FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 13. AUGUST 2019·NR. 186·SEITE 9
Bis zurGewaltbereitschaft verbiester-
te linksliberale Moralsnobs jagen vom
Niedergang des Mittelstands gebeutel-
te Heimatverbundene: Das ist, nach al-
lem, was bislang bekannt wurde, die
Erzählvoraussetzung des Films „The
Hunt“. Stars wie die Charakterdarstel-
lerin Hillary Swank und der Spaßma-
cher Ike Barinholtz spielen mit; das
Drehbuch stammt von Damon Linde-
lof und Nick Cuse, denen man spätes-
tens seit ihrer Fernsehserie „The Left-
overs“ (2014 bis 2017) nicht nachsa-
gen kann, sie wären vom Hass auf die
Werte der in „The Hunt“ bedrohten
Menschen zerfressen (Held der Show
ist ein Polizist, ihr Thema die Wahrheit
des Jenseitsglaubens). Der stumpfkon-
servative Fernsehsender Fox News
aber verbellt „The Hunt“, den noch
kein Publikum gesehen hat, als linke
Hetze gegen Trumps Wählerschaft, um
das Klischee einer angeblich antinatio-
nalen Kulturindustrie zu festigen.
Nach den jüngsten, teils politisch moti-
vierten Gewaltverbrechen in Texas
und Ohio hat Trump diesen Topos mit
einem Tweet bedient, in dem er Holly-
wood als „rassistisch“ beschimpft und
so beweist, dass er den Sinn dieses Wor-
tes sowenig versteht wie linke Sektie-
rer, die irrationale Abneigung gegen
bestimmte Religionen oder kanadi-
sches Essen als „Rassismus“ anpran-
gern. Die Firma Universal Pictures hat
den Vertrieb des von ihr produzierten
Films jetzt als politisch inopportun auf
unbestimmte Zeit blockiert. Etwaige
satirische Absichten seiner Urheber
dürften damit übererfüllt sein. dda
Die Literatur ist tot.“ So steht es im Vor-
wort von Johan Faerbers jüngst erschie-
nenem Buch „Après la littérature“. Sind
wir bereits im postliterarischen Zeital-
ter? Was ist aus dernation littéraire, der
Literaturnation Frankreich, geworden?
Sie existiert: Die Klassiker verkaufen
sich auf dem französischen Buchmarkt
nach wie vor ungemein gut, und die Li-
teratur belegt den ersten Rang bei Neu-
veröffentlichungen. Siebzig Prozent der
Franzosen über fünfzehn Jahre lesen im
Durchschnitt sechzehn Bücher pro Jahr.
Nimmt man den Anteil an Schullektü-
ren und Jugendlektüren hinzu, kann
man sagen, dass in Frankreich rund
eine Milliarde Bücher pro Jahr gelesen
werden.
Zum bloß Statistischen tritt das Sym-
bolische: Frankreich brüstet sich damit,
den Rekord an Literaturnobelpreisträ-
gern zu halten. Die zahlreichen einhei-
mischen Literaturpreise ziehen jahraus,
jahrein große Aufmerksamkeit auf sich.
700 000 junge Franzosen und Französin-
nen legen auf dem Lycée eine obligatori-
sche Prüfung mit literarischem Schwer-
punkt ab, als wäre das eine Bewährungs-
probe. Da solche Prüfungen von einem
nationalen Prüfungsausschuss be-
stimmt und auch Theater und Buchver-
öffentlichungen staatlich gefördert wer-
den, kann man sagen, die Literatur
steht auf der Agenda französischer Kul-
turförderung an oberster Stelle.
