Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1
Treppab in den Keller, treppauf in die Man-
sarde– beim Berliner Festival „Tanz im Au-
gust“ kommen körperliche und kulturelle
Strapazen zusammen. Zum Opening der


  1. Ausgabe stapfte man erst einmal ins
    dritte Untergeschoss der Akademie der
    Künste am Pariser Platz, dann in die Dache-
    tage des Theaters Hebbel am Ufer, wo des-
    sen kleinste Spielstätte residiert. Dazwi-
    schen lockten zwei Verschnaufpausen zu
    ebener Erde samt Gelegenheit zur Begut-
    achtung allerneuester Performancebla-
    sen.
    Maue Bilanz der Anstrengung: Am gan-
    zen Eröffnungswochenende vermochte
    nur eine einzige Premiere zu überzeugen,
    weitab vom Kreuzberger Festivalzentrum
    in Sankt Elisabeth angesetzt, einem ehema-
    ligen Kirchenraum in Berlin-Mitte. Das me-
    ditative Ambiente fördert offenbar kreati-
    ve Konzentration, während die übrigen
    Auftaktproduktionen abschmierten, ganz
    egal, ob sie von der betagten US-Pionierin
    Deborah Hay oder von vergleichsweise jun-
    gen Choreografen stammten. Unabhängig
    von Geschlecht und Alter der Urheber lässt
    sich festhalten: Die aufmüpfige Avantgar-
    de von gestern ist heute ein Fall für den
    Staubwedel. Ihr Verfall kann allerdings
    durchaus interessante Einsichten besche-
    ren.
    Das Paradebeispiel lieferte Deborah
    Hay, beinahe achtzigjährige Vordenkerin
    des Postmodern Dance und Mittelpunkt ei-
    ner „RE-Perspective“ genannten Werk-
    schau, die das Festival ausrichtet. Hay hat
    ab den Sechzigerjahren einen Perspektiv-
    wechsel angestoßen. Sie musterte choreo-
    grafische Schablonen aus und ermunterte
    Tänzer, ihre eigene Wahrnehmung als
    Werkzeug einzusetzen. Der Ansatz hat die
    zeitgenössische Ästhetik über Jahre hin-
    weg mit überraschenden Twists berei-
    chert. Aus und vorbei, so der ernüchternde
    Eindruck, den Hays Installation „Percepti-
    on unfolds“ im Basement der Akademie
    hinterlässt: vier Leinwände, vier Akteurin-
    nen, vier Mal solipsistisches Zittern, Zau-
    dern, Zagen – ein prätentiöser Leerlauf.


Härter noch fällt der Absturz aus, den
Hays Uraufführung „Animals on the
Beach“ im Haupthaus des Hebbel am Ufer
hinlegt. Dabei spannt die Choreografin ein
Solo davor, das den spielerischen Zauber ih-
rer Kunst begreiflich macht. Wenn die
weißhaarige Lady höchstpersönlich „my
choreographed body... revisited“ ausstellt,
elegant über die Bühne trippelt und traver-
siert, die Stirn in Furchen legt, die Augen
rollt, dann spricht jede Faser ihres Kör-
pers. Dagegen kriegen die fünf Strandläu-
fer, die unmittelbar anschließend auftau-
chen, keinen eigenen Ton zustande. Das
Quintett ergeht sich in bedeutungs-
schwangerem Gefuchtel, einer sklerotisier-
ten Variante Hay’scher Vitalität. Statt origi-
nellen Ideen wird artifiziellen Manieris-
men gehuldigt.
Das Scheitern ist trotzdem aufschluss-
reich, weil es eine Sackgasse des zeitgenös-
sischen Tanzes illuminiert: Bewegungsfor-
schung hat auf der Bühne nichts mehr zu
suchen. Profis dabei zuzuschauen, wie sie
sämtliches Können auf Null stellen, um ihr
methodisches System zu resetten, mag als
pädagogische Studiolektion taugen. Live
entfaltet diese Wartungsarbeit nur ein-
schläfernde Wirkung. Bestenfalls fällt
noch ein Quäntchen historische Erkennt-
nis ab, so zumindest bei „Animals on the
Beach“. Hays Absage an choreografisches
Design offenbart sich als Kehrseite und
Komplement jener balletösen Neoklassik,
deren Hochphase zeitlich damit zusam-
menfällt. Zudem fordert der Titel den Ver-
gleich mit Merce Cunninghams „Beach
Birds“ heraus, einer Choreografie, die
Hays Mentor 1991 herausbrachte. Dank

