Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1
von julia bergmann

I


rgendjemand hat „Fuck you“ auf den
Zettel mit CSU-Briefkopf geschrie-
ben. Fuck You mit Ausrufezeichen.

„Ist nicht von mir“, sagt Kammerspiele-In-


tendant Matthias Lilienthal mit einem


nonchalanten Schulterzucken. Die Sache


ist ja schon lange her, und wer weiß, wer


da mal im Vorübergehen den Stift ange-


setzt hat? Ein Jahr ist vergangen, seit Lili-


enthal mit seinem Aufruf zur Ausgehetzt-


Demo gegen die CSU die Partei erzürnt


hat. So sehr, dass sie per Stadtratsantrag


eine Strafe dafür gefordert hatte. Eine Ko-


pie des Antrags hängt zwischen bunten


Postern, Plakaten und Fotos an einer Pinn-


wand. „Ich war denen immer zutiefst


dankbar, dass sie sich diese Blöße gege-


ben haben“, sagt Lilienthal.


Er lehnt sich im Bürosessel zurück und

lächelt das herausfordernde Lächeln ei-


nes Rebellen. Der Kammerspiele-Chef


wirkt nicht wie der Typ Mensch, dem Re-


geln heilig sind. In seinem Büro aber gel-
ten zwei Regeln, an denen keiner rüttelt.
Vorgabe Nummer eins: „Die Türen müs-
sen offen bleiben.“ Er will, dass die Men-
schen jederzeit zu ihm kommen können.

Lilienthal ist kein Freund strenger Hierar-
chien. Deswegen, zu Beginn seiner Inten-
danz, erfolgte auch der Umzug vom groß-
zügigen Einzelbüro des Vorgängers in das
kleinere, das er sich mit zwei Mitarbeitern
teilt.

Zweite Regel: „Die ersten zehn Minuten
darf mich meine Mitarbeiterin nicht an-
quatschen.“ Lilienthal – Jeans, weißes
Shirt, zerzaustes Haar – sitzt barfuß in sei-
nem Bürostuhl, verschränkt seine Arme
über der Brust und hakt die Daumen in die
Armausschnitte. Er verzieht keine Miene.
Scheint ihm verdammt ernst zu sein. „Ich
brauche die zehn Minuten, mich damit an-
zufreunden, dass ich den restlichen Tag ar-
beiten muss.“
Neben ihm auf dem Fensterbrett liegen
zwischen Steuerunterlagen und einer Fla-
sche Sekt (Marke Lilienthal) zusammenge-
knüllte Handtücher. Zeugen seines frü-
hen Starts in den Tag. Den beginnt er um 7
Uhr mit ein paar erfrischenden Bahnen im
Schwimmbad.
Leicht chaotisch wirkt Lilienthals
Schreibtisch auf den ersten Blick. Man hät-
te von einem wie ihm auch keine streng ge-
ordneten Schrankwände und Karteikäs-
ten erwartet. Wobei es auch bei Lilienthal
schnöde Ordner mit Steuerunterlagen,

Tipp-Ex und Paketband gibt. Man muss
nur erst mal danach suchen. Fündig wird
man irgendwo zwischen bunten Postern
oder Plakaten aus bedruckten goldglän-
zenden Rettungsdecken, Stapeln ungeord-
neter Unterlagen und angetrunkenen Kaf-
feetassen.
Private Fotos sucht man vergeblich.
„Wäre doch spießig“, sagt er. Familienfo-
tos hat er auf seinem Handy. „Da schaut
man doch sowieso öfter drauf, als auf den
Schreibtisch.“ Er zieht sein Smartphone
hervor und lässt es aufleuchten. Vom Dis-
play lächelt ein zweieinhalb Jahre alter
Strubbelkopf: Tochter Avi. Und dann doch
etwas Privates: zwei schnell gekritzelte,
expressive Zeichnungen in wildem Text-
markerneon an der Wand. Wenn Lilien-
thal aufschaut, hat er sie im Blick. Avi hat
sie gemalt.

Die nächste Folge erscheint am kommenden Diens-
tag, 20. August.

Auch auf dem
Schreibtisch vonMatthias
Lilienthal gibt es
Tipp-Ex und Paketband.
Fündig wird
man irgendwo zwischen
ungeordneten Unterlagen
und angetrunkenen
Kaffeetassen.