Und doch wird seit mehr als zwanzig
Jahren laut und prominent ihre Krise
ausgerufen. Als Erster tat das 1996 Phil-
ippe Sollers in seinem Buch „Guerre du
goût“ (Krieg des Geschmacks). In den
Folgejahren fand das Gefühl des Unter-
gangs der Literatur in Essais von Jean-
Philippe Domecq und Pierre Jourde
Ausdruck. 2005 sagte dann William
Marx „Adieu à la littérature“. Und 2007
blies Tzvetan Todorov den Krisenein-
druck noch einmal zur „großen Gefahr“
auf und rief gar den Notstand aus, bis
dann mit der Todeserklärung in Johan
Faerbers „Après la littérature“ der bis-
herige Gipfel erreicht wurde.
Schwund symbolischer Werte
Dieser Krisendiskurs ist Ausdruck von
Verlusterfahrung und Empörung. An-
toine Compagnon verweist auf die
Pflicht zur „Verteidigung des literari-
schen Wissens“, Nostalgie und Wut mi-
schen sich. Schuld sollen die vier Reiter
der literarischen Apokalypse haben: ers-
tens die digitalen Medien, zweitens die
schlappe Literaturkritik, drittens die
Epidemie des Formalismus, welche die
Literatur ausgeblutet habe, viertens das
Bildungswesen, das vom Collège bis zur
Universität die unheilvollen Theorien
der strukturalistischen Dreieinigkeit
Marx–Saussure–Freud verkünde oder
die des poststrukturalistischen Trios
Barthes–Foucault–Bourdieu.
Ein Grund für den Alarmismus ist
die Inflation der Literatur durch Über-
produktion. Die Verlage publizieren
eine Unzahl von Titeln. Fünfhundert
neue französische Romane werden bei
jedem literarischen Saisonstart auf den
Markt geworfen. Dieses Streben nach
schnellem Profit zieht einen beschleu-
nigten Austausch der Buchsortimente
nach sich: Je mehr Literatur es gibt, des-
to ungewisser ist ihr symbolischer
Wert.
Gleiches zeigt sich im Schulwesen.
Mit dem Abitur als symbolischem Di-
plom der gehobenen Mittelschicht
schlossen zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts gerade mal ein Prozent ei-
nes Schülerjahrgangs ab, heute sind es
in Frankreich achtzig Prozent. Die Lite-
ratur gilt zwar nach wie vor als gemein-
same Basis eines legitimierten Kultur-
verständnisses, was die außerordent-
lich hohen Verkaufszahlen der Klassi-
ker bezeugen. Aber wählten zu Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts 75 Pro-
zent der Absolventen das Abitur mit li-
terarischem Schwerpunkt, ist dieser
Anteil heute auf acht Prozent gefallen:
Je „normaler“ das Abitur wurde, desto
weniger attraktiv wurde die Literatur.
Sie büßte an Bedeutung ein, weil sie
nicht mehr das Mittel zur Distinktion
ist. Das ist die Botschaft hinter der Kri-
sendiagnose.
Ethno, Mytho, Semio, Sozio
Diese Entwicklung hat augenscheinlich
Konsequenzen auf dem Gebiet der äs-
thetischen Vorstellungen und Theorien.
Die Überproduktion erzeugt ein Ge-
wirr auf ästhetischer Ebene: Liebesge-
schichten mit hoher Auflage (von Amé-
lie Nothomb oder Guillaume Musso)
stehen neben femininer und feministi-
scher Literatur (etwa von Annie Er-
naux) oder postkolonialen Büchern wie
etwa „Texaco“ von Patrick Chamoiseau,
der 1992 den Prix Goncourt gewann. Li-
terarische Schulen gibt es nicht mehr.
Die Kritik ist damit beschäftigt, die
Stimmen zu entwirren.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich in
der Literaturtheorie ab. Nach der struk-
turalistischen Welle der sechziger und
siebziger Jahre, die aus der Narratolo-
gie einen nützlichen Werkzeugkasten
machte, hat der Einfluss der Geisteswis-
senschaften zahlreiche neue Theorieop-
tionen hervorge-bracht: neben der Poe-
tik die Genetik, die Soziokritik, die Se-
miostilistik, die Soziopoetik, die Ethno-
kritik, die Ethnostilistik, die Soziologie
des literarischen Feldes, die Mythokri-
tik – und das sind nur einige Beispiele
theoretischer Zugangsweisen.
