Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1

Dass an diesem Nachmittag nur ein Dut-


zend Zuschauer zu ihrer Show gekommen


ist, stört Njambi McGrath nicht. Die Ener-


gie, mit der die kenianische Stand-up-Co-


medienne beim Edinburgher Fringe Festi-


val ihr Programm „Accidental Coconut“


präsentiert, würde für eine Halle reichen.


Stattdessen erzählt sie in einem kleinen


Kellergewölbe in der Blair Street ihre


Lebensgeschichte als Kind eines Paares,
das von der britischen Kolonialmacht wäh-


rend des Mau-Mau-Aufstands interniert


wurde, und zugleich die Geschichte ihres


Heimatlandes. Das ist nicht nur oft sehr


komisch, es ergeben sich auch erstaunli-


che Parallelen zur britischen Gegenwart:


„Die Briten fragten uns: Was wollt ihr über-


haupt? Wir antworteten: Wir wollen Unab-


hängigkeit, Kontrolle über unsere eigenen


Grenzen und Gesetze. Da haben sie sich


wohl ein paar Notizen gemacht.“ Tatsäch-


lich klingt das verdächtig nach der Argu-


mentation, mit der die Brexit-Befürworter


2016 das EU-Referendum gewannen.


Der Edinburgh Fringe, einst als Randver-

anstaltung des Internationalen Kulturfesti-


vals in der schottischen Hauptstadt ent-


standen, hat dieses zumindest von seiner


programmatischen Vielfalt her schon lan-


ge hinter sich gelassen. Jede noch so kleine


Butze wird zum Aufführungsort aufgewer-


tet. Auf den Straßen versuchen junge Men-


schen meist gut gelaunt, bisweilen auch


schon ein bisschen verzweifelt, Passanten


Flugblätter für ihre Fringe-Shows in die


Hand zu drücken. Es ist nicht leicht, auf


sich aufmerksam zu machen.


In der Regel lautet das Schlagwort, das

hilft, aus der Unzahl von Shows herauszu-


stechen, natürlich: Sex. In diesem Jahr
funktioniert auch ein anderes: Brexit. 2019
ist ja nicht irgendein Jahr, denn das Verei-
nigte Königreich steuert scheinbar unauf-
haltsam auf einen ungeregelten Austritt
aus der EU zu. Über diese Katastrophe mit
Ansage zu lachen scheint für viele die ge-
sündere Alternative zu schierer Verzweif-
lung – gerade in Schottland, das überwie-
gend für den Verbleib in der EU stimmte.
So können sich zum Beispiel die Macher
des kleinen, offenkundig mit heißer Nadel
gestrickten Musicals „Now That’s What I
Call Brexit“ über hervorragende Ticketver-
käufe freuen. Eine sechsköpfige Truppe
namens „Blowfish Theatre“ rast mit mini-
malem Produktionsaufwand und maxima-
lem Albernheitsfaktor in einer Stunde
durch die gesamte jüngere britische Ge-
schichte, von David Camerons Entschluss,
ein Referendum abzuhalten, bis zur Wahl
Boris Johnsons zum Premierminister – ei-
ne Wahl durch „ungefähr 1000 alte Frauen

aus Surrey mit lila gefärbtem Haar“, wie
Johnson selbst im Stück triumphierend
anmerkt.
Gut weg kommt dabei, wie zu erwarten,
niemand. Der derzeitige Vize-Premier Mi-
chael Gove ist eine intrigante Kröte. There-
sa May – mit besonders kreischigem Elan
von Blowfish-Gründer Kyle Williams ge-
spielt – wird von Jacob Rees-Mogg im Sado-
maso-Stil auf einen harten Brexitkurs
getrimmt. Labour-Chef Jeremy Corbyn
verspricht in einer Grime-Nummer als
Lösung „Onkel Jeremys extrem schlaue
Brexit-Mindfuck-Matrix“, und Brexit-Mi-
nister David Davis mahnt: „Bloß nicht zu
sehr mit der Realität aufhalten!“
Das Ganze mündet in einer Koalition
zwischen Michael Gove und Scharfmacher
Nigel Farage; Boris Johnson wird zum Kö-
nig gekrönt. Eine Prognose, die angesichts
der derzeitigen politischen Lage immer we-
niger wie Satire erscheint. Jeder hat seinen
eigenen Zugang zum Brexit-Komplex. Der