MÜNCHNER
CHEFZIMMER

Die Münchner Kammerspiele und Mat-
thias Lilienthal– von Anfang an war
das keine einfache Beziehung. 2015
kam der Berliner als Intendant an das
1901 eröffnete städtische Theater.
Schon bevor er da war, waren die Kriti-
ker in Aufruhr. Lilienthals Stil sei für
das ehrwürdige Sprechtheater zu ex-
perimentell, sagten sie. Kritik, die sich
der Intendant immer wieder anhören
musste. Ebenso den Vorwurf, für sin-
kende Abozahlen verantwortlich zu
sein.
Im Frühjahr 2018 hatte Lilienthal
schließlich bekannt gegeben, nach Ab-
lauf seines Vertrags 2020 nicht für ei-
ne weiter Amtszeit zur Verfügung zu
stehen. Für eine Verlängerung sehe er
ohnehin keinen ausreichenden Rück-
halt im Stadtrat.
Lilienthal war von 2003 bis 2012
künstlerischer Leiter und Geschäfts-
führer des HAU (Hebbel am Ufer) in
Berlin. Zuvor arbeitete er als Pro-
grammdirektor für das Festival Thea-
ter der Welt und von 1992 bis 1999 als
Chefdramaturg an der Volksbühne un-
ter Frank Castorf. BERJ

Vita


MatthiasLilienthal, hier entspannt
in seinem Büro. Das Einzelzimmer hat
er gleich am Anfang aufgegeben.
FOTOS: STEPHAN RUMPF

„Die Türen müssen offen bleiben“


Leichtchaotisch wirkt der Schreibtisch von Kammerspiele-Intendant Matthias Lilienthal auf den ersten Blick.


Aber mal ehrlich: Hätte man von einem wie ihm streng geordnete Schrankwände erwartet?


Adelshofen– Es riecht nicht nach Kartof-


feln oder Mais und erst recht nicht nach


Raps, so wie man das im landwirtschaft-


lich geprägten Fürstenfeldbrucker Hinter-


land erwarten könnte. Es riecht irgendwie


verlockend und leicht süßlich. Zwischen


dem Ortsrand Luttenwang, einem Wald,


Wiesen und teils bereits abgeernteten


Äckern gedeihen ziemlich einzigartige


Feldfrüchte. Unter transparenten Planen


wachsen Melonen. Wie in Italien oder Grie-


chenland.


Johannes Dittert, 29, steht barfuß ne-

ben ein paar bunten Gießkannen, einem


großen Traktor-Wasseranhänger und den


beiden 40 und 50 Meter langen Folientun-


neln, die jedes Jahr versetzt werden. In ei-


ner Erntepause erklärt der Landwirt mit


Dreitagebart und Brille, wie er auf die Idee


kam, 300 Meter entfernt vom Luttenwan-


ger Ortsrand ausgerechnet Melonen anzu-


bauen. Ein früherer Klassenkamerad ha-


be ihn darauf gebracht. Dieser hatte bei


der Abschlussfahrt mit der Fürstenfeld-


brucker Meisterschule eine Melonenplan-


tage in der Toskana besucht und mit ei-


nem Kompagnon in Bergkirchen einen bis


heute andauernden Selbstversuch gestar-


tet.