zeitloser Attraktivität und technischer Er-
dung ist Cunninghams Opus fürs Überle-
ben weitaus besser gewappnet als das fau-
nische Strandspektakel, made in Berlin.
Reichlich retroselig geriert sich auch Ni-
cola Gunns „Piece for Person and Getto-
blaster“. Der Auftritt erinnert an boulevar-
deske Hau-Drauf-Dramaturgien, bestens
bekannt aus allerlei Fernsehformaten und
heute noch von der „ZDF-Heute-Show“ lie-
bevoll kultiviert. Statt Politik hat die Perfor-
merin allerdings Kunst auf dem Kieker, na-
mentlich Events der Kollegin Marina
Abramović und ähnlicher Kaliber. Im Hitze-
stau unter dem Hebbel-Dach turnt die Aus-
tralierin eineinhalb Stunden lang durch
ein Pilates-Aerobic-Zumba-Programm –
und quasselt dabei auch noch ununterbro-
chen. Was kardiokonditionell bewunderns-
wert ist, künstlerisch eher weniger. Glei-
ches gilt für Catherine Gaudets „The Fa-
ding of the Marvelous“, das fünf Unterho-
senträger (m/w/d) durch Technobeats
treibt, die sie mit Voguing, Walzer, kindli-
chem Trotz und ganz viel Slowmotion deko-
rieren. Womit sich die gefühlte Spielzeit
verdreifacht.

Ganz anders das Zeitgefühl bei Eszter Sa-
lamons „Monument 0.7: M/others“ im Kir-
chengeviert von St. Elisabeth. Fast 100 Mi-
nuten dauert das Duo, ohne je zu ermüden.
Salamon hat ihre Mutter um einen öffentli-
chen Körperdialog gebeten: ein Kammer-
spiel, das Symbiose und Ablösung dekli-
niert. Drei mal drei Meter misst die weiß be-
spannte Spielfläche, auf der sich Mutter
und Tochter begegnen. Zunächst ohne
Sichtkontakt, hocken sie Rücken an Schul-
ter beieinander. Bis sie in einen Bewe-
gungsfluss hineingleiten und zu einem Or-
ganismus verschmelzen: Sohle an Sohle,
Stirn an Stirn, Kopf im Schoß des Gegen-
übers, das Gesicht an seiner Schulter gebor-
gen.
Unter der Oberfläche dieses harmoni-
schen Wellenspiels findet ein feines Kräfte-
messen statt, ein Austarieren von Macht,
eine Grenzziehung zwischen Ich und Du.
Der Fuß, der mit provozierender Langsam-
keit ins Gesicht der Tochter wandert, de-
ren Faust wiederum das Knie der Mutter
blockiert – Salamon findet ungemein be-
redte Bilder für das Beziehungsgeflecht.
Das ringsum am Boden verteilte Publikum
betrachtet sie in atemloser Stille. Beobach-
tet das wechselseitige Tasten nach Schutz,
Geborgenheit und Vertrauen, das jenseits
aller Zerwürfnisse wiederkehrt. Die Intimi-
tät dieser Vorgänge ist beklemmend und
befreiend zugleich. Sie lässt diesen kleinen
Abend über sich selbst hinauswachsen, zu
großer Kunst. dorion weickmann