Komiker Patrick Monahan etwa erzählt in
seinem Programm „Started from the Bot-
tom, now I’m here“, dass er wegen der ira-
kisch-iranischen Herkunft seiner Mutter
nicht mehr in die USA einreisen dürfe. Er
tröstet sich damit, dass der irische Pass,
den er dank seines Vaters hat, ihm aber
immerhin weiter Reisefreiheit in der EU ga-
rantiere, während die britischen Kollegen
sich künftig am Flughafen in eine deutlich
langsamere Schlange werden einreihen
müssen. Und der seit 2002 in Großbritanni-
en lebende deutsche Komiker Henning
Wehn bemerkt in seinem Programm „Get
on with it“: „Der Brexit setzt Bismarcks
Politik der Isolation Großbritanniens end-
lich in die Tat um.“
Ob es wirklich so kommt, wird man bald
sehen; jedenfalls haben die Edinburgher
Festivals wegen des drohenden harten Bre-
xits schon jetzt mit ernsthaften Problemen
zu kämpfen. Erstmals haben zahlreiche
Künstler im Programm des EIF auf einer

Auszahlung ihrer Gage in Euro oder Dollar
statt in Pfund bestanden. Nach dem Auf-
stieg Boris Johnsons zum Premierminister
sackte die britische Währung auf ihren
tiefsten Stand seit mehr als zwei Jahren.
Laut EIF-Direktor Graham Linehan ist die
Planung der künftigen Festivals durch die
Brexit-Unsicherheit komplizierter gewor-
den: „Ich bin sicher, dass das alles für Fa-
brikbetreiber noch viel schlimmer ist, aber
unsere Planungsgespräche schreiten
schon seit sehr Langem nicht mehr voran“,

so Linehan. Dem Fringe-Festival wieder-
um droht der Verlust eines Investments
von 20 Millionen Pfund durch den ameri-
kanischen Zirkusveranstalter „Spiegel-
world“. Die Produktionsfirma mit Sitz in
Las Vegas zeigt in diesem Jahr die erste von
fünf Produktionen, die bis 2024 in Edin-
burgh Premiere feiern sollten. Nun gibt es
ernsthafte Überlegungen, die übrigen
Shows nach Berlin oder Paris zu verlegen.
Wie beim Fringe spielt der Brexit auch
im Programm des EIF eine Rolle, unter an-
derem in „Peter Gynt“, der großen Kopro-
duktion des Edinburgh International Festi-
val mit dem Londoner National Theatre.
Der Dramatiker David Hare hat eine Neu-
fassung von Henrik Ibsens „Peer Gynt“ be-
sorgt und die Handlung nach Schottland
verlegt. James McArdle liefert in der
Titelrolle als „Geschäftsmann-Philosoph
der Selbstverwirklichung“ im Verlauf von
dreieinhalb Stunden eine darstellerische
Glanzleistung brillanter und dabei nie
gänzlich unsympathischer Egomanie ab.
Hare ist schon immer einer der poli-
tischsten englischen Gegenwartsdramati-
ker gewesen; bereits vor zwei Jahren

