Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

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Berlin –Drei Täter sollen es gewesen sein;
drei, die nun offenbar ungestraft davon-
kommen. Im Fall des Bremer AfD-Bundes-
tagsabgeordneten Frank Magnitz, 67 Jah-
re alt, der am 7. Januar bei einer Attacke ver-
letzt worden war, hat die Staatsanwalt-
schaft Bremen bekanntgegeben, dass sie
die Ermittlungen bereits vor Wochen einge-
stellt hat. Die Täter habe man nicht identifi-
zieren können. Weitere Bemühungen halte
man für wenig aussichtsreich.
Die Tat war von einer Überwachungska-
mera aufgezeichnet worden, die Ermittler
hatten das Video veröffentlicht: Zu sehen
ist, wie drei Männer hinter dem AfD-Politi-
ker Magnitz herlaufen. Einer rennt den Po-
litiker von hinten um und trifft ihn offen-
bar mit dem Ellenbogen am Kopf. Magnitz
stürzt zu Boden und schlägt mit den Kopf
auf. Er wurde verletzt und verbrachte zwei
Tage im Krankenhaus.
Der Fall hatte Solidaritätsbekundungen
in der ganzen Republik und aus allen politi-
schen Richtungen ausgelöst, Bundespräsi-
dent Frank-Walter Steinmeier hatte dem
AfD-Politiker einen Brief ans Krankenbett
geschrieben und von einem „Angriff auf
unseren Rechtsstaat“ gesprochen. Bundes-
tagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU)
hatte im Plenum des Parlaments gesagt,
der Verdacht eines politisch motivierten
Verbrechens liege nahe, was ein „schwerer
Angriff auf die politische Kultur in unse-
rem Land“ wäre.

Wie dieSüddeutsche Zeitungaus Ermitt-
lerkreisen erfuhr, verfolgten die Beamten
dann vor allem Spuren in die linksaktivisti-
sche, nicht unbedingt linksextremistische
Szene. Nicht so sehr die Antifa stand dem-
nach die meiste Zeit im Zentrum ihrer Er-
mittlungen, sondern eine Ultra-Gruppie-
rung des Fußballvereins Werder Bremen.
Die Soko Goetheplatz des Landeskriminal-

amts, benannt nach dem Tatort, war sofort
nach der Attacke auf Magnitz eingerichtet
worden, anfangs mit 18, dann mit zeitwei-
se mehr als 20 Kriminalbeamten. Sie konn-
te die Tat aber letztlich nie einzelnen Perso-
nen zweifelsfrei zuordnen.
Immer wieder analysierten die Ermitt-
ler das Tatvideo, mit Hilfe von Spezialisten
aus dem Bundeskriminalamt (BKA) wurde
auch versucht, die Qualität des grobkörni-
gen Films aufzubessern, wenn auch mit we-
nig Erfolg. Man untersuchte auch die spezi-
ellen Bewegungsabläufe der Täter. Die Er-
mittler zogen dazu sogar verschiedene
Kampfsportexperten zu Rate, um zu klä-
ren, ob ihre Angriffsart auf ein bestimmtes
Training schließen lasse oder eher improvi-
siert sei. Ergebnis: eher letzteres. Am Ende
ging man in der Soko Goetheplatz von ei-
ner spontanen, aus der Gelegenheit gebore-
nen Tat aus. Frank Magnitz ist der Chef der
Bremer AfD. Am Abend der Tat war er von
einer öffentlichen Veranstaltung im Stadt-
zentrum gekommen.
Das BKA hatte die Tat bereits als „links“
gezählt, da waren die Ermittlungen noch
nicht abgeschlossen. In einer BKA-Publika-
tion von Ende Juli zur „Kriminalität im
Kontext von Zuwanderung“ hieß es: „Aktio-
nen der linken Szene, insbesondere in
Form von Straftaten gegen den politischen
Gegner, wie der Angriff auf den AfD-Politi-
ker Frank Magnitz am 07.01.2019 in Bre-
men (. ..) wurden fortgesetzt.“
Wie die Staatsanwaltschaft Bremen be-
tont, lässt sich eine solche Zuordnung aber
letztlich eben nicht treffen. Die Hintergrün-
de der Tat blieben weiter ungeklärt. Auch
im eigenen politischen Umfeld des AfD-Po-
litikers habe man ermittelt – auf die Mög-
lichkeit hin, dass es dort Feindschaften ge-
ben könnte. Dem Fernsehsender Radio Bre-
men sagte Magnitz: Ob die Staatsanwalt-
schaft ihre Arbeit in diesem Fall ordentlich
erledigt habe, wolle er „stark in Frage stel-
len“. Sollte es neue Hinweise geben, kann
die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen
aber noch zehn Jahre lang wieder aufneh-
men. ronen steinke