von isabel pfaff

F


redi M. Murer grinst ins Treppen-
haus hinunter. „77 Stufen, schaffen
Sie das?“ Der Schweizer Filmema-
cher empfängt auf Strümpfen, ein kleiner,
alter Mann mit buschigen Augenbrauen
und sanfter Stimme. 77 Stufen: Murer mag
es genau. Als er durch seine verwinkelte
Atelierwohnung in der Zürcher Altstadt
führt, nennt er Baujahre, erzählt von den
Nonnen, die hier einst schliefen, holt sogar
ein Modell der Wohnung hervor, das er
selbst gebaut hat. Er zeigt auf die Ecken.
„Hier gibt es gar keine rechten Winkel.“
Mehr noch als Genauigkeit liebt Fredi
Murer das Abweichen. Vielleicht, weil es
den Künstler Murer sonst nicht gäbe.
Der Filmemacher setzt sich an seinen
kleinen Küchentisch, draußen wärmt die
Augustsonne den begrünten Balkon. Er
verbringt viel Zeit in dieser Wohnung, sich-
tet sein Archiv, digitalisiert seine Filme. Er
betrachtet sich als Regisseur im Ruhe-
stand, sein 2014 veröffentlichter Film „Lie-
be und Zufall“ sollte der letzte sein. Ins Ki-
no geht er nicht mehr, auch nicht auf Festi-
vals. Er habe „eine Überdosis Film“ in sei-
nem Leben gehabt, sagt er.
In ein paar Tagen wird Murer aber eine
Ausnahme machen. Das Filmfestival Locar-
no ehrt ihn am 15. August mit dem Pardo al-
la carriera, dem Preis für sein Lebenswerk.
Als „Schlüsselfigur des unabhängigen
Schweizer und internationalen Films“, als
„freien und visionären Künstler“, der das
schweizerische Filmschaffen geprägt ha-
be, bezeichnen ihn die Festivalmacher.
Murer lächelt vorsichtig. „Das freut mich
schon“, sagt er schließlich. Und erzählt von
seinen Weggefährten, von Markus Im-
hoof, Alain Tanner, Xavier Koller, Yves Yer-
sin: einer Generation von autodidakti-
schen Filmemachern, die das Schweizer Ki-
no in den Siebzigern zu erneuern began-
nen, die brechen wollten mit dem Klischee
vom intakten Käse-, Schokolade- und Hei-
diland. Murer will den Preis dieser Genera-
tion widmen. „Wir haben sozusagen Filme
aus dem Nichts gemacht.“

Filme aus dem Nichts – vor allem aber
quer durch die Genres, ohne Rücksicht auf
Normen. Murers Werk umfasst experimen-
telle Kurzfilme, Spielfilme, Dokumentarfil-
me, sogar Science-Fiction. In ihrer Vielfalt
haben seine Filme etwas Anarchisches,
und auch seine Figuren, fiktional oder
nicht, eint ihr Wille, sich aufzulehnen oder
aus ihren Welten zu fliehen. Immer wieder
spürt Murer diesen Ausreißern nach –
wahrscheinlich, weil er selbst einer ist.
1940 als jüngstes von sechs Kindern im
Kanton Nidwalden geboren und in Uri auf-
gewachsen, stammt Murer aus jenem starr-
köpfigen, konservativen Herzen der

Schweiz, das als Keimzelle der Eidgenos-
senschaft gilt. Als Kind hat er schwere Le-
gasthenie, doch die Geistlichen, die da-
mals in den Urner Schulen herrschen, ha-
ben keine Ahnung von dieser angeborenen
Störung. Murers Diktate und Aufsätze
kommen als „rote Schlachtfelder“ zurück,
er muss auf Holzscheiten knien, verbringt
unzählige Nachmittage mit Strafarbeiten.
Dass er Handorgel spielt und wunderbar
zeichnet, interessiert seine Lehrer nicht.
Bis zum Ende erlebt Murer die Schulzeit
als eine Ansammlung von Kränkungen
und Missverständnissen. Zur Rettung wird
ihm sein Elternhaus, ein weltoffener Hand-
werkerhaushalt.

