Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1
Alejandro Giammattei wirkte sehr glück-
lich,als das Ergebnis endlich feststand.
„Der Moment Gottes ist gekommen“, sag-
te der künftige Präsident Guatemalas,
und auch wenn viele seiner Landsleute
das anders sehen mögen, aus persönli-
cher Sicht kann man Giammatteis Ge-
fühlsausbruch durchaus nachvollziehen.
Der 63-Jährige dürfte es selbst lange für
unmöglich gehalten haben, dass er doch
noch einmal eine Wahl gewinnt.
Fünf Mal war Giammattei zuvor ge-
scheitert, zwei Mal bei den Wahlen für das
Amt des Bürgermeisters von Guatemala-
Stadt, drei Mal bei Präsidentschaftswah-
len. Seiner Karriere hat das kaum gescha-
det. Der Chirurg hat sich seit den Achtzi-
gerjahren beharrlich den Weg nach oben
gebahnt. Er bekleidete hochrangige Pos-
ten in der öffentlichen Verwaltung, war Di-
rektor der Wasserversorgung von Guate-
mala-Stadt und des öffentlichen Nahver-
kehrs. Von 2005 bis 2007 war er Chef der
landesweiten Gefängnisverwaltung, und
in diese Zeit fällt das wohl dunkelste Kapi-
tel seines Lebens. Es dürfte auch seine Prä-
sidentschaft prägen.
Am 25. September 2006 stürmten et-
wa 3000 Polizisten und Soldaten das Ge-
fängnis Granja Penal de Pavón nahe der
guatemaltekischen Hauptstadt; offiziell,
um die Ordnung wiederherzustellen. Die
Häftlinge hatten sich es dort Berichten zu-
folge recht gemütlich gemacht, sie sollen
etwa Videospiele gespielt und Drogenkü-
chen betrieben haben. Sieben Insassen
wurden bei dem Einsatz getötet. Eine Un-
tersuchung der Regierung und der UN-
Kommission gegen die Straflosigkeit in
Guatemala (Cicig) enthüllte später, dass
die Häftlinge regelrecht hingerichtet wur-
den, Behördenchef Giammattei soll da-

von gewusst haben. Fast ein Jahr musste
er in Untersuchungshaft, 2010 wurde er
freigesprochen, aus Mangel an Beweisen.
Nun wirkt es so, als habe Guatemalas
künftiger Präsident noch eine Rechnung
mit der Cicig offen, die ihn damals hinter
Gitter brachte. Im Wahlkampf kündigte
er an, dass er den Beschluss seines Vorgän-
gers Jimmy Morales unterstütze, die Kom-
mission der Vereinten Nationen aus dem
Land zu werfen. Zuvor hatte die Cicig im-
mer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt,
auch im Umfeld des nun scheidenden
Staatschefs Morales. Das wurde ihr letzt-
lich wohl zum Verhängnis.

Dass Giammattei die Wahl vom Sonn-
tag mit etwa 58 Prozent der Stimmen ge-
wann, hat weniger damit zu tun, dass ihm
viele Guatemalteken gerne die Geschicke
des Landes anvertrauen. Sondern damit,
dass sie die andere Kandidatin aus der
Stichwahl verhindern wollten. Die ehema-
lige Präsidentengattin Sandra Torres ist
schlichtweg noch unbeliebter. Andere
Kandidaten, die mehr Glaubwürdigkeit
im Kampf gegen die Korruption gehabt
hätten, waren nicht zur Wahl zugelassen
worden. Das erklärt die niedrige Wahlbe-
teiligung von gerade einmal 42 Prozent.
Viele Guatemalteken wünschen sich
nichts sehnlicher, als dass die Regierung
endlich konsequent gegen die Vetternwirt-
schaft vorgeht sowie Armut und Gewalt
bekämpft, die Dinge also, die so viele da-
zu bewegen, das Land zu verlassen. Giam-
mattei hat versprochen, all das zu tun.
Überzeugende Konzepte aber hat er im
Wahlkampf nicht präsentiert. Gegen die
Gewaltkriminalität soll eine Politik der
harten Hand helfen, er will einen Nationa-
len Sicherheitsrat einberufen und die To-
desstrafe wiedereinführen. Dass solche
Vorgehensweisen in anderen lateinameri-
kanischen Ländern eher zu einem Anstieg
der Gewalt geführt haben, ficht ihn offen-
bar nicht an. In wirtschaftlicher Hinsicht
gilt Giammattei als liberal, gesellschaft-
lich vertritt er konservative Positionen.
Die gleichgeschlechtliche Ehe etwa lehnt
er ebenso vehement ab wie Abtreibungen.
Am Wahlabend versprach der neue Prä-
sident dann noch, er werde sich seinem
Land als treuer Diener zur Verfügung stel-
len. Nach so vielen Jahren und all den Ver-
suchen habe er einen „Kloß im Hals“. Das
immerhin dürften viele Guatemalteken
ähnlich empfinden. benedikt peters

