SEITE 12·DIENSTAG, 13. AUGUST 2019·NR. 186 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Mein Großvater war Obstbauer im Ne-
benerwerb. Wenn wir in den sechziger
Jahren des letzten Jahrhunderts ge-
meinsam im Frühjahr „zum Spritzen“
aufs Feld gingen, war der Leiterwagen
mit chemischen Kampfstoffen gut ge-
füllt. Das „Schwiegermuttergift“ E 605
war anfänglich noch dabei, wurde aber
sukzessive durch Metasystox ersetzt.
Der feine Sprühnebel befreite die Obst-
wiese effizient von saugenden Insek-
ten. Über die Kollateralschäden für
Mensch und Tier dachten wir damals
nicht nach.
Ein halbes Jahrhundert später ist
mein Giftschrank so gut wie leer. Ein
leicht neurotoxisches Insektzid steht
herum, findet aber kaum noch Verwen-
dung, weil ein furchteinflößender Auf-
kleber vor den Risiken für Mensch und
Umwelt warnt. Die Schneckenkörner
sind auch schon in die Jahre gekom-
men, da ich die Gemüsebeete inzwi-
schen durch Schneckenbleche effizient
gegen die Eindringlinge schütze.
Im Garten werden Blattläuse und
Spinnmilben biologisch bekämpft;
Spritzbrühe und Nützlinge sind also an-
gesagt. Klug gewählte Pflanzengemein-
schaften wehren Schädlinge ab und
nutzen Ressourcen effizient. Boden-
hilfsstoffe wie Kompost und Gesteins-
mehl stärken die Pflanzen und machen
sie weniger anfällig. Unkraut wird von
Hand gejätet; Totalherbizide wie Gly-
phosat haben im häuslichen Grün oh-
nehin nichts verloren.
Dennoch bleiben nicht nur für den
ökologischen Landwirt, sondern auch
für den umweltbewussten Gärtner hin-
reichend Herausforderungen. Im feuch-
ten Klima Mitteleuropas ist Pilzbefall
für den Anbau von Wein und Erdbee-
ren, von Tomaten und Kartoffeln ein
permanentes Problem. Und der Pilz
Monilia verursacht bei vielen Obst-
und manchen Ziergehölzen Spitzendür-
re und Fruchtfäule. An wirksame Kup-
fer- und Schwefelpräparate, die etwa
im biologischen Weinbau eingesetzt
werden dürfen, kommt man nicht
mehr ohne weiteres heran. So bleiben
synthetische Fungizide – und die Hoff-
nung auf Mikroorganismen, die schäd-
liche Sporen vertreiben sollen.
Der Pflanzenschutz hat sich inner-
halb weniger Generationen grundle-
gend gewandelt. Im frühen 20. Jahrhun-
derts herrschte ungebremster Fort-
schrittsoptimismus: Die wissenschaftli-
che Beschäftigung mit Schädlingen
und die immer vielfältigeren Möglich-
keiten ihrer chemischen Bekämpfung
hatten die Schäden an Nutz- und Zier-
pflanzen sowie die Ernteverluste dras-
tisch reduziert. Die Rückstände, die
chemische Mittel hinterließen, interes-
sierten allerdings nicht, und die Schad-
schwelle, die man beim Anbau im pri-
vaten Garten wie auf dem landwirt-
schaftlichen Acker zu tolerieren bereit
war, wurde immer niedriger.
Eine Zäsur bedeutete das Buch „Si-
lent Spring“ (Der stumme Frühling)
der amerikanischen Biologin und Wis-
senschaftsjournalistin Rachel L. Car-
son, das 1962 erschien und ein Jahr
später auch auf Deutsch vorlag. Der
Bestseller enthielt ein Plädoyer gegen
den Einsatz chemischer Pflanzen-
schutzmittel und war der erste „Öko-
klassiker“, der die Wahrnehmung der
Umwelt auf dem ganzen Globus verän-
derte und dessen Bedeutung bald mit
Harriet Beecher Stowes „Onkel Toms
Hütte“ und Charles Darwins „Entste-
hung der Arten“ verglichen wurde. Car-
son warnte eindringlich vor den ver-
heerenden Folgen des exzessiven Pesti-
zidgebrauchs in der Landwirtschaft:
Der Einsatz des höchst wirksamen In-
sektizids DDT, so prophezeite sie in ei-
ner düsteren Vision, führe zu einem
massiven Vogelsterben und damit zu ei-
nem „Frühling ohne Stimmen“. Ihr
Buch wurde zum Gründungsmanifest
der weltweiten Umweltbewegung.