Murers Vater ist ein schweigsamer
Schreiner, der mehrere Jahre in Nord- und
Südamerika verbracht hat und schließlich
in die Schweiz zurückgekehrt ist, seine
Mutter eine Schneiderin, die ihm nicht nur
einbläut, niemals ein Angestellter zu wer-
den, sondern sich auch an Sonntagen die
Freiheit nimmt, den ganzen Tag zu lesen.
Beide sind Freigeister in einem sonst ka-
tholisch und autoritär geprägten Milieu.
Sie verstehen, dass ihr Sohn dieser Welt
entfliehen muss. Mit 17 Jahren zieht Murer
nach Zürich. Er macht eine Ausbildung an
der Kunstgewerbeschule, zunächst im
Fach wissenschaftliches Zeichnen, dann
wechselt er zur Fotografie. Er findet Gleich-
gesinnte, beginnt mit dem Filmen. Die frü-
hen Werke sind experimentell, Murer
dreht kurze Stummfilme oder surreale
Künstlerporträts. Für „Vision of a blind
man“ (1968) filmt er einen Tag lang mit ver-
bundenen Augen.
Heftiger könnte der Kontrast zu seiner
Herkunft in diesen Jahren kaum sein. Und
doch sagt Murer heute: „Die frühe Kind-
heit ist viel prägender als man es wahrha-
ben möchte.“ Er führt seine anarchischen
Arbeiten auf genau jenen Zorn zurück, den
die Urner Lehrer mit ihren Demütigungen
in ihm entfacht haben: ein Zorn auf Schule,
Obrigkeit, und, ja, auch auf die offizielle
Schweiz. Er kehrt seinem Land in den Jah-
ren darauf oft den Rücken; frustriert von
dem Unverständnis, das ihm entgegen-
schlägt, verbringt er Zeit in Frankreich,
England, den USA.
Doch Fredi Murer ist nicht nur ein Aus-
reißer, er ist auch ein Rückkehrer. Wie ein
Fremder, der aber die Sprache der Einhei-
mischen spricht, nähert er sich in den Sieb-
zigern seiner innerschweizerischen Hei-
mat wieder an – und setzt ihr ein unsenti-
mentales und doch poetisches Denkmal.

Als er für ein Filmprojekt über Urner Sa-
gen recherchiert, stellt er fest, dass die Sa-
genwelt in dem Bergkanton kaum noch ei-
ne Rolle spielt. Er dreht schließlich einen
Dokumentarfilm über die traditionelle
Landwirtschaft in Uri und die beginnende
Industrialisierung, die die alten Lebensmo-
delle verdrängt. In schlichten Bildern ohne
Spielereien erzählt „Wir Bergler in den Ber-
gen sind eigentlich nicht schuld, dass wir
da sind“ (1974) die Geschichte einer Bergbe-
völkerung im Wandel. In ähnlicher Einfach-
heit dokumentiert Murer gut 15 Jahre spä-
ter den Kampf einer Gemeinde im Kanton
Nidwalden gegen ein geplantes Atomendla-
ger. „Der grüne Berg“ (1990) ist angelegt
als eine „Landsgemeinde“, also als filmi-
sche Form der traditionellen schweizeri-
schen Meinungsbildung.
Sicherlich der Höhepunkt seines Schaf-
fens ist „Höhenfeuer“ (1985), eine wortkar-
ge Liebesgeschichte zwischen einem gehör-
losen Jungen und seiner Schwester, die iso-
liert auf dem elterlichen Hof in den Urner
Bergen aufwachsen und letztlich diese Iso-
lation aufbrechen. Ähnlich wie in den bei-
den Dokumentarfilmen achtet Murer auch
bei „Höhenfeuer“ auf fast schon ethnogra-
fische Genauigkeit. Mit seinem Kamera-
mann Pio Corradi gelingt ihm so ein fein-
sinniges Meisterwerk, das 1985 in Locarno
mit dem Goldenen Leoparden ausgezeich-
net wird. Noch 2014 wählen ihn die Mitglie-
der der Schweizer Filmakademie zum bes-
ten Schweizer Film aller Zeiten. An dem
Zürcher Küchentisch zeigt Murer sein „Hö-
henfeuer“-Drehbuch. Der Ordner enthält
nur wenige Textseiten, dafür ein umfang-
reiches Storyboard. Stills der später ge-
drehten Szenen kleben neben Murers
Zeichnungen: Sie sind fast identisch. „Poe-
sie hat viel mit Genauigkeit zu tun“, sagt er.
Ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Ro-
bert Walser, aber auch seines eigenen Va-
ters, eines „genialen Handwerkers“.

