Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1
von cathrin kahlweit

D


as Hotel Metropol ist ein ehemali-
ges Art-Deco-Hotel, in dem inter-
nationale Wirtschaftsbosse und

korrupte Oligarchen, aber auch nostalgie-


süchtige Touristen gern absteigen, wenn


sie in Moskau Station machen. Kürzlich


war das Metropol, das in Blickweite des


Kreml liegt, Bühne für einen Politthriller,


der unter dem Namen „Moscopoli“ Furore


machte: Ein Abgesandter des rechtspopu-


listischen italienischen Innenministers


Matteo Salvini hatte dort mit unbekannten


russischen Geldgebern darüber verhan-


delt, wie Moskau die Lega Nord verdeckt –


und natürlich illegal – finanzieren könnte.


Kein Ort wäre für dieses konspirative


Treffen besser geeignet gewesen als das


Metropol mit seiner großen und traurigen


Geschichte.


Heute kostet ein Zimmer dort knapp

300 Euro pro Nacht, die Bäder sind in Mar-


mor gehalten, die Einrichtung ist plüschig-


samten, eine Mischung aus Stilmöbeln


und schweren Sesseln. Als Ljudmila Petru-


schewskaja im Metropol aufwuchs, war


das große Haus heruntergekommen, auf-


geteilt in winzige Wohneinheiten, Herber-


ge für hohe sowjetische Beamte und Regie-


rungsmitglieder. Das Hotel war 1918, ein


Jahr nach der Oktoberrevolution, verstaat-


licht worden, die Zimmer fungierten als


Wohnungsersatz für die Nomenklatura.


Der wunderbare Roman „Ein Gentle-

man in Moskau“ von Amor Towles, in dem


der Autor den so eleganten wie feinsinni-


gen Grafen Rostov, der von den Bolsche-


wiken zum lebenslangen Hausarrest im


Metropol verurteilt worden war, bei sei-


nem Niedergang beobachtet und begleitet,


spielt in den 1920ern in der berühmten


Herberge.


Petruschewskaja ist 1938 geboren; ihr

Urgroßvater wohnte aber schon seit 1921


im Metropol, und in ihren ersten Lebens-


monaten durften Mutter und Kind beim


Djedja, beim Uropa wohnen – so lange


zumindest, bis gleich mehrere Familien-


mitglieder dem stalinistischen Terror zum


Opfer fielen und die Familie kollektiv zu so-


genannten Volksfeinden wurde. Verbannt,


ausgestoßen.


Das war auch Petruschewskajas Kinder-

Schicksal: Sie wurde eine Ausgestoßene.


Mit ähnlichen Worten stimmt die mittler-


weile 81-jährige, in ihrer Heimat verehrte


und geliebte Autorin, Malerin, Sängerin


und Poetin, die Leser auch auf ihre


Memoiren ein: „In meinen Erzählungen,


Romanen und Theaterstücken verleihe ich


jenen Menschen eine Stimme, die im


Abseits stehen und nicht gehört werden.“


Bis zum heutigen Tag, schreibt sie in ihren


Erinnerungen, akzeptiere sie die humanis-


tischen Prinzipien ihrer revolutionären


Vorfahren. Aber sie hasse jede Ideologie


und jede Gewalt.


Petruschewskaja hat nach einer Kind-

heit und Jugend, die nach heutigen Maßstä-


ben unerträglich, unvorstellbar und


gewalttätig war, eine für sowjetische Ver-


hältnisse erstaunliche Karriere gemacht.


Sie hat an der Lomonossow-Universität


Journalismus studiert, für die berühmte


LiteraturzeitschriftNowy Mir,für Fernse-


hen und Radio gearbeitet. Einer der belieb-


testen Trickfilme des Landes, das „Mär-


chen der Märchen“, stammt aus ihrer Fe-


der, sie hat Theaterstücke und Drehbücher


geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt


wurden.