von alan cassidy

Des Moines– Denviel zu großen Corn


Dog? Das triefende Kotelett? Oder doch


den frittierten Käseklumpen? Joe Biden ist


gerade erst an der Iowa State Fair angekom-


men, als er bereits vor einer der schwierigs-


ten Entscheidungen steht, die ein Präsi-


dentschaftskandidat hier treffen muss:


Was nur soll er essen? Möglichst fettig ist


gut, das suggeriert Volksnähe, doch zu-


gleich sollte sich das Ganze so verzehren


lassen, dass es auf den unweigerlichen Bil-


dern nicht aussieht, als täte man es zum


ersten Mal. Biden weiß das natürlich, es ist


schon seine dritte Kandidatur für die Präsi-


dentschaft, und vielleicht trifft er deshalb


eine ungefährliche Wahl: ein Eis am Stiel.


Da kann man nicht viel falsch machen.


Als Biden also in sein Eis beißt, sieht

Faye Sieck ihre Chance. Sie ist mit ihrem


Mann an der State Fair unterwegs und


steht jetzt zufällig in der Nähe des Eisstan-


des. Ist er das? Er ist es! Sieck drängelt sich


durch die Reporter und Mitarbeiter Bi-


dens, sie schafft es bis zu ihm durch, es gibt


ein Foto, einen Händedruck, ein paar war-


me Worte. „Ich werde ihn wählen“, sagt


Sieck danach: „Joe ist ein Guter.“ Sie bleibt


auch für die Rede, die Biden auf einem


Stück Gras hält, im Polohemd und mit Flie-


gersonnenbrille. Die LokalzeitungDes Moi-


nes Registerhat dafür wie immer einen


Platz auf dem Messegelände reserviert.


Fast alle der 24 demokratischen Präsident-


schaftskandidaten kommen in diesen Ta-


gen hierher, um eine Ansprache zu halten



  • und danach auch gleich den Rest des Staa-


tes mit Auftritten zu überziehen.


Die Pilgerfahrt nach Iowa im August ge-

hört fix in den politischen Kalender. Im


Bauernstaat im Mittleren Westen starten


Anfang Februar die Vorwahlen, in denen


die Demokraten den Herausforderer von


Präsident Donald Trump bestimmen. Das


ist zwar erst in einem halben Jahr, doch


trotzdem stecken die Kandidaten bereits


jetzt viel Zeit und Geld in den Wahlkampf


vor Ort, stellen Dutzende Mitarbeiter an


und umwerben lokale Parteigrößen.


Wer in Iowa gewinnt oder zumindest

gut abschneidet, erhält Schwung für die fol-


genden Vorwahlen. Das war etwa bei Ba-


rack Obama so, der 2008 überraschend in


Iowa gewann. Wer hier dagegen durchfällt,


für den ist die Kampagne womöglich be-


reits zu Ende, weil die Spenden ausbleiben,


weil der Eindruck entsteht: Er oder sie


packt es nicht. So erging es Biden bei sei-


ner letzten Kandidatur vor elf Jahren. Die


Wähler von Iowa als Königsmacher – und


als Henker.


Dabei ist Iowa für Amerika alles andere

als repräsentativ. Der Staat ist ausgeprägt


ländlich, die Bevölkerung weißer und älter


als anderswo. Dass hier jeweils zuerst ge-


wählt wird, hat historische Gründe, die


auch mit dem komplizierten Wahlsystem


zu tun haben. In Iowa werfen die Leute


nicht einfach einen Wahlzettel in die Urne,


sondern sie treffen sich zu einer Wahlver-


sammlung in ihrer Nachbarschaft, einem


sogenannten Caucus. In Schulhäusern und


Turnhallen debattieren sie dann über meh-


rere Stunden die Vor- und Nachteile einzel-


ner Kandidaten, bevor sie sich schließlich


entscheiden. Auf diesen Prozess sind die


Menschen in Iowa stolz. Wohl nirgendwo


sonst in den USA verfolgen die Wähler die


Politik so genau wie hier.