Seine Herkunft sollte Fredi Murer nicht
mehr loslassen. Sein Abschiedsfilm „Liebe
und Zufall“ (2014) ist eine Hommage an sei-
ne Eltern, und auch in „Vitus“ (2006), der
Geschichte über einen hochbegabten Jun-
gen, wimmelt es von Spuren seiner Kind-
heit: Vitus’ Großvater ist Schreiner und
gibt seinem Enkel Weisheiten mit, die
Murer von seinem Vater erhalten hat. Und
Vitus darf im Film Dinge tun, von denen
der kleine Fredi Murer immer geträumt
hat: Klavierspielen oder an der Börse wahn-
sinnig viel Geld verdienen.
Wenn Murer nun noch einmal nach Lo-
carno zurückkehrt, tut er es als sehr schwei-
zerischer Filmemacher, als „local hero“,
wie er mit einem Zwinkern sagt, der der
Welt die entlegensten Winkel dieses Lan-
des gezeigt und erklärt hat. Er hat damit
seinen Frieden gemacht.

In Griechenland sind zwei intakte Grab-
stätten ausdem zweiten Jahrtausend
vor Christus entdeckt worden. Die voll-
ständig erhaltenen Grabkammern hät-
ten die Gebeine von 14 Personen enthal-
ten und seien nahe der Stadt Nemea im
Süden des Landes ausgegraben worden,
teilte das Kulturministerium mit. Ver-
mutlich seien sie zwischen 1400 und
1200 vor Christus aus anderen Gräbern
dorthin umgebettet worden. Unweit des
Fundortes, auf dem sogenannten Aido-
nia-Gräberfeld, wurden seit den Siebzi-
gerjahren zahlreiche Gräber gefunden,
die geplündert waren. Immerhin wurde
noch Schmuck entdeckt. Bei einer Aukti-
on in New York tauchte 1993 weiterer
antiker Schmuck auf, der ebenfalls aus
Aidonia stammte. Er wurde an Griechen-
land zurückgegeben. ap

Nach den Massakern in El Paso und
Dayton ist die Veröffentlichung eines
Films mit Schauspielerin Hilary Swank
vom Studio gestoppt worden. „Wir ver-
stehen, dass jetzt nicht der richtige
Zeitpunkt ist, um diesen Film zu veröf-
fentlichen“, teilte Universal mit. „The
Hunt“ ist als satirischer Thriller ange-
legt und sollte im September starten.
Darin jagen Menschen andere Leute
zum Spaß. US-Präsident Donald Trump
schien „The Hunt“ am Freitag auf Twit-
ter zu kritisieren, ohne den Titel zu
nennen. Trump sagte, der Film würde
Chaos schüren und Gewalt provozieren.
Der Präsident hatte mit seiner Rhetorik
zuletzt Rassismusvorwürfe auf sich
gezogen und steht nach den Massakern
selbst in der Kritik. dpa

Dann gibt es doch noch


große Kunst: Eszter Salamons


Körperdialog mit ihrer Mutter


Bei den Verhandlungen des Bundes
sowie der Länder Berlin und Branden-
burg mit den Hohenzollern ist nach
Ansicht der Brandenburger Landesre-
gierung keine Einigung absehbar. „Zur-
zeit liegen die Verhandlungspositionen
immer noch sehr weit auseinander“,
erklärte Kulturministerin Martina
Münch (SPD) in der Antwort auf eine
Anfrage aus der CDU im Landtag. Das
Haus Hohenzollern fordert die Rückga-

be von Kunstgegenständen, ein Wohn-
recht in Schloss Cecilienhof, Schloss
Lindstedt oder der Villa Liegnitz in Pots-
dam sowie 1,2 Millionen Euro Entschädi-
gung vom Land Brandenburg. Ende Juli
wurden die Verhandlungen ergebnislos
vertagt. Bei den Gesprächen geht es der
Landesregierung zufolge um Kunst-
und Sammlungsgegenstände, die sich
unter anderem bei der Stiftung Preußi-
scher Kulturbesitz befinden. Die Lan-
desregierung will den umfassenden
Zugang zu den Kunstwerken auch künf-
tig gewährleisten. dpa