Die Wortführer des Krisenbefunds
begegnen dem Überangebot von Buch-
markt und Literaturtheorie mit einem
Patentrezept: der Rückkehr zum Kult ka-
nonischer Texte, die aus ihrer Sicht die
„Literatur“ ausmachen, das heißt jene
Literatur, die sie für wahr, schön und
gut halten. Montaigne und Proust nennt
Compagnon als typische Beispiele.
Dem Humanismus gemäß, sollen die
Klassiker es dem Leser ermöglichen,
seiner Existenz einen Sinn zu geben (To-
dorov). Und weil es auch um Program-
me des Bildungswesens geht, eröffnet
das Ideal eine Perspektive der Nostal-
gie, die nach dem „Geist der Nation“
(Compagnon) verlangt. Die Gefahr sol-
cher Argumentationen wird deutlich,
wenn nationale Verschwörungstheo-
rien auf dem Rücken der Literatur aus-
getragen werden. Jean-Paul Brighelli
vertrat 2017 in seinem Buch „C’est le
français qu’on assassine“ die Ansicht,
Frankreich sollte durch den Angriff auf
seine Sprache und Kultur nichts weni-
ger als ermordet werden. Die Globalisie-
rung als Feindbild Nummer eins ist fest
im Blick.
Das Paradox einer prosperierenden
Literatur bei Krisengerede zeigt sich in
dieser Schärfe als neues Phänomen. Die
vermeintliche Krise aber enthüllt die
Absichten derjenigen, die die Deutungs-
hoheit über die Literatur für sich bean-
spruchen. Die Diskussion um den Un-
tergang dernation littérairekann, so ge-
sehen, ein heilsamer Augenöffner sein.
Alain Vialalehrt Französische Literatur an der
Universität Oxford und an der Nouvelle
Sorbonne in Paris. Vor kurzem ist bei Seuil
sein Buch „La galanterie, une mythologie
française“ erschienen.
Kein Fleisch im Essen, was bringt das
der Umwelt? Eine ganze Menge
Geisteswissenschaften:Eine
Soziologie des Wagnerianers
Hinter die Lupe
gesehen
fürAsbjørn Stenmark
aufs postschiff zu warten an einem fjord,
der tief ins land greift, weit hinab bis walhalla,
unter den bergen, wo die rentierfährte
im schnee zu schnapsgläsern erstarrt; wo alle
welt nur zeit ist, der tag das verirrte
talglicht in einer riesenhaften höhle
oder ein tag nie endet. weil das schiff
alles erwachen läßt, sobald die mole
geküßt ist, nicht bloß den salzigen stockfisch
der zeitung bringt, vielmehr als metropole
das rote holzhaus löscht, den gin bringt, den jive,
die bunten lampen und die tanzkapelle.
aufs postschiff zu warten, schon wenn es im milchi-
gen dunst die taue löst, um abzulegen.
und wieder nichts als diese orgelkelche
von eiszapfen, unterm schuh die krachenden algen,
die dunkelheit. so still – du hörst die elche
das salz von den vereisten steigen lecken.