„Ich fand das ziemlich cool, und Patrick

hatte nichts dagegen, dass ich es auch ver-


suche.“ Im Freistaat dürfte es lediglich


noch einen weiteren Landwirt geben, der


Melonen anbaut – auf zwei Hektar in Nie-


derbayern. Auch die Landesanstalt für
Gartenbau in Bamberg experimentiert
seit gut einem Jahr auf diesem Feld. Dit-
tert begann bereits 2016 – um Erfahrun-
gen zu sammeln, erst einmal mit einer
Zeltkonstruktion. Für ihn war und ist es
ein zweites Standbein, ein Nebenerwerb,
vor allem aber ein Hobby, das sich in ei-
nem überschaubaren Familienbetrieb
praktizieren lässt. Gemeinsam mit seiner
Frau Anna Sophie, 28, und den Schwieger-
eltern bewirtschaftet Johannes Dittert je-
weils zweieinhalb Hektar Ackerland sowie
eine Wiese. Auf den Feldern wird Körner-
mais für den Verkauf und Getreide als Fut-
termittel für die fünf eigenen Kühe ange-
baut, deren Milch für die Kälbermast be-
nötigt wird.
Seit zwei Wochen und noch bis etwa An-
fang September werden die Früchte ein-
bis zweimal täglich geerntet – neben den
bis zu zehn Kilo schweren Wassermelonen
die kleineren Honigmelonen der Sorten
Cantaloupe mit orangefarbenem Frucht-
fleisch sowie Gallia mit grünem Frucht-
fleisch. Er wolle ja nicht übertreiben, sagt
Johannes Dittert und lacht ein wenig schel-
misch, aber der Geschmack der „vollrei-
fen“ und frisch geernteten Melonen sei
„schon sensationell“.
Nur einmal, in der ersten Saison, konn-
te er seine Melonen irgendwann nicht
mehr sehen. Da wollte er herausfinden, ob
sie am besten schmecken, wenn man sie
direkt nach dem Regen oder morgens
oder abends erntet. „Da habe ich dann
schon drei oder vier Stück am Tag geges-
sen.“
Die Melonen werden in der kleinen
Holzbude vor dem Wohnhaus mit seinen

blauen Fensterläden offeriert, am Rand
der Haspelstraße, kurz vor dem Ortsaus-
gang. Am Dienstag liegen dort drei große
Wassermelonen zum Stückpreis von acht
bis 13 Euro sowie Honigmelonen in allen

Größen zu Preisen zwischen zwei und
neun Euro. Daneben steht eine kleine Kas-
se, in die Kunden das Geld einwerfen sol-
len. Die Ditterts beliefern zudem drei Hof-
läden in der Umgebung. Die Abnehmer

wüssten die Vorzüge der regionalen Pro-
duktion ohne Spritzmittel zu schätzen
und seien bereit, für die Wassermelonen
etwa ein Viertel mehr zu bezahlen als für
die Massenware der Discounter.

Eiskalt erwischt hat es den gelernten
Berater für Landwirtschaft und seine sü-
ßen Früchte im vergangenen Jahr. Da setz-
te er die Jungpflanzen nach den Eisheili-
gen aus und hatte die Rechnung ohne die
folgende Schlechtwetterfront gemacht.
Die Hälfte der Melonen sei erfroren. Nicht
ganz so schlimm ist es mit Wespen und
Mäusen. Wirklich leicht verschmerzen
lässt sich Schwund im kleineren Maßstab:
Da klingelte einmal eine Nachbarin und
bezahlte eine Melone. Ihre Kinder hätten
diese angeblich am Wegesrand „gefun-
den“.

Ebenso wie die Melonenbauern im Da-
chauer Landkreis hat der Luttenwanger
Landwirt durchaus darüber nachge-
dacht, mit dem Anbau von Süßkartoffeln
oder Erdnüssen noch einen Schritt weiter
zu gehen – zumal es durch den Klimawan-
del künftig ja wärmer werden dürfte. Erd-
nüsse freilich müsste man rösten lassen.
Und dem Ehepaar Dittert reicht die Arbeit
auch so schon. Deshalb werden sie es erst
einmal bei Melonen belassen. Allzu viele
Nachahmer und damit Konkurrenten
müssen sie nicht fürchten. Denn die Melo-
nen sind dann reif, wenn die meisten
Landwirte ihre Ernte auf den Feldern ein-
bringen und gar keine Zeit haben für eine
solche Zusatzarbeit. Belächelt aber wird
der Luttenwanger Melonenbauer längst
nicht mehr von den Kollegen.
stefan salger

Der Melonenbauer


Die Subtropen in Bayern: Der Landwirt Johannes Dittert hat sich vor drei Jahren auf Südfrüchte spezialisiert. Noch bis Anfang September wird geerntet


Ein Besuch bei


Matthias Lilienthal


Kammerspiele-Intendant


SZ-Serie · Folge 1


Landwirt Dittert hat bereits


überlegt, auch Süßkartoffeln
oder Erdnüsse anzubauen

Eine Schubkarre Nachschub für die eigene Verkaufsbude und die Hofläden: Johannes Dittert bei der Ernte von Honigmelonen
auf dem Feld im Landkreis Fürstenfeldbruck. FOTO: MATTHIAS F. DÖRING

In Bayern gibt es nur noch


einen weiteren Landwirt,


der Melonen anbaut


★★


R4 PGL (^) LEUTE Dienstag,13. August 2019, Nr. 186 DEFGH

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