. Das menschliche Erkenntnisvermögen
ist laut ihm „bloße Spiegelerkenntnis“. Der
Geist des Herrn verwandelt uns „in sein ei-
genes Bild“. Die „vollständige Klarsicht“
gibt es erst am Ende der Zeiten. Das ist
nicht weit entfernt vom Zen-Buddhismus,
für den der klare Geist ein blank geputzter
Spiegel ist. Ein Museum wie Rietberg, das
mit Spitzenstücken aus allen Kulturen auf-
wartet, kommt dem klaren Blick auf die
menschlichen Spiegelfechtereien aus Jahr-
tausenden somit wohl am nächsten.
Es könnte als Ironie erscheinen, dass die
größten Spiegel der Welt, die Teleskope in
der Atacamawüste, in etwa dort stehen, wo
die Missionare vor einem halben Jahrtau-
send die Spiegel der Indios im Akkord zer-
störten. Auch diese Spiegel schauen jeden-
falls in eine Vergangenheit, die zum Teil
Milliarden Jahre zurückliegt, um der
Menschheit eventuell eine Zukunftsper-
spektive zu sichern. STEFAN TRINKS

Spiegel. Der Mensch im Widerschein.Im Museum
Rietberg, Zürich; bis zum 15. September. Der auf-
wendig gestaltete Katalog mit in den Buchdeckel
eingelassenem Spiegel kostet 45 Euro.

Christopher Maltman Foto AFP


In Dessau ist der originalgetreue Nach-
baueinesBauhaus-Mustergebäudes er-
öffnet worden. Das einstöckige Haus
in der zum Unesco-Weltkulturerbe ge-
hörenden Laubengangsiedlung Dessau-
Törten entstand nach Plänen des Archi-
tekten Ludwig Hilberseimer (1885 bis

1967), der von 1930 an Stadtplanung am
Bauhaus lehrte. Von den geplanten vier-
hundert Exemplaren wurde wegen der
Weltwirtschaftskrise nur ein einziges für
eine Architekturausstellung in Berlin rea-
lisiert. Hilberseimer selbst folgte dem
Bauhaus-Direktor Mies van der Rohe
1938 nach Chicago. Das Dessauer Mus-
terhaus soll übernächstes Jahr demon-
tiert und in Berlin-Hohenschönhausen
wieder aufgebaut werden. F.A.Z.

Das Lachen der Sphinx


Ein Glücksfall: In Salzburg bringen Achim Freyer und


Ingo Metzmacher George Enescus Oper „Œdipe“ heraus


Wiederaufbauhaus


NeuesMustergebäude in Dessau


Blick zurück in die Zukunft


Ich ist elfmal ein anderer, zumindest in einem der „Hexenspiegel“, die seit dem sechzehnten
Jahrhundert in Kunstkammern als Instrumente der Irritation und skeptischen Selbstbefragung
nachweisbar sind: Charles Nègres Daguerreotypie „Selbstporträt im Spiegel“ spaltet sich bereits
um 1845 auf. Doch wer sitzt hinter ihm mit verschränkten Armen?Foto R. und P. Herzog, Basel

Salzburger Festspiele


Was Spiegel über uns


erzählenzeigt eine


Ausstellung im Züricher


Museum Rietberg zu fast


zehntausend Jahren


Kulturgeschichte. Dabei


erweist sich, dass Selfies


auch nur Spiegel mit


anderen Mitteln sind.


Ilse Bing thematisiert in „Selbstporträt mit Leica“ von 1931 Spiegel und Linse. Ihre Werke
beeinflussten unter anderem Vivian Maier und Cindy Sherman. Foto Thomas Walther Collection
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