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von stefan kornelius

Z


wei Provokationen der Hongkong-
Demonstranten sind es, die Chinas
Führung zur Weißglut treiben müs-
sen. Zwei Grundthesen des chinesischen
Modells werden infrage gestellt – zu viel
auf einmal für eine Partei, die derart prin-
zipiellen Widerspruch weder kennt noch
erträgt. These Nummer eins: Politik und
Wirtschaft leben in getrennten Welten;
Wachstum, Handel, Investitionen funkti-
onieren daher auch in autoritären Syste-
men. These Nummer zwei: Der Führungs-
anspruch der Partei ist unteilbar; es gibt
nur eine Partei für China, die Macht liegt
in ihren Händen.
Die Einparteien-Herrschaft und das
chinesische Wirtschaftsmodell als Alter-
native zur freien Marktwirtschaft in ei-
ner freien Gesellschaft sind wuchtige
Grundsätze, auf denen das moderne Chi-
na aufgebaut ist. Diese Grundsätze wer-
den von der Protestbewegung in Hong-
kong nicht nur infrage gestellt, sondern
auch praktisch gegeneinander ausge-
spielt und damit als falsch entlarvt. Das
ist eine mehr als beunruhigende Nach-
richt für die Führung in Peking, die in sie-
ben Wochen den 70. Jahrestag der Partei-
gründung frei von Selbstzweifeln und oh-
ne Demütigung von außen feiern wollte.
Bei den Protesten in Hongkong geht es
längst nicht mehr um ein Auslieferungs-
gesetz, es geht um den Grad der Freiheit
und der Demokratie. Die Freiheitsver-
sprechen, die den Hongkongern mit der
Rückgabe der Kronkolonie an Peking ge-
geben wurden, siechen dahin. Die gar
nicht mehr subtilen Gewaltdrohungen
aus Peking bestätigen den alarmierten
Grundton der Demonstranten. Vielleicht
stand vor neun Wochen wirklich nur ein
Auslieferungsgesetz zur Debatte – jetzt
geht es um alles.
Hongkongs Bedeutung als Wirtschafts-
standort für China ist zwar mit dem Auf-

stieg der vielen Mutterlandsmetropolen
und neuer, prosperierender Häfen gesun-
ken. Allerdings ist in Hongkong der
Rechtsrahmen für die Wirtschaft noch
immer einzigartig und bietet ausländi-
schen Investoren eine Sicherheit, die sie
sonst nirgendwo in China finden. Beson-
ders die Finanz- und Versicherungsindus-
trie schätzt an Hongkong kalkulierbare
Arbeitsbedingungen. Die Stadt unterhält
die viertgrößte Börse der Welt, Auslands-
investitionen nach China werden noch im-
mer vor allem über Hongkong abgewi-
ckelt, Gewinne können in Dollar außer
Landes gebracht werden.

Will China die Mär vom politikfreien
Wirtschaftsraum aufrechterhalten, dann
wird es einen Preis dafür zahlen müssen:
die Gewährung demokratischer Rechte
an die Bevölkerung Hongkongs. Denn dar-
auf zielt der Protest der Demonstranten.
Sie haben genau registriert, wie prodemo-
kratische Politiker aus dem Parlament
verschwanden, wie der allemal undemo-
kratisch besetzte Legislativrat aus Pe-
king kontrolliert wird und wie die Stadt
scheibchenweise kompatibel gemacht
wurde zum System aus Peking.
Die Zentralmacht steht also vor einer
echten Entscheidung: Entweder sie hält
die politische Repression aufrecht, dann
verliert sie den ökonomischen Standort
Hongkong und – schlimmer noch – den
Glauben ausländischer Investoren an die
Freiheit der Wirtschaft in einem Einpar-
teiensystem. Oder sie gesteht demokrati-
sche Rechte zu und gibt damit den Allein-
herrschaftsanspruch der Kommunisti-
schen Partei auf. Wie sie es dreht und
wendet: Ein Geschenk zum 70. Geburts-
tag ist das nicht.