Morgen in
Naturund Wissenschaft
D
ie Bahn fährt naturgemäß auf
Schienen, aber ihre Wege sind
nach wie vor unergründlich. Sie ist
auch sprachlich für manche Überra-
schung gut, mündlich sowieso – eine
aufmerksame Leserin versorgte uns bei
der gedanklichen Vorarbeit für diese
wie immer gutgemeinten Ausführun-
gen mit dem Hinweis, jüngst habe sich
der Durchsager bei den Fahrgästen
sogar schon für deren „Mitarbeit“ be-
dankt; klingt übertrieben, aber der ewi-
gen Geschwätzigkeit immer wieder
neu seine Aufmerksamkeit widmen zu
müssen, kommt ja tatsächlich einer
Arbeitsleistung gleich –; aber auch in
schriftlicher Form häufen sich Vor-
kommnisse, die nach einer Analyse ver-
langen. Abonnenten werden zum Bei-
spiel folgendermaßen willkommen-
geheißen: „Erleben Sie mit uns gemein-
sam die Welt der Bahn und erreichen
Sie dabei einfach und bequem Ihre Zie-
le.“ Das ist natürlich ein Angebot, das
man nicht leichtfertig ablehnt, und es
wäre uns ganz einfach zu billig, hier
jetzt süffisant zu werden: Tja, das mit
dem einfachen und bequemen Errei-
chen unser aller Ziele ist ja schön und
gut, wenn nur die stattliche, offenbar
nicht in den Griff zu kriegende Verspä-
tungsquote von rund 75 Prozent nicht
wäre... Lassen wir das. Was stutzig
macht, das ist die Priorität, welche die
Bahn immer noch glaubt setzen zu dür-
fen: Denn das Ankommen, ob nun
pünktlich oder nicht, ist offensichtlich
nachrangig und erfolgt bloß im Zuge
eines Welt-Erlebnisses, für das sich die
Bahn als solche inzwischen schon zu
halten scheint. Unter der Vorausset-
zung, dass es mit der Behauptung, der
Weg sei das Ziel, ihre Richtigkeit habe,
mag man sich das auch gefallen lassen
- immer noch besser, während der
Fahrt etwas zu erleben, als gar nichts,
und sei es auch nur in der Konfrontati-
on mit den durch anhaltende Unterfi-
nanzierung verursachten, längst folklo-
ristisch gewordenen Mangelerscheinun-
gen, die sämtlich nicht gerade den Duft
von Freiheit und Abenteuer verströ-
men. Wer der Sache philosophisch bei-
kommen will, der schließe einfach Mar-
tin Heidegger mit Arnold Gehlen kurz,
so dass in der Oberstromleitung die
Funken stieben und sich die Lage des
„Kunden“ (früher: des Fahrgastes) fol-
gendermaßen „lichtet“ (Heidegger): In
dem Moment, in dem „der Mensch“
(Gehlen) in die „Welt“ (DB) der Bahn
„hineingeworfen“ (Heidegger) ist, ver-
liert er seine ihm bis dahin so nachteili-
ge Eigenschaft als „Mängelwesen“
(Gehlen) und tritt sie an das Unterneh-
men Deutsche Bahn ab, woraufhin die-
se an sich und an der „Welt“ (DB, Heid-
egger und Gehlen) dermaßen irre wird,
dass sie lauter verkehrte Nachrichten
produziert: „Bahn nutzt Sommerferien
für die Modernisierung.“ Man erinnert
sich noch gut: Früher war Sommerzeit
Bahnzeit. Das ist sie im Prinzip immer
noch, aber nun dergestalt, dass just in
der Reise-„Zeit“ (Heidegger) die meis-
ten Baustellen anfallen. Diese und alle
anderen von der Bahn zu verantworten-
den Unannehmlichkeiten sind deswe-
gen, gut heideggerisch, als das „Seien-
de“, dem menschlichen Verstand Zu-
gängliche, weil ja offen zutage Liegen-
de zu bezeichnen, während die Deut-
sche Bahn selbst, trotz all ihrer Mitteil-
samkeit, das ewig rätselhafte „Sein“
darstellt und deswegen auch jede ge-
dankliche Befassung ins Leere laufen
lässt. edo.