Dass ihre Arbeiten zeitweilig verboten

waren, gehörte in der Sowjetunion der Sieb-


ziger und Achtziger unter Literaten fast


zum guten Ton, Petruschewskaja hat sich


davon nie beeindrucken lassen. Sie war


und ist eine furchtlose Frau, die gut er-


zählt, gut zuhört, die sich gut und gern ver-


marktet. Wer je gesehen hat, wie die alte


Dame, in bodenlangem Rock, mit breiter


Hutkrempe und viel Schmuck behängt,


Chansons singt oder Kabaretteinlagen auf-


führt, der stutzt, staunt, lacht – und bewun-


dert sie. Chuzpe hat sie und Charme.


Gelernt ist gelernt: Auf den Hinterhöfen

in der Verbannung sang und tanzte sie für


einen Kanten Brot, weil es daheim nichts


gab. Eine kleine russische Édith Piaf sei sie
gewesen, schreibt sie, und gebettelt habe
sie wie Oliver Twist. Sie hat überlebt. Nach
der Lektüre ihrer Memoiren fragt man
sich, wie.
Teile der Familie, darunter der Djedja
und die Mama, waren nach Kuibyschew,
heute wieder in Samara unbenannt,
verschickt worden. Aber die Mama hielt es
nicht lange dort. Sie hatte sich zum Studi-
um nach Moskau beworben, die Volksfein-
de unter ihren Angehörigen verschwiegen,
war in einem luftigen Sommerkleid in
einen Zug gestiegen – und jahrelang nicht
wiedergekommen. Der Papa, ein Tauge-
nichts, hatte sich kurz nach der Geburt
davongemacht; er schickte manchmal
etwas Geld.
„Mama hat mir einmal erzählt, dass sie
die höhere Bildung meinetwegen brauch-
te“, endet das Kapitel, in dem Petruschew-
skaja in ihrem ganz eigenen, lakonischen,
bisweilen sarkastischen und doch immer
poetischen Ton vom traumatischen Ver-
lust der Mutter schreibt. „Sonst hätte sie
unsere Familie nicht ernähren können.
Das ganze Leben hat sie sich mir gegen-
über gerechtfertigt, die Arme.“ Die Härte in
der Erinnerung richtet sich hier hörbar
auch gegen die Autorin selbst. Gut mög-
lich, dass sie sich nur so durchschlagen
konnte.
Nach der abrupten Abreise der Mutter
und auch nach der Rückkehr des Urgroßva-
ters nach Moskau blieb die kleine Ljudmila
mit ein paar alten Tanten zurück. Man
hungerte gemeinsam, die Tanten kochten
Kartoffelschalen aus und lagen ansonsten
mit Hungerödemen im Bett.
Ljudmila wurde zum Kriegskind ohne
Halt. Ging kurz in den Kindergarten, kurz

zur Schule, aber dann war dafür kein Geld
mehr da. Filzstiefel gab es nicht, an warme
Kleider war nicht zu denken. Sie lief auch
im Winter barfuß, und als sie auf der Jagd
nach Brot in ein Teerbad fiel und ihre letz-
ten Kleider nicht mehr benutzbar waren,
band sie das Hemd zwischen den Beinen
zusammen und ging ohne Höschen hin-
aus. Was sollte sie auch sonst tun? Sie
machte sich über die Höfe davon, lebte auf
der Straße. Verwilderte. „In dieser Welt der
Straße gab es keine Zeit für Träume. Es gab
nur Fliehen, Verstecken oder, wenn sie
dich fingen, Geschrei und Prügelei.“
Sie habe Hunger ertragen können,
schreibt Petruschewskaja, aber Unfreiheit