von stefan braun

A


ngela Merkel hat zu Jahresanfang
ein bemerkenswertes Interview ge-
geben. Darin räumte sie 29 Jahre
nach dem Fall der Mauer und 14 Jahre
nach ihrer Wahl zur Kanzlerin ein, dass
viele Menschen im Osten unter der man-
gelnden Anerkennung ihrer Lebensleis-
tung litten. Sie gab zu, dass viele im Wes-
ten das bis heute nicht verstanden hätten.
Und sie versuchte zu erklären, warum ihre
Herkunft für ihre Politik keine große Rolle
spielen sollte. So nachdenklich das klang,
so deutlich förderte es zutage, dass die Ge-
fühlswelten vieler Ost- und Westdeut-
scher bis heute weit auseinanderliegen –
und auch die langjährige CDU-Vorsitzen-
de daran kaum etwas ändern konnte.
Wenn am 1. September in Sachsen und
Brandenburg die Wahllokale schließen,
werden die Zahlen für die CDU nicht
schön aussehen. Viele werden dann auf
die Flüchtlingskrise und die AfD verwei-
sen. Doch die Gründe für die Malaise lie-
gen tiefer. Die CDU des Einheitskanzlers
Helmut Kohl ist trotz einer Ex-Chefin aus
dem Osten zu lange von westlichem Den-
ken und Handeln dominiert worden.
Schon Merkels Zögern, die Lage im Os-
ten auch mal als Impuls für eigene Politik
zu nutzen, bestätigt das. Es zeigt, wie sehr
auch sie, von Kohl stolz ins Kabinett ge-
holt, lernen musste, dass sehr viele in die-
ser CDU westdeutsch dachten und weiter
denken wollten. Ihr Machtkampf um den
Vorsitz im Jahr 2000 gegen die Andenpakt-
ler um Roland Koch ist der Höhepunkt ge-
wesen. Doch obwohl sie gewann, schloss
sie aus dem Erlebten, dass sie politisch
nicht überleben könnte, wenn sie den Os-
ten als Herkunft hervorheben würde.
Hinzu kam, dass die CDU im Osten mit
Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel
über Jahre von zwei Westimporten domi-
niert wurde. Sie konnten zu Heroen auf-
steigen, solange viele im Osten auf westli-

che Helden setzten. Aber das verhinderte
zugleich, dass starke ostdeutsche Persön-
lichkeiten heranwachsen und der CDU
mehr Sensibilität für Verlustängste und
für den Nutzen auch unkonventioneller
Ansätze nahebringen konnten.

Und jetzt? Was über Jahrzehnte ver-
säumt wurde, lässt sich nicht in zwei, drei
Monaten vor der Wahl ausgleichen. Sei es
die Not in den Regionen, denen ein Ab-
sturz droht; sei es der Streit um die Flücht-
lingspolitik oder den Rechtsextremis-
mus. Nur eines ist sicher: Nichts geht ohne
Zugewandtheit; und nichts ohne Haltung.
Ersteres versucht Sachsens Ministerpräsi-
dent Michael Kretschmer. Überall fährt er
hin, zu fast allem sagt er was – und wirkt
doch zugleich so, als würde er sich ob der
vielen Baustellen schon wieder verlieren.
Noch wichtiger ist Haltung. Bislang er-
wecken Kretschmer und seine CDU-Kolle-
gen im Osten oft den Eindruck, als sei es
Zeichen eines klugen Konservatismus,
manchen gesellschaftspolitischen Fort-
schritt zurückzudrehen, um alte Weltbil-
der zu retten. Das aber würde nur der AfD
in die Hände spielen, die tatsächlich eine
Rückkehr zu Vergangenem anstrebt.
Haltung im Guten wäre es, den Rechts-
staat und seine Garanten, also Polizei und
Justiz, so zu stützen, dass sie die Schutz-
versprechen und die Liberalität des
Grundgesetzes überall durchsetzen kön-
nen. Dieses Ziel richtet sich nicht ausgren-
zend gegen diesen oder jenen; es richtet
sich gegen alle, die diese Regeln ablehnen.
Sich dafür mit Leidenschaft einzusetzen,
könnte der CDU also das geben, was sie
für einen Neustart bitter benötigt: eine
Überzeugung, die nicht spaltet, sondern
stolz die Werte dieser Republik verteidigt.