1971 veröffentlichte Alwin Seifert den
ökologischen Ratgeber „Gärtnern,
Ackern – ohne Gift“. Dass der Natur-
schützer einst beim nationalsozialisti-
schen Autobahnbau als „Reichsland-
schaftsanwalt“ gewirkt hatte und völki-
schem Gedankengut verpflichtet war,
tat dem Erfolg des Buches keinen Ab-
bruch: Innerhalb von zehn Jahren wur-
den mehr als 200 000 Exemplare ver-
kauft.
Integrierter Pflanzenschutz heißt
die aktuelle Botschaft, die biologische
und chemische Methoden der Schäd-
lingsbekämpfung verbindet. Aber die
Diskussion um den Einsatz von Che-
mie auf dem Feld und im Garten ist zu-
mindest in weiten Teilen Westeuropas
dogmatisch verhärtet. Differenzierun-
gen sind in diesem Glaubenskrieg
nicht erwünscht. Ob indes der Öko-
Kreuzzug den Pflanzen immer hilft, sei
dahingestellt. STEFAN REBENICH
In der Debatte über die „Friedliche Revolu-
tion“ vor dreißig Jahren überwiegt bislang
nicht die Freude über die geschenkte Frei-
heit und die neuen Lebensmöglichkeiten
der Deutschen, sondern es wird genörgelt.
Der Streit zwischen Detlef Pollack, Ilko-Sa-
scha Kowalczuk, Rainer Eckart, Katrin
Hattenhauer, Johannes Leithäuser, Hel-
mut Fehr und zuletzt Werner Schulz
(F.A.Z. am 7. August) indiziert mehr als
die vergangenheitspolitische Frage, wem
die Ehre für das Zustandekommen des
gänzlich Unerwarteten gebührt. Dass die
Vertreter der ehemaligen oppositionellen
Gruppen diese für sich beanspruchen, ist
aus deren Sicht nur zu verständlich: Unter
allen Akteuren, die sich seit dem Mauer-
bau für politische Reformen eingesetzt ha-
ben, sind die Mitglieder politisch alternati-
ver Gruppen in der DDR wahrscheinlich
die höchsten Risiken eingegangen.
Dass nun aber dreißig Jahre nach dem
Zusammenbruch der SED-Herrschaft wie-
der um die Frage gestritten wird, wem das
Verdienst zukommt, das Unrechtssystem
beseitigt zu haben, wirft neben der eher
akademischen Frage nach der Einsichts-
fähigkeit in das letztlich kontingente Zu-
sammenwirken voneinander unabhängig
wirksamer endogener und exogener politi-
scher Handlungsstränge eine Reihe weite-
rer Fragen auf, deren Beantwortung für
den Zustand der politischen Kultur in
Deutschland einiges auszusagen vermag.
Zunächst zeigt sich, dass die Debatte
bislang von Zeitzeugen des politischen
Umbruchs geführt wird, die Generationen
der in den siebziger Jahren oder später Ge-
borenen an ihr aber nicht partizipieren.
Ferner fällt auf, dass sich besonders Ost-
deutsche an dieser Debatte beteiligt ha-
ben (das Schöne daran ist, dass die von
Ostdeutschen zu Recht vorgetragene Kla-
ge, ihre Ansichten hätten in den gesamt-
deutschen Medien zu wenig Präsenz, hier
einmal außer Kraft gesetzt wird). Schließ-
lich bleibt zu konstatieren, dass es jeweils
Minderheiten sind, die sich öffentlich zu
Wort melden: Angehörige der ehemaligen
Opposition in der DDR und Vertreter der
akademischen Zunft.
Umso mehr stellt sich aber nun die Fra-
ge, was mit dem emotionalisierten Streit
unter den üblichen Verdächtigen offenbar
verdeckt wird. Was ist mit der Mehrheit
der Bevölkerung, die die SED-Diktatur
über Jahrzehnte mitgetragen oder sich zu-
mindest kommod in ihr eingerichtet hat-
te? Wäre es nicht an der Zeit, dass die
Nachgeborenen ihre ostdeutschen Eltern
und Großeltern befragen, warum sie über
all die Jahre den staatlichen Zwang hinge-
nommen, warum sie die Menschenrechts-
verletzungen geduldet und sich am System
der öffentlichen Lüge beteiligt haben?
Warum sie den greisen Parteiführern ge-
huldigt, ihren antifaschistischen Popanz
bedient und den Sozialismus bejaht ha-
ben, obwohl es doch gute Gründe gab, ge-
gen diesen Sozialismus zu sein?