nicht. Irgendwann kam ihre Mutter zu-
rück, holte sie ab. Sie fand ein Kind vor, des-
sen gesamte Schulbildung aus den Liedern
bestand, die Ljudmila singen konnte, und
den Gogol-Novellen, die ihr die alten Tan-
ten erzählt hatten. Die Mutter schickte sie
in Kinderheime, Erziehungsheime und Fe-
rienheime, damals nichts Ungewöhnliches
im sozialistischen Bildungssystem – im
Kollektiv sollte sie lernen, und im Kollektiv
sollte sie weniger hungern.
Aber das Kind, das auf der Straße aufge-
wachsen war, war weitgehend unbeschul-
bar. Das Mädchen schlug sich durch, auch
mit Gewalt, entzog sich jedem Gruppen-
zwang, wurde aus jeder Gruppe hinausge-
drängt, in die sie mit ihrem unbändigen
Freiheitswillen nicht passte. Wie sollte es
mit ihr weitergehen? „Erziehung ist ein
Kampf unlösbarer Widersprüche“,
schreibt sie. „Wenn man mich fragt,
worüber ich in meinen Erzählungen und
Stücken schreibe, antworte ich: über
unlösbare Probleme. Im Prinzip sind die
wirklichen Probleme alle unlösbar.
Wirkliche Probleme – das Kind Ljudmila
löste sie mit unbändigem Überlebenswil-
len, und manchmal gab es Momente des
Glücks. Einmal, als sie singend in den
Höfen bettelte, schenkte ihr eine mitleidige
Frau einen grünen Pullover. Was für eine
Gabe, was für ein wertvolles Stück, was für
eine Überwältigung. Sie ertrug die gute Tat
kaum. „In diesen Hof bin ich nie wieder
gegangen. Wir meiden die Orte, an denen
es uns schlecht geht, heißt es bei Spinoza.
Aber manchmal ist auch das Gegenteil der
Fall: Manchmal kannst du das Gute nicht
ertragen, das man dir erwiesen hat.“
Manchmal ist auch die Lektüre dieser
Memoiren nur zu ertragen, weil Petru-

schewskaja die bittersten Momente und
Erfahrungen mit einer Lakonie erzählt, die
keine großen Gefühle aufkommen lässt.
Wie sie zurück in Moskau mit der Mutter in
einer Kommunalka, einer Gemeinschafts-
wohnung, lebte, in der sie sich selbst ein
Bett bauten und die Nachbarn voller Miss-
gunst noch die letzten Reste von Kultur und
Menschlichkeit mitsamt dem Bett zerstör-
ten. Wie sie beim Djedja unterm Tisch
schliefen, weil der Tisch als Dach immer

noch besser war als gar kein Schutz, wie sie,
ein Kind noch, nur knapp einer Gruppen-
vergewaltigung seelisch verhärteter Mit-
schüler entkam – alles das erzählt die erfah-
rene Autorin Ljudmila Petruschewskaja,
als schreibe sie über eine andere. Sie baut
gekonnt Cliffhanger an den Enden der
jeweiligen Kapitel, baut Spannung auf, als
habe sie das Drehbuch eines fremden, auf-
sehenerregenden Lebens verfasst.
Wie sie doch noch Karriere gemacht,
eine eigene Stimme gefunden, sich ein
Leben in einem System politischer
Unterdrückung erobert hat? Mithilfe von
anderen, die überlebt hatten wie sie.
Kollegen, Kollektive, Freunde. „Sie waren
meine Meister. Menschen der alten Schule
mit stählernem Durchhaltevermögen.“

Ljudmila Petruschewskaja:Das Mädchen vom
Hotel Metropol. Roman eine Kindheit. Aus dem
Russischen von Antje Leetz. Schöffling & Co,
Frankfurt 2019. 280 Seiten, 24 Euro.

Wolf Schneider ist 94 Jahre alt. Bekannt
wurdeer als Journalist und Journalisten-
lehrer, berüchtigt ist er als Autor für Hand-
bücher, in denen er streng (und oft etwas
kleinkrämerisch-triumphalistisch) erklär-
te, was seiner Ansicht nach gutes Deutsch
ist und was nicht. Das Levitenlesen, Besser-
wissen und leidenschaftliche Schimpfen
ist also seine Sache. Das neue Buch macht
da keine Ausnahme, es heißt „Denkt end-
lich an die Enkel – Eine letzte Warnung,
bevor alles zu spät ist“.
Darin geht es Wolf Schneider darum,
wie es so weit kommen konnte, dass der
Mensch offenen Auges die eigene Lebens-
grundlage zerstört. Auf dem Buchrücken
steht die Frage: „Warum tut denn keiner
was?“
Schneider prangert also den irren Trink-
wasserverbrauch der Bevölkerung in Indus-
trieländern an, schimpft ganz allgemein
über die Maßlosigkeit, über den Massen-
tourismus und die „Ideologie des unver-
zichtbaren Wachstums“, und konzediert
urgroßväterlich, dass Wasser, das aus dem
Hahn kommt und das man einfach so trin-
ken kann, wirklich etwas Besonderes ist.