G


ut gemeint, so lautet ein alter
Spruch, ist das Gegenteil von gut.
Das gilt auch für die Drohung des

Bundesumweltministeriums, die Förde-


rung von Regenwald-Schutzprojekten in


Brasilien zu stoppen, solange unter dem


Präsidenten Jair Bolsonaro wie wild abge-


holzt wird. Bolsonaro lacht nur über diese


biedere Drohung: Klima-Aktivisten und


ausländische Projekte, die ihm in die Que-


re kommen, lehnt er sowieso ab. Einen grö-


ßeren Gefallen, als diese zu stoppen, kann


man ihm nicht tun.


Nein, um einen Klimazerstörer wie Bol-

sonaro aufzuhalten, braucht es ganz ande-


re Hebel. Vor einigen Wochen haben sich


die Europäische Union und der südameri-


kanische Wirtschaftsverbund Mercosur,
dem Brasilien angehört, darauf geeinigt,
die größte Freihandelszone der Welt zu
gründen. Da die Agrarindustrie Brasiliens
einer der wichtigsten Wirtschaftszweige
ist, ist klar, wer von steigendem Absatz
durch den Wegfall von Handelsschranken
profitieren würde: Die Sojabarone und
Rinderzüchter, die den Wald abholzen.
Deshalb muss, solange ein Mann wie
Bolsonaro regiert, gelten: Dieses Abkom-
men darf nicht unterschrieben werden –
oder die Unterschrift muss an radikale
Auflagen zum Waldschutz geknüpft wer-
den. Ansonsten würde die EU sich mit-
schuldig machen an der Vernichtung der
Lunge der Erde. sebastian schoepp

I


talienische Regierungskrisen sind dra-
matische Zerreißproben. Keine Partei
kommt raus, wie sie reinging. Für den

sozialdemokratischen Partito Democrati-


co stellt sich nun die Frage, ob er sich ver-


bünden soll mit den Cinque Stelle, denen
er bis gestern noch alles Böse vorgewor-


fen hat. Ziel eines solchen – durchaus legi-


timen – Paktes wäre es, Neuwahlen aufzu-


schieben, um den Triumphzug von Mat-


teo Salvini und seiner Lega zu bremsen.


Matteo Renzi, der frühere Chef der Sozi-

aldemokraten und ehemalige Premier, be-


schwört einen moralischen Imperativ. Die


Partei aber ist gespalten. Das Gegenargu-


ment geht so: Verwehrt man der Lega die


Urnen, wird Salvini nur noch größer. Man-


che wagen abenteuerliche Prognosen: von
36 auf 60 Prozent. Tatsächlich?
Man fragt sich, warum es Salvini so da-
mit eilte, im Sommerurlaub mit den Cin-
que Stelle zu brechen, nachdem er sie
14 Monate ausgepresst hatte. Könnte es
mit „Moscopoli“ zu tun haben, der Affäre
der Lega um einen möglichen Millionen-
deal mit Moskau? Bis heute schweigt Salvi-
ni dazu. Überhaupt flieht er stets, wenn es
heikel wird: vor Fernsehdebatten mit star-
ken Gegnern, Prozessen, internationalen
Gipfeln. Den Italienern ist zu wünschen,
dass sie mehr Zeit erhalten, den unheimli-
chen Aufsteiger genauer anzuschauen.
Würde bald gewählt, würde er die Früchte
seiner Hetze ernten. oliver meiler

M


al eben in der Pause einen Salat-
to-go verspeisen, am besten im
Park, und bitte mit Plastikgabel:

Dieser „Ex-und-hopp-Mentalität“ hat


Bundesumweltministerin Svenja Schulze


nun den Kampf angesagt. Er ist bitternö-


tig, wenn man bedenkt, dass zwei Drittel


des Mülls im öffentlichen Raum aus Plas-


tikgeschirr, Plastikbesteck und Plastikbe-


chern bestehen. Die Ankündigung wirkt


aber auch wie der panische Versuch,


schnell den Eindruck zu erwecken, um-


weltfreundliche Politik zu machen.