schrieb er das Brexit-Kurzdrama „Time to
leave“. In „Peter Gynt“ sind die Bezüge
subtiler, aber dennoch deutlich lesbar. Als
etwa in der Halle des Bergkönigs die
schweinsnasigen Trolle sich beschweren,
Gynt sei es nicht wert, in ihre Reihen aufge-
nommen zu werden, mahnt der Bergkönig
selbst: „Wir müssen nehmen, was wir krie-
gen können – wir verhandeln hier nicht
aus einer besonders starken Position her-
aus!“ Ein Satz, wie er in 10 Downing Street
im Verlauf der Austrittsverhandlungen
mit der EU hinter verschlossenen Türen
sicherlich mehr als einmal fiel.
Bei der berühmten Szene, in der Gynt
sich mit einer Zwiebel vergleicht, die „viele
Schichten, aber keinen Kern hat“, denkt
man unwillkürlich an den Politikscharla-
tan Boris Johnson. Wie Gynt hat er seiner
eigenen Ambition alles andere untergeord-
net – das Wohlergehen seiner Mitbürger,
die Zukunft seines Landes. Was beide un-
terscheidet, ist Gynts Erkenntnis der Leere
seiner Traumwelt – auf einen solchen
Geistesblitz dürfte man bei Johnson ver-
geblich hoffen.
Überhaupt schwindet die Hoffnung auf
einen einigermaßen guten Ausgang der
Brexit-Story rapide. Wahrscheinlich ist es
die letzte Edinburgher Saison, in der die
Festivals innerhalb der EU stattfinden.
Aber trotz aller politischen Widrigkeiten
werden sie natürlich auch im kommenden
Jahr die Stadt wieder mit Menschenmas-
sen füllen. So ist es schließlich eine Installa-
tion des chilenischen Künstlers Alfredo
Jaar, die diese Stimmung vielleicht am
besten einfängt: Jaar hat an der Gebäude-
brücke zwischen dem Scottish National
Museum und dem Old College der Universi-
tät einen Neonschriftzug angebracht. Es
ist ein Zitat aus Samuel Becketts Roman
„L’Innommable“: „Ich kann nicht weiter-
machen. Ich werde weitermachen.“
alexander menden

„Wir müssen nehmen, was wir kriegen können“


Der Brexit ist der Subtext des Edinburgh Festivals, ob auf Comedy-Bühnen oder im Theater. Das sinkende Pfund belastet zudem die künftige Programmplanung


Das Warten, das ist die gute Nachricht, ist
noch nicht zu Ende. Die weniger gute: Als
einer der letzten Titanen in der Literatur
des 20. Jahrhunderts ist jetzt auch J. D. Sa-
linger gefallen; seine Bücher werden
demnächst wie die Bücher aller anderen
Autoren totaldigitalisiert und als E-Book
zu haben sein. Sie werden nichts Neues
bieten, denn der Autor hatte seit 1965
nichts mehr veröffentlicht. Allerdings
scheint sich das lange genährte Gerücht zu
bestätigen, dass Salinger auch noch weiter
geschrieben habe, nachdem er sich in ein
festungsartiges Haus in New Hampshire
zurückgezogen hatte und vom Literatur-
betrieb nichts mehr wissen wollte.
Die Handschrift Salingers verweigert
sich der Erfassung durch ein Lesegerät.
Der Sohn und Nachlassverwalter Matt Sa-
linger ist deshalb dabei, die hinterblie-
benen Manuskripte seines Vaters langsam
zu transkribieren. Stück für unbekanntes
Stück soll dieser Nachlass veröffentlicht
werden. Max Brod wird natürlich wieder
mal fällig, der sich dem dringlichen
Wunsch seines Freundes Franz Kafka, alle
seine Manuskripte zu verbrennen, wider-
setzt hat. Wenn Brod diesen letzten Willen
nicht übergangen hätte, gäbe es Kafkas Ta-
gebücher nicht und nicht den „Verscholle-
nen“ und den „Prozess“ schon gar nicht.