Recht hat Wolf Schneider da im Großen
und Ganzen mit vielem. Und ja, man
könnte es auch begrüßen, dass Wolf
Schneider sich die Mühe gemacht hat in
einem verschenkbaren kleinen Buch und
an historischen Fakten und Beispielen aus
seinem langen Leben zu veranschauli-
chen, dass der Mensch dringend etwas an
seinem Energieverbrauch, seinem Kon-
sumverhalten und seiner Müllproduktion
ändern muss.
Aber dann gibt es eben auch Textpassa-
gen, in denen er fragt, ob man einen „An-
sturm auf Europa“ hinnehmen solle, aus
Anstand und Barmherzigkeit. Oder die
Stelle, an der er schreibt, dass das „alte
Europa“ Grund habe, sich nicht besonders
wohlzufühlen bei der Aussicht auf eine
Milliarde Nigerianer, die es Schätzungen
zufolge im Jahr 2100 geben wird. Hätte der
jüngere Wolf Schneider dem alten solche
Plattitüden und absurden Übertreibungen
durchgehen lassen?
Sehr lustig ist auch, wenn Schneider die
Gründung der Weltgesundheitsorganisati-
on verteufelt, als habe sie sich das Manhat-
tanprojekt zur Entwicklung der Atom-
bombe ausgedacht: „1948 begann die
WHO mit ihrem weltweiten Feldzug gegen
die Seuchen und die Säuglingssterb-
lichkeit.“ Dass der „Feldzug der WHO“
auch dazu beigetragen hat, dass sich die
durchschnittliche Lebenserwartung der
Menschen in Europa in den vergangenen
hundert Jahren beinahe verdoppelt hat,
sagt er nicht.
Man fühlt sich als Leser häufig so, als
werde man angeschrien. Worte, die dem
Autor besonders wichtig sind, wurden
kursiviert, und die Zwischentitel gehen so:
„Batterien: Giftiger Schrott“, „Ein Wahn-
witz für Mensch und Tier“ oder „Ausbeu-
tung ist unser Lebenselixier“.
Wirklich fatal ist allerdings, dass Wolf
Schneider in diesem schmalen Buch wie
manche der Älteren, die er als seine
Leserinnen und Leser mit „wir“ adressiert,
junge Menschen kaum als eigenständige
Menschen sieht, sondern nur in Relation
zu sich, den Alten, die recht haben.
theresa magdalena hein

Lied vom Hunger in den Hinterhöfen


Die große russische Autorin Ljudmila Petruschewskaja erzählt von ihrer Kindheit in heute


unvorstellbar gewalttätigen Verhältnissen: „Das Mädchen vom Hotel Metropol“


Die Alten haben


immer recht


Wolf Schneider will endlich
an die Enkel denken

Eine kleine russische Édith Piaf


sei siegewesen, und gebettelt


habe sie wie Oliver Twist


Sie hat doch noch eine eigene


Stimme gefunden, mithilfe von
anderen, die überlebt hatten

Wolf Schneider:
Denkt endlichan die Enkel.
Eine letzte Warnung, bevor
alles zu spät ist. Rowohlt
Verlag, Hamburg 2019.
80 Seiten, 8 Euro.

Häufig fühlt man sich


als Leser so, als


werde man angeschrien


12 HF2 (^) LITERATUR Dienstag,13. August 2019, Nr. 186 DEFGH
Die Schriftstellerin Ljudmila Petruschew-
skaja lebt in Moskau. FOTO: IMAGO / ITAR-TASS
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, war das Hotel Metropol in Moskau Unterkunft sowjetischer Beamter, nachdem die bolschewistische Führung die Stadt wieder
zur Hauptstadt erklärt hatte. Ljudmila Petruschewskaja ist dort aufgewachsen. FOTO: DE AGOSTINI VIA GETTY IMAGES
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