Der Vorstoß der SPD-Ministerin, Her-

steller für die Entsorgung des öffentli-


chen Mülls anteilig zahlen zu lassen, ist im


Grunde bloß die Absichtserklärung, eine


Richtlinie der EU umzusetzen. Und das ist
alles andere als revolutionär. Zumal im
Moment weder klar ist, wie viel die Her-
steller zahlen müssen, noch wie genau die
Abgabe an die Kommunen geleistet wer-
den soll.
Diese Makel ändern jedoch nichts dar-
an, dass das geplante Gesetz begrüßens-
wert ist. Die Sammlung und Sortierung
des Einmalmülls kostet Geld, das im Mo-
ment die Allgemeinheit zahlt. Die Idee, die-
jenigen zur Kasse zu bitten, die für den
Plastikmüll verantwortlich sind – sowohl
Hersteller, als auch in der Verlängerung
die Käufer – ist nur fair. Besser wäre aber,
wie Schulze selbst sagt: ein Umdenken auf
ganzer Linie. ekaterina kel

E


s dürfte kein Zufall sein, dass
der sozialdemokratische Bun-
desfinanzminister seine Pläne
zum Abbau des Soli am vergan-
genen Wochenende öffentlich

gemacht hat. Auch der Generalsekretär


der CDU wird sich etwas dabei gedacht ha-


ben, als er eine Kabinettsentscheidung


dazu noch für diesen Monat in Aussicht


stellte – „damit das Geld schnell bei den


Bürgern ankommt“. In knapp drei Wo-


chen stehen die Landtagswahlen in Bran-


denburg und Sachsen an. SPD und CDU


können freundliche Schlagzeilen derzeit


noch besser brauchen als sonst; da gehört


es quasi zum Handwerk, jetzt mit dieser


Nachricht zu kommen, und nicht Mitte


September. Wie sagte Helmut Kohl, da-


mals Bundeskanzler, Mitte der Neunziger-


jahre? „Der Solidaritätszuschlag ist bis En-


de 1999 endgültig weg.“ Nun wird’s Ende



  1. Nun ja, so halb.


Die Geschichte des Soli ist eine, die zahl-

reiche Klischees über Politiker und den


vermeintlich gefräßigen Staat bedient. Im


Jahr 1902 erfand der Reichstag die


Schaumweinsteuer, um den Ausbau der


Kaiserlichen Marine zu bezahlen; im


Unterschied zu Wilhelm II. und den Schif-


fen gibt es sie noch immer. Konnte man al-


so Mitte der Neunziger wirklich glauben,


dass ein Zuschlag auf die Einkommen-


steuer nur für ein paar Jahre erhoben wür-


de? War damals nicht längst klar, dass die


Landschaften im Osten keineswegs so


schnell blühen würden, wie der Kanzler


der Einheit es versprochen hatte? Und hat-


te nicht, ganz grundsätzlich, der Staat zu


wenig Geld für zu viele Aufgaben, um


nach ein paar Jahren einfach so wieder auf


den Zuschlag zu verzichten; also ausge-


rechnet dann, wenn die Leute sich an ihn


gewöhnt haben?


Inzwischen blüht vieles im Osten – zu-

mindest so viel, dass der zu seinem Auf-


bau vereinbarte „Solidarpakt II“ zwischen


Bund und Ländern am Jahresende aus-


läuft. Auf diesen Anlass reagiert Finanzmi-


nister Olaf Scholz, indem er den Soli für


90 Prozent der Steuerzahler ganz strei-


chen will. Weitere 6,5 Prozent sollen künf-


tig nur noch einen ermäßigten Zuschlag


zahlen, und lediglich für 3,5 Prozent – die


aber die Hälfte des Aufkommens beitra-


gen – soll sich an dessen Höhe nichts än-


dern. Eine erfreuliche Nachricht? Nicht


wirklich.