Poesie hat viel
mit Genauigkeit

zu tun


1940 wird Fredi M.
Murer im Kanton
Nidwalden geboren.
In Uri wächst er auf,
inmitten der Schweiz-
klischees. Er hat
seinen Frieden mit
dem Land gemacht.
FOTO: PICTURE ALLIANCE /
KEYSTONE
Szene aus „Animals on the Beach“, dem
neuen Stück der fast 80-jährigen US-Pio-
nierin Deborah Hay. FOTO: CAMILLE BLAKE

Jenseits von Heidi


Chronisteiner anderen Schweiz: Das Filmfestival Locarno ehrt den


Regisseur Fredi M. Murer für sein Lebenswerk. Ein Besuch


Vermutlich wurde kaum eine Band so


bedingungslos geliebt wie dieBeatles.


Nur so ist zu erklären, mit welch eifer-


süchtiger Geringschätzung Fans jene


Frauen bedachten, die es wagten, einen


der Fab Four zu heiraten. Yoko Ono


wirft man bis heute vor, die Beatles auf


dem Gewissen zu haben. AuchLinda


McCartney, geborene Eastman, Toch-


ter aus gutem Hause und anerkannte


Fotografin, wurde überkritisch beäugt,


nachdem sie als Keyboarderin und Sän-


gerin bei denWingseingestiegen war.


Was wäre die nur ohne Paul? Es kursier-


ten Live-Bootlegs mit ihrer isolierten


Gesangsspur, um zu beweisen, wie


limitiert ihre Stimme sei. Als 1998, kurz


nach ihrem frühen Tod, ihr erstes und


einziges Soloalbum „Wide Prairie“ her-


auskam, war die Kritik einhellig: Ihr


Gesinge, befand zum Beispiel derGuar-


dian,sei besser im Badezimmer aufge-


hoben. Nun wurde das Album neu auf


Vinyl aufgelegt. In den 16 Titeln, aufge-


nommen zwischen 1972 und 1998,


kommt man einer Frau näher, die sich


trotz aller öffentlichen Missbilligung


eine ansteckende Unbekümmertheit


bewahrt hat. Deren Vielseitigkeit er-


staunt. Sie covert alte Fifties-Klassiker


(„Poison Ivy“), schunkelt zum Reggae-


Beat von Lee Scratch Perry („Sugarti-


me“), streift Glamrock und Country und


teilt gegen ihre Kritiker aus: „You say


I’m simple / You say I’m a hick / You’re


fucking no one /
You stupid dick“.
Was ihr ein Warneti-
kett für anstößige
Sprache auf ihrem
Album einbrachte.
Recht hatte sie
trotzdem.

Als sich der amerikanische Philosoph


Henry David Thoreau 1845 für zwei


Jahre in eine einsame Hütte am Walden


Pond, Massachusetts, begab, um im


Einklang mit der Natur das wahre Le-


ben zu finden, prägte er unwissentlich


einen Topos, der später in der America-


na-Musik stilbildend werden sollte: der


Rückzug des desillusionierten Song-


schreibers in die Einsamkeit, auf dass


er hernach geläutert mit neuem Feuer


zu Werke schreite. Was Bob Dylan ein


Haus in Woodstock war, wo 1967 die


„Basement Tapes“ entstanden, das war


für Jim James, Sänger und Gitarrist der


BandMy Morning Jacket, eine alte


Farm in Shelbyville, Kentucky. Sie dien-


te 1999 als Aufnahmestudio für „The


Tennessee Fire“, das fulminante Debüt-


album der Band. Jetzt liegt es in einer


Jubiläums-Version (Dreifach-Vinyl) vor.