Es hat daher eine gewisse Logik, dass

die Politik auch an der State Fair eine wich-


tige Rolle spielt. Eine Million Besucher
lockt die Mischung aus Jahrmarkt und
Landwirtschaftsmesse in der Hauptstadt
Des Moines an, es gibt sie schon seit 1854,
als Iowa vor allem aus Prärie bestand. Die
beliebteste Sehenswürdigkeit ist eine le-
bensgroße Kuh aus Butter, die in einem ge-
kühlten Raum steht. Doch viele Leute kom-
men einfach, um sich den Magen vollzu-
schlagen. Mit Corn Dogs, natürlich, frittier-
ten Würsten in Maispanade, die auf einem
Holzspieß stecken, so wie überhaupt alles
hier frittiert und auf einen Holzspieß ge-
steckt wird. Aber manche zieht es eben
auch an die Fair, weil sie sich anhören wol-
len, was die Politiker zu erzählen haben.
Einer von ihnen ist Sojabauer Larry Mil-
ler. Seine Farm ist seit mehr als 120 Jahren
in Familienbesitz, doch so schwierig wie in
den vergangenen Monaten war die Lage
schon lange nicht mehr. Wegen Trumps
Handelskrieg gegen China hat er viele Kun-
den verloren. Trump unterstützte er – im
Gegensatz zu vielen anderen Bauern –
schon beim letzten Mal nicht, nun will er
erst recht einen Demokraten wählen, bloß
welchen? Sicher ist er sich nicht, aber er
tendiert zu Biden. „Er ist gemäßigter als
die anderen. Wir können nicht in einem
Land leben, in dem wir allen alles schen-
ken.“ Er meint damit zum Beispiel das Ver-

sprechen einiger Demokraten, den Zugang
zu einer College-Ausbildung kostenlos zu
machen. Die Demokraten müssten jeman-
den aufstellen, der auch für Unabhängige
wählbar sei. Und das sei Biden.
Begeisterung löst Biden bei Miller aller-
dings keine aus – und nicht nur bei ihm
nicht. Der 76-Jährige führt zwar die Umfra-
gen in Iowa an. Doch die Stimmung unter
den Leuten, die in diesen Tagen seine Wahl-
kampfveranstaltungen besuchen, ist eher
verhalten. Anders bei den Auftritten seiner
vielleicht größten Rivalin. Ein Hochzeits-
saal in Council Bluffs, zwei Stunden außer-
halb von Des Moines. Ein paar hundert Leu-
te sind gekommen, um sich Elizabeth War-
ren anzuhören, die Senatorin aus Massa-
chusetts. Der Empfang ist tosend, das Pu-
blikum begleitet ihre Rede mit Applaus
und Zurufen. Warren erzählt, wie sie es
trotz einer Jugend in ärmlichen Verhältnis-
sen bis zur Harvard-Professorin schaffte –
weil sozialer Aufstieg in Amerika früher
einfacher möglich war. Heute funktioniere
die Wirtschaft nur noch für die Reichsten.
„Sie hat recht“, sagt Lorinda Johnson,
die den Auftritt verfolgt hat. Die Rentnerin
lebt in Nebraska und hatte ihren Mann
überredet, sich mit ihr für einige Stunden
ins Auto zu setzen, um Warren zu sehen.
Warren sei unglaublich smart, sagt John-

son, und was sie über die Wirtschaft sage,
habe Hand und Fuß. „Sie hat in ihrer Karri-
ere bewiesen, dass sie auf der Seite der klei-
nen Leute steht.“ Sheila Ryan, Ausbilderin
für Pflegepersonal, glaubt, dass Warren
die nötige Energie habe, um gegen Trump
auf einer Bühne zu bestehen: „Sie würde
ihn auseinandernehmen.“ Ein gewisses
Stehvermögen beweist Warren zumindest
schon mal, indem sie sich nach der Anspra-
che Zeit nimmt, um sich mit einem Anhän-
ger nach dem anderen für Fotos hinzustel-
len – es sind Dutzende.