Mit der Frage, ob die Pläne der Regie-

rung eigentlich mit dem Grundgesetz


übereinstimmen, soll und wird sich das


Bundesverfassungsgericht beschäftigen.
Etliche Klagen sind bereits angedroht. Die
FDP und der Bund der Steuerzahler argu-
mentieren: Indem der Solidarpakt aus-
läuft, gibt es auch die Sonderlage nicht
mehr, die den Soli so lange gerechtfertigt
hat. Das Finanzministerium hingegen
weist darauf hin, dass der Aufbau Ost
trotzdem nicht zu Ende ist – und dass das
Grundgesetz nirgendwo vorschreibt, eine
Ergänzungsabgabe (was der Soli ist) unbe-
dingt zu befristen. So zutreffend Letzteres
sein mag: Der Soli muss weg, und zwar
komplett.
Natürlich kann man sich damit begnü-
gen, die Diskussion über ihn unter Ver-
weis aufs Grundgesetz zu führen. Aber
wer das tut, hat die Dimension des The-
mas nicht verstanden. Fairness wäre der
bessere Aspekt. Kaum ein Bürger dürfte
den Soli je anders interpretiert haben
denn als vorübergehende Abgabe zur Er-
füllung eines konkreten Zwecks, des Auf-
baus Ost. Sollte er nun auf Dauer bleiben,
wenn auch nur für eine relativ kleine, rela-
tiv wohlhabende Gruppe, ist dies ein Ver-
stoß gegen eine gesellschaftliche Abma-
chung – die sich bald rächen könnte.
Derzeit wird zur Rettung des Klimas ei-
ne CO2-Steuer erwogen. Viele Politiker
und Wissenschaftler sagen, diese solle le-
diglich das Verhalten der Leute lenken, sie
jedoch unterm Strich keineswegs finanzi-
ell belasten oder dem Staat klammheim-
lich zusätzliche Einnahmen liefern. Und
sehr viele Menschen können das kaum
glauben. War ihnen das nicht einst auch
vor Einführung der Ökosteuer erzählt wor-
den? Und seitdem tanken sie, um die Ren-
tenkasse zu füllen. Der Fiskus steht im
Ruf, immer ein einnehmendes, aber sel-
ten ein steuerndes Wesen zu sein. Den Be-
weis des Gegenteils hat er für viele Bürger
erst noch zu erbringen. Würde er den Soli
jetzt streichen, gäbe er all den Skeptikern
eine Antwort. So jedoch gibt er ihnen neue
Nahrung. Wer im einen Fall trickst, dem
traut man es auch im anderen zu.
Nichts ist dagegen zu sagen, Wohlha-
bende auch künftig stärker zur Finanzie-
rung des Gemeinwesens heranzuziehen
als Ärmere. Das muss sogar so sein – und
es ließe sich handwerklich sauber regeln:
über die reguläre Einkommen-, die Erb-
schaft- oder doch wieder die Vermögen-
steuer. Aber weil die SPD weiß, dass sie ei-
ne Erhöhung von Steuersätzen oder die
Wiedereinführung einer stillgelegten
Steuer nicht durchsetzen wird, will sie
nun einem Zuschlag das ewige Leben
schenken, für den es vor 25 Jahren eine Be-
gründung gab. Und weil die Union nur
sagt, dass der Soli weg muss, aber nicht,
wie sie denn den Ausfall von 19 Milliarden
Euro kompensieren will, wird das mit
dem ewigen Leben genauso kommen.

Distickstoffmonoxid – die
chemische Bezeichnung für
Lachgas – ist eine altbekann-
te Substanz. Der englische
Chemiker Joseph Priestley
beschrieb sie schon 1772, ein Kollege ent-
deckte bald darauf die psychoaktive Wir-
kung. Nach Inhalation wird man kurze
Zeit euphorisch, halluziniert leicht, steht
neben sich. Weil das Gas auch betäubend
und schmerzstillend wirkt, wird es seit
Mitte des 19. Jahrhunderts in der Medizin
eingesetzt. In jüngster Zeit verwenden es
Zahnärzte wieder häufiger, um ängstli-
che Patienten zu beruhigen. Als Partydro-
ge ist N2O seit Jahrzehnten beliebt, es
wird aus Luftballons oder aus Ampullen
eingeatmet, die zum Steifschlagen von
Sahne dienen. Weil es im Prinzip legal zu
kaufen ist, hat der Konsum in Ländern
wie Großbritannien, Dänemark und den
Niederlanden in jüngster Zeit zugenom-
men und den Ruf nach Verboten laut wer-
den lassen. Ernsthaft gefährlich für die
Gesundheit ist Lachgas aber wohl nur bei
chronischem Missbrauch. Weder in den
deutschen noch in den europäischen Dro-
genbericht hat es bisher Eingang gefun-
den. Mehr Sorgen muss man sich vermut-
lich wegen einer anderen Eigenschaft
von N2O machen. Es ist ein gefährliches
Treibhausgas, etwa 300-mal potenter als
CO2, und es wird freigesetzt beim Einsatz
von Stickstoffdüngern in der Landwirt-
schaft und bei der Tierhaltung. kit

4 HMG (^) MEINUNG Dienstag,13. August 2019, Nr. 186 DEFGH
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Lachgas
PROFIL
Alejandro
Giammattei
Neuer Präsident
Guatemalas –
im vierten Anlauf
Der Protest belegt: Politische
und ökonomische Freiheit
bedingen einander sehr wohl
Die CDU hat es in Ländern wie
Sachsen so schwer, weil sie der
Westen übermäßig prägte
Die Abgabe müsste weg, und
zwar sofort. Denn sie schadet
der Glaubwürdigkeit des Staates

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