Lange, bevor dieFleet Foxesin jenseiti-


gen Folk-Chorälen schwelgten, öffnete


James einen Hallraum, der Vergangen-


heitsbeschwörung und Seelenerkun-


dung zugleich war. Seine Songs, die mal


an alte Hillbilly-Weisen gemahnen, mal


an scheppernden Country-Rock, wirken


dabei kein bisschen gestrig, da sie sehr


zeitlos eine sehr alte Frage umkreisen,


die die Sinnsuchenden der Welt seit je


umtreibt: Wo gehöre ich hin, wo ist


mein Platz? Seinen sirenengleichen


Gesang ließ James dafür eigens in ei-


nem leeren Getreidesilo aufnehmen


und legte über alles so viel Hall, dass


man beim Hören glaubt, in einer Kathe-


drale zu stehen. Man muss schon ein


Herz aus Stein haben, um davon nicht


berührt zu werden. Auf ihren späteren


Alben erweiterten My Morning Jacket


ihr Repertoire in
Richtung Psychede-
lia, Dub und Experi-
mentelles und fes-
tigten ihren Ruf als
einer der originells-
ten Rockbands
ihrer Generation.

Robert Sheff alias„Blue“ Gene Tyran-


nywird kaum jemandem ein Begriff


sein, dabei hat sich der Texaner als


Pianist, Arrangeur und Komponist Neu-


er Musik durchaus einen Namen ge-


macht, hat mit Laurie Anderson, John


Cage und der Jazzpianistin Carla Bley


zusammengearbeitet, einmal hat er fast


einen Grammy gewonnen. 1973 sprang


er sogar kurzzeitig als Live-Pianist bei


Iggy & The Stoogesein. Der Mann konn-
te nicht nur E, sondern auch U. Was er


fünf Jahre später eindrucksvoll auf


seinem jetzt wiederveröffentlichten


Debüt „Out Of The Blue“ unter Beweis


stellte, einem der wundersamsten Al-


ben der Siebzigerjahre. Sheffs Idee war,


ein Pop-Album aufzunehmen mit den


Mitteln der Avantgarde. Dazu schrieb er


einen Zyklus aus vier Stücken, die sich


Genrezuordnungen widersetzen. „Next


Time Might Be Your Time“ mag als


Folkballade daherkommen, wären da


nicht die Synthesizerakkorde, die unvor-


hersehbaren Melodiewechsel und das


Steely-Dan-mäßige Saxofon. Das Instru-


mental „For David K.“ ist komplexe


Groove-Kunst ohne anstrengende Solo-


Angebereien. Die Piano-Komposition


„Leading A Double Life“ für zwei So-


pranstimmen wiederum verbindet


Elemente des Gospel mit neuer Kam-


mermusik. Vollkommen ins Driften


gerät das Album bei „A Letter From


Home“, einem 25-minütigen Tonge-


dicht mit zwei Erzählstimmen, die sich


mit auf- und abtauchenden Melodien


und wiederkehrenden Gesangsmotiven


verbinden, ganz so, als drehe jemand


langsam am Sender-
knopf eines Radios.
Auf einem Fre-
quenzband, das
nicht von dieser
Welt scheint.
thomas
bärnthaler

Her mit


dem Staubwedel


Fader Auftakt des Berliner Festivals „Tanz im August“


In der Schule
muss er auf

Holzscheiten knien


Die Tanzveteranin Deborah Hay


zeigt die Uraufführung von


„Animals on the Beach“


10 HF2 (^) FEUILLETON Dienstag,13. August 2019, Nr. 186 DEFGH
Hohenzollern-Streit
Eine Szene aus dem Film „Höhenfeuer“, der zu den Höhepunkten in Murers Schaffen zählt. FOTO:IMAGO IMAGES / UNITED ARCHIVES
RETROKOLUMNE
Griechische Gräber
KeinStart für „The Hunt“
KURZ GEMELDET

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