Salinger, der im Januar 2010 mit 91 Jah-
ren starb, wollte kein Autodafé, aber er
hasste Computer und wetterte mit heideg-
gerschem Ingrimm gegen alle technologi-
schen Erfindungen der Neuzeit, insbeson-
dere gegen das Internet. Sein Sohn erzählt,
wie er den Vater behutsam an Facebook
heranzuführen versucht habe, der aber
schlicht „entsetzt“ gewesen sei bei der Aus-
sicht, damit seine so ängstlich gehütete Pri-
vatsphäre beeinträchtigt zu sehen. Es sei
„sonnenklar“, gibt Matt Salinger im Ge-
spräch mit derNew York Timeszu, dass
sein Vater E-Books und Hörbücher nicht
haben wollte. Trotzdem setzt sich „Matt
Max“ darüber hinweg. Warum?
So schwer es fällt, sich das einzugeste-
hen, Salinger ist zwar nach 65 Millionen
verkauften Exemplaren seines berühmtes-
ten Buches immer noch ein weltbekannter
Autor, aber insbesondere „Der Fänger im
Roggen“, 1951 erschienen, hat mit den Jah-
ren stark gelitten. Wen interessieren noch
die Probleme eines reichen Jünglings, der
aus seinem teuren Internat nach New York
ausreißt, auf die Enten im Central Park
starrt, seine ferne Schwester anschwärmt
und in diesem sehr jugendlichen Manichä-
ismus zwischen „aufrichtig“ und „verlo-
gen“ lebt? Es kommen keine Drogen vor,
keine großmannssüchtigen Sprüche, kei-
ne Markenklamotten, keine Sexpartys, es
ist nur reiner existenzialistischer Puber-
tätshorror. Und der Autor, er ist auch in
Misskredit geraten, sein Faible für junge
Mädchen, diese Übergriffigkeit, von der
inzwischen berichtet wird, sein Menschen-
hass. Hat Salinger der „Me too“-Gesell-
schaft überhaupt noch was zu sagen? Der
Sohn und Erbe ist davon überzeugt und ver-
weist auf eine über achtzigjährige Leserin,
die ihn regelrecht angefleht habe. Sie wolle
vor ihrem Tod noch etwas aus dem Nach-
lass zu lesen bekommen. Seinen Vater
hätten solche Briefe bestimmt gerührt,
meint der Sohn. Vielleicht. Holden Caul-
field jedenfalls wäre dazu nur eingefallen:
„phoney“, verlogen. willi winkler

von wolfgang schreiber

A


chim Freyers Ödipus-Bühne in der
Felsenreitschule liegt im Dunkeln,
als die Wiener Philharmoniker un-

ter Ingo Metzmacher die spätromantisch


herben Klangfelder des rumänischen


Komponisten George Enescu (1881 –1955)


zu formen beginnen. Auf der Bühne zuckt


ein strampelndes Baby mit übergroßem


Kopf, irrlichtern verstreute Schemen von


allerlei Gestalten um die verhüllten, später


bunt aufleuchtenden Felsarkaden. Die


Kindheit des Vatermörders Ödipus ent-


hüllt sich wie ein Traum – scheinbar kein


Gedanke an den „Ödipuskomplex“, mit


dem Sigmund Freud das Geheimnis der


ersten sexuellen Regung unserer Kindheit


aufhellte, die Tat-sache, dass wir den Vater


morden, die Mutter heiraten wollen.


Diese Felsenreitschule ist der magische

Ort der Salzburger Festspiele. Der ideale


Raum für Achim Freyer, den Maler, Regis-


seur und universalen Bühnenkünstler. Mit


seinen 85 rüstigen Jahren hat er nun, die


Interpretation und Bebilderung der Oper


dynamisierend, eine sechs Meter hohe


Skulptur entworfen und vor dem Festspiel-


haus postiert, die seinen Anspruch als


Schöpfer mythischer Gleichnisse und Zei-


chen untermauert. Sie besteht aus jenen


Requisiten und Teilen des Bühnenbilds,


die für die Aufführung nicht gebraucht


wurden: „Ich hasse diese heutige Wegwerf-


gesellschaft“, sagt er.