Warum eigentlich ist es so schwer, dieje-
nigen, die es gut finden, dass der ehemali-
ge SED-PDS-Vorsitzende Gregor Gysi am
- Oktober in einer Leipziger Kirche an-
lässlich des Jubiläums der historischen De-
monstration vor dreißig Jahren eine Fest-
rede halten soll, einmal zu fragen, welches
Verständnis von menschlicher Würde und
Respekt, welches Verständnis von Freiheit
und historischer Verantwortung sie eigent-
lich haben? In einer Umfrage der „Leipzi-
ger Volkszeitung“, ob Gysi am 9. Oktober
in Leipzig auftreten solle, meinen siebzig
Prozent, er solle dort reden. Dass auf der
anderen Seite die AfD, die in ihrer dema-
gogischen Abgrenzungsideologie das habi-
tuelle Erbe der SED angetreten hat, kurz
davorsteht, im Osten mehrheitsfähig zu
werden, ist ein weiteres Indiz dafür, wie
wenig es gelungen ist, die Werte einer auf
individueller Menschenwürde und Plura-
lismus basierenden Demokratie in der ost-
deutschen Gesellschaft zu verankern.
Sicher liegt es zu einem Teil daran, dass
die nachwachsenden Generationen ihre
Eltern, die in den neunziger Jahren ihre Ar-
beit verloren hatten und sich beruflich und
politisch neu finden mussten, kaum kon-
frontieren konnten. Häufig mussten die
Kinder ihre Eltern in deren neuer Rollen-
findung noch stärken, so dass die Eltern
als Reibungspunkte gar nicht zur Verfü-
gung standen. Zudem gingen die Kinder
oft in den Westen, um die dort gegebenen
beruflichen Möglichkeiten für sich zu nut-
zen, und haben den Osten und ihre Eltern
politisch sich selbst überlassen. Die Sog-
wirkung des Westens zeigte sich aber auch
in anderer Hinsicht. Unvergessen sind die
politisch indifferenten Äußerungen man-
cher Westdeutscher, die im Osten nur als
Persilschein gedeutet werden konnten, al-
len voran Helmut Kohl, der mehrfach be-
tonte, dass er nicht wisse, wie er sich ver-
halten hätte, wenn er in der DDR hätte le-
ben müssen. Bei allem Verständnis für le-
bensdienlichen Opportunismus – ein biss-
chen mehr Geradlinigkeit der westdeut-
schen Meinungsführer, die ja auch sonst
keine Scheu hatten, die Verantwortung
des Individuums zu betonen, hätte der poli-
tischen Kultur zweifellos gutgetan.
Vergleicht man die Situation in Ost-
deutschland dreißig Jahre nach dem Sturz
der SED-Herrschaft mit der in West-
deutschland zwanzig Jahre nach Kriegs-
ende, dann muss es als offene Frage gel-
ten, ob das in der westdeutschen Nach-
kriegsgesellschaft mehr oder weniger er-
folgreiche Modell – kommunikatives Be-
schweigen der NS-Verbrechen als Bedin-
gung für wirtschaftlichen Wiederaufbau
und einen gesellschaftlichen Reifungspro-
zess (Hermann Lübbe) – langfristig auch
in Ostdeutschland funktioniert.
Die gigantischen Milliardensummen,
die seit 1990 als Sozialtransfers und Infra-
strukturmaßnahmen in Ostdeutschland
investiert wurden, haben bislang jeden-
falls nicht dazu geführt, dass die Ostdeut-
schen ihr demokratisches Selbstbewusst-
sein durch ihre Erfahrungen in der westli-
chen Gesellschaft stabilisiert hätten. Es
scheint geradezu, als hätten ihre Benach-
teiligungsgefühle gegenüber dem Westen
im Laufe der Jahre noch zugenommen, ja,
als hätte sich eine Art kultureller Entfrem-
dung vollzogen, die in offene Ablehnung
des Westens umzuschlagen droht.
Sollte dies zutreffen, dann wäre es
umso dringlicher, die politisch-kulturellen
Aspekte des Transformationsprozesses
wieder stärker in den Mittelpunkt zu rü-
cken. Karl Mannheim, der bereits 1928 die
Dynamik des sozialen Wandels anhand
der Abfolge politischer Generationen er-
klärt hat, sieht jede Generation von ihrem
„Polarerlebnis“ geprägt, auf das hin ihre
Konstitution erfolgt und von dem aus sie
jeweils einen anderen Gegner in der Welt
und in sich bekämpft. Dass 1989 für viele
ein solches Polarerlebnis war, steht außer
Frage. Damit die Ereignisse von 1989 über
eine akademische respektive auf politi-
sche Selbstbestätigung ausgerichtete De-
batte hinaus auf einer breiten Grundlage
in unsere politische Kultur integriert wer-
den können, ist eine offene Auseinander-
setzung auch mit den Wasserträgern des
Systems unumgänglich.