Lange Tage also für die Demokraten,
auch für Kamala Harris, die in vielen Um-
fragen auf Platz 3 liegt. Anders als Warren
war die Senatorin aus Kalifornien bisher
noch nicht oft in Iowa unterwegs. Sie ver-
sucht nun, ihren Rückstand mit einer fünf-
tägigen Bustour durch den Bundesstaat
wettzumachen. An diesem Mittag hält ihr
Bus im Ort Storm Lake, wo sie ein kleines
mexikanisches Restaurant besucht. Har-
ris, in Jeans und weißen Turnschuhen, be-
grüßt die Gäste an den Tischen, nimmt auf-

munternde Worte entgegen und bestellt
dann mit ein paar eingestreuten Brocken
Spanisch Tacos – „ohne rohe Zwiebeln!“.
Anschließend geht Harris mit einer Lehre-
rin aus dem Ort zurück zum Bus, sie reden
über den Klimawandel und über die öffent-
lichen Schulen, die mehr Geld brauchen.
Dann steigt die Senatorin in den Bus, die
Reporter hinterher, der Tross zieht weiter.
In Storm Lake kehrt wieder Ruhe ein.
Beim Mexikaner sitzt immer noch Dan
Loving, er war gekommen, um Harris per-
sönlich zu sehen. „Wir sind hier in Iowa
sehr privilegiert, was diese Besuche an-
geht“, sagt der 60-Jährige. Loving wählt
nicht immer demokratisch, aber was
Trump angehe, sei der Fall klar: „Er muss
weg.“ Also geht er mit System vor: „Ich
schaue mir so viele Kandidaten an wie mög-
lich und prüfe sie.“ Loving findet viele der
Demokraten sympathisch, aber ganz über-
zeugt hat ihn noch niemand. Ob jemand
deutlich links stehe oder eher in der Mitte,
sei zweitrangig: „Wir brauchen einfach je-
manden, der gegen Trump bestehen
kann.“ Lange habe er geglaubt, dass dies Bi-
den gelingen könne, inzwischen hat er
Zweifel: „Er ist halt schon ziemlich alt.“ Al-
so sucht Loving weiter. Sechs Monate blei-
ben bis zu den Vorwahlen – Zeit für viele Po-
litikerbesuche in Iowa.

Am 14. August 1989 überreichen Mitarbei-


ter desErfurter Kombinats Mikroelektro-


nik dem DDR-Staatschef Erich Honecker


ein Muster des ersten DDR-32-Bit-Mikro-


prozessors. Honecker ist so begeistert,


dass er einen alten Spruch der Arbeiterbe-


wegung zitiert: „Den Sozialismus in sei-


nem Lauf halten weder Ochs noch Esel


auf.“ Kurze Zeit später ist die DDR Ge-


schichte, das Zitat gilt bald als Symbol für


Honeckers Realitätsverlust.


SZ: Herr Sabrow, als Honecker vor 30 Jah-


ren den Sozialismus für unaufhaltsam er-


klärte, flüchteten bereits Tausende aus


der DDR, es gab Proteste, die Wirtschaft


lag am Boden. Wollte der SED-Chef die


dramatische Lage nicht wahrhaben?


Martin Sabrow: Er hatte sich in den Jahren


zuvor sehr weit von der Innenpolitik weg-


und zur Außenpolitik hinbewegt und den


Eindruck gewonnen, dass die DDR ein


Staat internationalen Formates geworden


sei. Und zu dieser Auffassung konnte er


auch gute Gründe haben, wegen der Wert-


schätzung und Anerkennung, die er in der


westlichen Welt erfuhr.


Trotzdem pries Honecker die innere Stär-


ke der SED. Als der SPD-Politiker Johan-


nes Rau ihn fragte, warum die Stimmung


in seinem Land so mies sei, antwortete Ho-


necker: „Die Einheit der Massen mit der


Partei war noch nie so stark wie heute.