LOS ANGELES, im August
E
ine der jetzt schon eifrig betriebe-
nen Strategien von Donald
Trump zur Diskreditierung sei-
ner potentiellen Gegenkandida-
ten im nächstjährigen Präsidentschafts-
wahlkampf ist ihre Abstempelung als
Sozialisten. Die Rede von „Sozialismus“
ist in den Vereinigten Staaten einerseits
eine Reminiszenz an die ideologisch wohl-
tuend eindeutige Zeit des Kalten Kriegs,
in der es Gräben nur nach außen zu ge-
ben schien, andererseits gerade dadurch
heute ein effektiver Kampfbegriff fürs In-
nere, der die Spaltung der als offen gefei-
erten amerikanischen Gesellschaft weiter
vertieft. Beide dortigen politischen Lager
führen ihre Auseinandersetzung mittler-
weile als Systemkonflikt, der an Erbitte-
rung dem zwischen Ost und West bis
1989 kaum nachsteht. Das Äquivalent auf
demokratischer Seite ist deren genauso
realitätsfremdes Assoziieren der republi-
kanischen Agenda mit faschistischen Phä-
nomenen.
Jede Gelegenheit, in den Vereinigten
Staaten die Ambivalenz solcher politi-
schen Schlagworte vorgeführt zu bekom-
men, ist deshalb wichtig, und eine Instituti-
on, die das seit Jahren zuverlässig tut, ist
das in Los Angeles angesiedelte „Wende
Museum“. Gegründet von dem während
seines Auslandsstudiums über die Trans-
formation Europas nach 1989 begeister-
ten Justinian Jampol, ist das Museum mit
dem deutschen Namen seit 2016 in einem
unscheinbaren, aber ikonischen Bau ange-
siedelt: einem ehemaligen Zeughaus der
Nationalgarde, das kurz nach dem Zwei-
ten Weltkrieg als Widerstandszentrum für
den Fall eines russischen Angriffs auf die
amerikanische Westküste errichtet wor-
den war, inklusive eines Atomschutzbun-
kers, dessen Ausstattung heute nur lächer-
lich wirkt, aber selbst ein prominentes
Sammlungsstück des Wende Museums ge-
worden ist. In der zentralen Ausstellungs-
halle, der Taschen Family Gallery (so be-
nannt nach der deutschen Verlegerfami-
lie, die in Los Angeles ansässig ist und das
Museum kräftig unterstützt), wird derzeit
unter dem Titel „Watching Socialism“
aber eine andere unfreiwillige Skurrilität
des Kalten Kriegs vorgeführt: die staat-
lichen Fernsehprogramme des Ostblocks.
Wie stellt man sie aus? Nun, zunächst
einmal mittels acht Flachbildschirmen an
den Wänden, um die jeweils Stahlgestelle
wie Käfige gebaut sind. Sie zeigen thema-
tische Zusammenstellungen: Kinderpro-
gramm, Quizshows, Sportübertragungen
- die Unterschiede zwischen den als
sozialistische Propaganda legitimierten
Unterhaltungssendungen und ihrer kapi-
talistisch-westlichen Konkurrenz war
marginal, und die Schau kann denn auch
empirisch belegen, dass nicht nur im Os-
ten begeistert Westfernsehen geschaut
wurde, sondern dort, wo es möglich war,
auch im Westen das Programm aus dem
Osten. Die plüschige Einheitsgemütlich-
keit des Fernsehsehens beider Seiten ließ
den Eisernen Vorhang zwischen ihnen pa-
radox erscheinen.
Im Raum selbst sind aber neben Vitri-
nen voller Programmzeitschriften, Porzel-
lanteller mit Abbildungen der repräsen-
tativen osteuropäischen Fernsehtürme
oder Fotos von Wohninterieurs auch
noch fünfzehn alte Fernsehgeräte aus ehe-
dem sozialistischen Haushalten verteilt,
die bisweilen sogar noch funktionstüchtig
sind und, von heute vorsintflutlich anmu-
tenden Videorekordern gespeist, weitere
Programm-Anschauung liefern. Es fällt
auf, dass die meisten dieser Apparate ja-
panische Importe waren, obwohl das wun-
derlichste Gerät der Ausstellung sowjeti-
sche Provenienz aufweist: Gebaut 1955,
wurde das Modell „Ikone“ derart populär,
dass später eine russische Fernsehspiel-
show danach benannt wurde. Sein Bild-
schirm war nicht einmal postkartengroß,
aber serienmäßig bekam der Käufer eine
Vergrößerungslinse mitgeliefert, wie sie
nun auch in Los Angeles davor aufgestellt
ist.