Wenn man die Menschen, die es richtig
finden, dass ein maßgeblicher Exponent
des alten Unterdrückungssystems eine
Festrede zum dreißigsten Jahrestag seiner
Überwindung hält, wirklich erreichen
will, darf man es nicht bei geschichtspoliti-
schen Belehrungen belassen. Ähnliches
gilt für jene, die der aggressiven Polemik
der AfD auf den Leim zu gehen drohen.
Will man all diesen Menschen ein Gefühl
für den Wert persönlicher Verantwortung
und Freiheit vermitteln, dann muss man
damit anfangen, sich für die Rollenbilder
der Normalos im eigenen Lebensumfeld
zu interessieren, und sie nach ihrer Ge-
schichte und ihrer Verantwortung fragen.
Da die Selbstverständigung unter der ost-
deutschen Mehrheitsbevölkerung bis heute
von alten Prägungen behindert wird, müss-
te ein solches Gespräch gerade von denen,
die es initiieren, offen und ohne morali-
sche Überlegenheitsgefühle geführt wer-
den. Die Offenheit des Gespräches wäre ge-
radezu eine Bedingung dafür, dass sich die-
jenigen, die es über Jahre und Jahrzehnte
hinweg vorgezogen haben, ihr Fähnlein ein-
fach in den Wind zu halten, ihrerseits öff-
nen können, um eigene Verstrickungen in
das staatliche Unterdrückungssystem zu er-
kennen. Schließlich müsste dieses Ge-
spräch sogar die Chance einschließen, dass
auch die Normalos ihre eigenen Leistun-
gen öffentlich zur Sprache bringen. Nicht
zuletzt müsste man selbst den Mut aufbrin-
gen, die eigene Position offen zu vertreten.
Solange aber alte Abhängigkeiten und
Scham über familiäre Verstrickungen wei-
ter wirken, wird ein offenes Verhältnis zu
dem, was war, kaum möglich sein.
Hagen Findeishat von 1986 bis 1991 in Leipzig
Theologie studiert und war dort von 1987 bis
1989 in einer politisch alternativen Gruppe aktiv.
Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theo-
logischen Fakultät der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg und forscht zur Religiosität in
Ostdeutschland.
S
eit der zeitgenössische Tanz auf
die eigene Geschichte und deren
Protagonisten starrt wie auf ein
Orakel, und seien diese Geschich-
te noch so kurz und diese Protagonisten
noch so arbiträre Figuren, seit sich also
die ohnehin selbstreferentiellen Ansätze
dieser Szene auch noch auf die echt über-
schaubare Vergangenheit konzentrieren,
sind wir in den mystischen Kreislauf ewi-
ger Stück-Wiederkehr eingetreten.
In der 31. Ausgabe des Berliner Festi-
vals „Tanz im August“ ist die Figur, vor
der sich die finnische Programmmache-
rin Virve Sutinen verbeugt – in ihrer Er-
öffnungsansprache gerührt von der eige-
nen Hingabe an ein fremdes Künstlerin-
nenschicksal –, alt und weiß und amerika-
nisch, aber natürlich nicht auch noch
männlich: Es handelt sich um Deborah
Hay, 78, bis vor wenigen Jahren nur den
absoluten Kennern der Postmodern
Dance-Welt von Texas bekannt, wo Hay
seit Jahrzehnten lebt und tanzt.
Die bekannteren Choreographinnen je-
ner Generation, die im New York der spä-
ten sechziger und frühen siebziger Jahre
die Judson Church zu einem Mekka der
Performance-Kunst machten, wurden in
den letzten Jahren mehr oder minder
gründlich vorgestellt. Yvonne Rainer, Tän-
zerin und Filmemacherin, die 2016 ver-
storbene Trisha Brown, deren mathemati-
sches Genie die allerpoetischsten und flie-
ßendsten Stücke erfand, als wäre ihr Be-
wegungsverstand eine kühle, sprudelnde
Bergquelle und ihr Körper das quecksilb-
rig energiedurchströmte Medium, oder
die großartige Minimalistin Lucinda
Childs, ihnen allen sind längst Denkmä-
ler gesetzt. Zugegeben ist ihnen dieses In-
teresse entgegengebracht worden, weil
sie nach der Zeit als Community von
Tanz-Verweigerern in der Judson Church
die folgenden Jahrzehnte nutzten, um un-
vergessliche Choreographien zu schaffen,
die weltweit tourten. Hay hatte Klassen
von Merce Cunningham besucht, dem
Theaterrevolutionär des zwanzigsten
Jahrhunderts, der Seite an Seite mit John
Cage die Zentralperspektive, musika-
lisch-tänzerische Symbiose, Narration,
Expressivität, subjektiven Ausdruck der
Künstlerindividualität und auch jeden an-
deren Tanzzopf abgeschnitten hatte. Weil
Hays Mann Alex, ein Maler, dem künstle-
rischen Direktor Robert Rauschenberg
1964 auf der Welttournee der Merce Cun-
ningham Dance Company assistieren soll-
te, wurde Deborah auf dieser Tournee als
Springer in einigen Stücken eingesetzt.