Freyer, dessen Salzburger „Zauberflö-

te“ unvergessen bleibt, ist in der Tat der


Mann fürs „Große Salzburger Weltthea-


ter“, wie Hugo von Hofmannsthal sein für
die barocke Kollegienkirche geschaffenes
Mysterienstück nach Calderón nannte.
Gegen den handfesten „Jedermann“ hatte
es keine Chance. „Welttheater“ als die
geistige Ambition der 1920 gegründeten
Festspiele: Die Heroen und Clans der grie-
chischen Antike geben bis heute den Ton
an, also Idomeneo und Medea, Orpheus
und Ödipus. Und die Mythen treffen ins
Schwarze: Krieg und Flucht, Schuld und
Rache, Sühne, Opfer, denkbare Versöh-
nung. Die Mythen sind für Salzburgs Inten-
danten Markus Hinterhäuser die „Archive
der Welterkenntnis“. Sie sollen das Fürch-
ten lehren und in Schönheit glänzen.

So will es die einzige, leider zu selten auf-
geführte Oper „Œdipe“ des Meisters
George Enescu, an der er zwanzig Jahre
lang schrieb, ehe sie 1936 an der Pariser
Oper uraufgeführt wurde. Enescu und sein
Librettist Edmond Fleg hielten sich, mit
Freiheiten, an die beiden Dramen des
Sophokles, welche die grausige Lebensge-
schichte des Ödipus wie ein böses
Märchen erzählen. Wie aus dem Kind der
Mann wird, dessen Schicksal der Seher
Tiresias im Voraus verkündet, wie er die
rätselhafte Sphinx besiegt mit der Antwort


  • „Der Mensch“ – auf deren Frage, was
    stärker sei als das Schicksal. Wie er, nun Kö-
    nig dort und, unwissend, mit seiner Mutter


Jocaste verheiratet, durch die ausgebroche-
ne Pest in Bedrängnis gerät. Wie Ödipus in
einem unerhört dramatischen Wortge-
fecht mit Tiresias und dem hellsichtigen
Volk sein furchtbares Schicksal als Vater-
mörder erkennt und sich die Augen zer-
sticht – der Bildmystiker Achim Freyer
hebt all diese Handlungselemente des
Dramas auf die Ebene mythisch-poeti-
schen Entzugs der Realität, hinein in eine
bilderreiche philosophische Dimension.
„In einem Kunstwerk suche ich den
Kosmos unseres Lebens, das Sein des Men-
schen von der Geburt bis zum Tod“, hat
Freyer gesagt. So können seine Personen
zu Chiffren einer zauberischen Innenwelt
werden, wo zum Beispiel die beharrliche
Langsamkeit des Schreitens und Gestiku-
lierens der Figuren eine betörende, im
Zusammenklang mit der Musik Energie
des Soghaften entstehen lässt. Freyers Kos-
tüme machen sie erst recht zu Traumge-
stalten exzentrischen Farbenrauschs – Jo-
caste als nachtblau flatterndes Geisterwe-
sen, Créon in flammendem Rot, Tiresias
als blind-clownesk tapsende Monumental-
figur alle überragend.
Und wie der Regisseur die Bühne in ihrer
enormen Breite mit geisterhaften Bewe-
gungsschüben füllt, die Chorverdich-
tungen in bannendes Straucheln bringt,
wie er die Salzburger Felsenarkaden in
wechselhaft mit Figuren bestückte, in
immer neu hell werdende Veduten
verwandelt, all das ist seiner überquellen-
den Fantasie, genauso seinem überlege-
nen, in Jahrzehnten gereiften Handwerk
geschuldet.

George Enescus „Œedipe“, dieser Soli-
tär, ist ein Unikum des Zusammenklangs
von Trauerspiel, Sinnbild, Lehrstück und
tiefem Geheimnis. Der Komponist hat
seine Oper in vier Akten in die Tradition
der französischen Tragédie lyrique ver-
setzt, der deklamatorisch gesungene oder
in Sprechgesang fallende Text braucht
keine Arien, er dringt in der Unmittelbar-
keit seiner Wortmacht direkt, ohne Kunst-
verzierungen, zum Hörer.