Technisch hatte der Sozialismus die
Nase oft vorne. Die UdSSR startete ihr
erstes Fernsehprogramm schon 1935,
und das osteuropäische Fernsehanstalten-
netz OIRT wurde 1949 begründet, ein
Jahr vor seinem westeuropäischen Pen-
dant EBU. Das DDR-Fernsehen startete
am 21. Dezember 1952 seinen Sendebe-
trieb und kam damit dem bundesdeut-
schen vier Tage zuvor. Allerdings waren
in Ostdeutschland nur wenige hundert
Empfangsgeräte ausgeliefert worden,
weil der Großteil der neu angelaufenen
Produktion als Reparationsleistung an die
Sowjetunion geliefert werden musste.
Ein besonderer Fokus der vom Wende
Museum in Zusammenarbeit mit zwei bri-
tischen Kulturwissenschaftlerinnen von
der Loughborough-Universität konzipier-
ten Schau liegt auf der Rolle des Fern-
sehens beim Zusammenbruch des Ost-
blocks. Natürlich sind die berühmten Auf-
nahmen vom rumänischen Umsturz zu se-
hen (allerdings bewusst nicht die Hinrich-
tung Ceauşescus), und Günter Scha-
bowskis Pressekonferenz zur Öffnung der
Mauer wirkt mit englischen Untertiteln
nicht mehr ganz so unbeholfen. Aber es
wird auch Unbekanntes (oder besser: Ver-
gessenes) vorgeführt wie der von März
1990 an ein Jahr lang betriebene Opposi-
tionssender „Kanal X“ aus Leipzig, der die
Wiedervereinigung skeptisch sah und sie
denn auch nicht lange überlebte. Ansons-
ten zeigt „Watching Socialism“ vor allem,
wie wenig sich nach dem Umbruch von
1989 ändern musste am osteuropäischen
Fernsehprogramm. Ob das für dessen Qua-
lität spricht oder gegen die der Westsen-
der, lässt die Ausstellung offen. Sie zeigt
nur, wie nahe sich die unversöhnlich schei-
nenden ideologischen Gegner waren. Und
das zumindest ist gegenwärtig tröstlich.
ANDREAS PLATTHAUS
Watching Socialism: The Television Revolution in
Eastern Europe.Im Wende Museum, Los Angeles;
bis zum 20. Oktober. Eine knappe Begleitpublika-
tion ist online abrufbar.
Jagd abgesagt
Der umstrittene Film „The
Hunt“ kommt nicht ins Kino
Jan Wagner
norden
Technisch einfallsreich: Wer großes Spektakel auf dem Bildschirm des sowjetischen Fernseh-
modells „Ikone“ haben wollte, setzte die eigens mitgelieferte Lupe davor. Foto Mauritius Images
Wonach der Geist der
Nation verlangt
Franzosen lesen genug, wähnen sich aber unablässig in der
Literaturkrise: Über eine Anomalie Von Alain Viala
Das Rätsel DB
Der Sozialismusschillert nicht, aber flimmern konnte
er durchaus: Das kalifornische Wende Museum
stellt die merkwürdige Fernsehkultur des
Ostblocks aus und ermöglicht so dem
amerikanischen Publikum
ganz neue Eindrücke.
Werbeverheißung: So gemütlich sollte das
Leben 1968 in Ungarn sein. Foto Museum