Danach begann sie, ihre eigenen experi-
mentellen Choreographien zu erarbeiten,
häufig mit bildenden Künstlern und Lai-
entänzern. Der Prozess interessierte sie
stärker als die Formen seiner Ergebnisse.
1970 zog sie sich nach Vermont in eine
Kommune zurück und von da 1976 nach
Texas. Was sie als Uraufführungen jetzt
in Berlin präsentierte, findet ganz normal
auf der Bühne statt. Auf einem weißen Bo-
den zeigt sich Hay mit Brille und hochge-
steckten Zöpfen, rosa Schuhen, Hose und
ärmelloser Bluse. Ihr tastender Gang, ihr
häufiges Verharren in einer Art Luftsitz
mit gebeugten Knien, ihr Umherschauen
und Ausstrecken der Arme, als seien es
Fühler, all das wirkt, als spüre sie in die
Aufführungssituation hinein, ohne große
Vorbereitung. Als ging es nur darum, in
diesem quasi tänzerischen Anwesend-
Sein dem Publikum erfahrbar zu machen,
was eine Person in einem Raum bedeutet.
Nach einer langen Weile geht sie ab, und
fünf Tänzer übernehmen ihren Job. Bis
auf ab und zu mit dünner Stimme vorge-
tragenen Gesang vollzieht sich das andert-
halb Stunden lang in Stille. Hays Ansatz
weist, unschwer zu erkennen, in die tanz-
therapeutische Richtung, ihre Stücke sind
mehr gemeinschaftliche Exerzitien, ritual-
hafte Feelgood-Erfahrungen für die Aus-
übenden. Man weiß nicht, warum dabei
jemand zuschauen muss.
Am Eröffnungswochenende gab es
zwei weitere Vorstellungen, bei denen ei-
gentlich auch niemand hätte zusehen müs-
sen. Eszter Salamon lag mit, auf, unter
oder neben ihrer Mutter anderthalb Stun-
den auf einem weißen Tanzbodenviereck
in der Elisabethenkirche, natürlich auch
ohne Musik. Catherine Gaudet schickte
zwei Frauen und drei Männer in Unterho-
sen auf die nackte Bühne. Die fünf blie-
ben nah beisammen, schüttelten sich auf
den Beats aus und erinnerten an Andro-
iden, deren Ausbildung im Striplokal un-
vollständig geblieben ist. Nicola Gunns
„Piece for Person and Ghetto Blaster“
war ein tanzend gesprochener Monolog,
eine charmant vorgetragene kleine intel-
lektuelle Volte. Dass man nicht mit Stei-
nen auf Enten schmeißen soll, stimmt na-
türlich, aber ist es wirklich die Aufgabe ei-
nes Tanzfestivals, unser Mitgefühl für En-
ten – und Frauen jeden Alters – zu stär-
ken? Bei aller Sympathie – nein, wohl
kaum. WIEBKE HÜSTER
GARTEN
SCHULE
Therapiert euch doch bitte selbst!
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Hört die Beats und schüttelt die Glieder: die Choreographie „L’affadissement du merveilleux“ von Catherine Gaudet Foto Mathieu Doyon
Heute ist der
Giftschrank
so gut wie leer
Öko-Kreuzritter stören die
Schädlingsbekämpfung.
Nützen sie den Pflanzen?
Warum befragen wir unsere Eltern nicht?
Es ist leicht, über den Westen zu klagen – aber was sagen jene, die die SED-Diktatur mitgetragen haben?Von Hagen Findeis
Gemeinschaftliche
Exerzitien und so richtig
wohl fühlen: Das
Berliner Festival „Tanz
im August“ wirft die
Frage auf, wer da noch
zuschauen muss.