Überragend und bewundernswert, wie
Bariton Christopher Maltman die Riesen-
rolle des Ödipus mit stimmlich und geis-
tig nicht ermüdender Wucht, doch immer
wieder lyrischer Inbrunst aufladen kann.
Oder wie er Freyers spielerische Ironie, die
dem endlich zur Macht gelangten Ödipus
rote Boxerhandschuhe und -shorts ver-
passt, mit Lust verkörpert. Dass die
Ödipus-Oper Enescus ein „Monodrama
mit Nebenpersonen“ darstelle, wie der
bedeutende Musikwissenschaftler Carl
Dahlhaus einmal meinte, hat gerade bei
Christopher Maltman zumindest einen
wahren Kern. So plastisch durchgebildet
und gesungen auch der Tiresias von John
Tomlinson, die sich selbst mordende Jocas-
te von Anaik Morel, der Créon von Brian
Mulligan oder die Sphinx von Eve-Maud
Hubeaux auch sein mögen. Für die Sphinx
hat sich Freyer freilich bildhafte Spekulati-

onen geleistet, die bei aller Kontrastlust
fast monoton wirken.
Die Idee und der Klang des Symphoni-
schen, aus einer eigenwillig modernen
Spätromantik heraus, tragen die Oper in
ihrer ganzen musikalischen Kraft und
Vielschichtigkeit. Ingo Metzmacher und
den Wiener Philharmonikern gelingt es
grandios, den Reichtum des Melodischen
und die harmonischen Kühnheiten, die
diffizile, dabei oft kammermusikalisch
aufgefächerte Klangfarbenfülle des riesig
besetzten Orchesters, unter einen durch-
gehenden Bogen, in langen Atemzügen,
zusammenzufassen.
Unbedingt fesselnd, zumal wenn man
sich nach einer Weile in Enescus schim-
mernde Klangidiomatik „eingehört“ hat,
ist diese Musik in ihrem sehr eigenen Auf-
bau und Stil, in dem Wagner und Brahms,
Debussy, Skrjabin und sogar der Neoklassi-
zismus plus rumänischer Folklore den Er-
fahrungsuntergrund bilden. Und die der
Symphonik Mahlers ebenbürtig ist.
Anders als bei der Frankfurter Inszenie-
rung des „Œdipe“ 2013 durch Hans Neuen-
fels, der den vierten Akt nach Sophokles’
„Ödipus auf Kolonos“ opferte, um den
erblindeten Mann ins Elend, höchstens in
die Hoffnung, zu schicken, plädiert Achim
Freyer für die komplette Oper. Also Nahtod
und Verklärung: Zu George Enescus mira-
kulös sublimer Musik erreicht Ödipus,
geleitet von Tochter Antigone, das Lebens-
ziel – Alter, Friede, Tod. Er sei „ein spartani-
scher Theatermacher“ sagte Achim Freyer
dieser Tage in Salzburg: „Ödipus, das sind
wir selbst“.

Phoney


J.D. Salingers späte Schriften


sollen als E-Book erscheinen
Die Tragödie des Menschseins

In Salzburgglückt dem Regisseur Achim Freyer die Oper „Œdipe“ von George Enescu –


und Ingo Metzmacher leitet die Wiener Philharmoniker grandios


Achim Freyer hebt die Handlung


in einebilderreiche
philosophische Dimension

Der Dramatiker David Hare
hat Henrik Ibsens „Peer Gynt“

nach Schottland verlegt


Über den Brexit zu lachen,


scheint die Alternative zu


schierer Verzweiflung zu sein


„Sonnenklar“, dass er E-Books


nicht haben wollte,


gibt der Sohn und Erbe zu


Ingo Metzmacher vermag die


aufgefächerte Klangfarbenfülle
unter einen Bogen zu bringen

DEFGH Nr. 186, Dienstag, 13. August 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
Downing Street 10 liefert Textzeilen – es gibt sogar ein Musical „Now That’s What I Call Brexit“. FOTO: BLOWFISH THEATRE
Ödipus wird ungewollt und ahnungslos zum Vatermörder und Muttergemahl: Christopher Maltman in George Enescus Oper „Œdipe“ bei den Salzburger Festspielen. FOTO: SF / MONIKA RITTERSHAUS

Free download pdf