Das Volk steht hinter der Partei.“


Als Johannes Rau ihn zur Leipziger Früh-
jahrsmesse 1989 besuchte, zog die FDJ
Fähnchen schwingend an Honecker vor-
bei. Da fühlte er sich wohl in seniler Senti-
mentalität an seine Jugendzeit und seine
Zeit als FDJ-Gründer erinnert und ließ sich
von dieser Stimmung mitreißen. Es war
ihm natürlich längst nicht so deutlich wie
uns heute, dass das gesamte Herrschafts-
system der DDR einem Potemkinschen
Dorf glich. Die Funktionärselite lebte in ei-
ner Blase, in der es nur ihr selbst gut ging.
Ein eindrucksvolles Beispiel bietet das ge-
schminkte Äußere der sogenannten Proto-
kollstrecke von Wandlitz nach Berlin, an
der verwahrloste Hausfassaden bis zum
ersten Stock aufgefrischt wurden – höher
reichte der Blick des Generalsekretärs
durch die Seitenscheiben seiner Staatsli-
mousine nicht.
Honecker war also völlig abgeschirmt?
Sicherlich lebte Honecker in Imagination
eines täglich neu inszenierten Konsenses
zwischen Volk und Führung. Auf der ande-
ren Seite war er kein Traumtänzer. Auch
ihm war zumindest in Umrissen bewusst,
wie schwierig die wirtschaftlichen Rah-
menbedingungen waren. Er verließ sich
hier auf den autoritären Lenkungsstil sei-
nes Wirtschaftsverantwortlichen Günter
Mittag und verbot Gerhard Schürer, dem
Leiter der Plankommission, das Wort, als
der ihn wiederholt über die desolate Lage
unterrichten wollte.
Das klingt, als hätte er die Realität be-
wusst ausgeblendet?
Er hat die negativen Bilder der Innenpoli-
tik durch die außenpolitischen Erfolge
kompensiert und nicht erkennen wollen,
dass es ein Wechselverhältnis von äußerer
Integration und innerer Auflösung des Re-
gimes gab. Die internationale Integration
bedeutete ja, dass die DDR aus ihrer Isolie-
rung ein Stück weit heraustreten musste.
Zum Beispiel durch die wechselseitigen Be-
suche von BRD- und DDR-Politikern. Das
hat Honecker als Stärkung empfunden,
faktisch führte es in das Gegenteil: in eine
Schwächung.

Im Spätsommer 1989 war Honecker be-
reits schwer krank, er litt an Krebs. Weni-
ge Tage nach dem Spruch wurde ihm die
Galle entfernt. War er überhaupt noch fä-
hig, die Geschicke der DDR zu leiten?
Er selbst sagte nach seiner Absetzung im
Politbüro am 17. Oktober 1989 zu einer Ver-
trauten, dass er eigentlich froh sei – er hät-
te diese Last nicht mehr tragen können.
Sein gesundheitlicher Zusammenbruch in-
folge einer Gallenkolik ereignete sich beim
Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten in
Bukarest im Juli 1989. Honecker wurde
später in Ostberlin operiert und war eine
Zeit lang außer Gefecht gesetzt. Aber im
September glaubte Honecker, er könnte er-
frischt weitermachen. „So, da wären wir
wieder“, sagte er, als er im Politbüro auf-
tauchte. Dass er auch an Nierenkrebs litt,
erfuhr er erst im Januar 1990. Eine Redukti-
on der geistigen Spannkraft ist bei ihm
schon beobachtbar gewesen. Das bestimm-
te auch in starkem Maße sein Handeln. Ich
denke da an den von ihm am 1. Oktober

1989 in eine Nachrichtenmeldung hineinre-
digierten Satz über die DDR-Botschafts-
flüchtlinge, denen man keine Träne nach-
weinen sollte. Hier zeigte sich eine starke
Engstirnigkeit und Eigensinnigkeit, die im
Nachhinein als Beschleunigung des Unter-
gangs gelesen wird. Man kann diese Lesart
allerdings auch umdrehen und sagen: Die-
se Engstirnigkeit könnte die Vorausset-
zung gewesen sein, um ohne Blick nach
links und rechts einen Kurs beharrlich wei-
terzuverfolgen, der sonst schon früher ge-
scheitert wäre.

Vor Gericht sagte Honecker 1992, die DDR
habe gezeigt, „dass Sozialismus möglich
und besser sein kann als Kapitalismus“.
Honecker war ein Kommunist von der ers-
ten bis zur letzten Stunde seines politi-
schen Lebens. Er verarbeitete das Ende der
DDR nicht als traumatisches Ende des Sozi-
alismus, sondern als temporäre Niederla-
ge, aus der man gestärkt hervorgehen wer-
de. interview: thomas balbierer

Irgendwo in Iowa


Kühe,Bauern, Butter – in dem US-Bundesstaat geht meist beschaulich zu. Weil hier jedoch die ersten


Vorwahlen für die Präsidentschaft stattfinden, pilgern alle vier Jahre die Kandidaten in den Mittleren Westen


Attacke ohne Täter


Ermittlungennach Angriff auf AfD-Politiker Magnitz eingestellt


Martin Sabrow, 65,ist
Direktor des Potsdamer
Zentrums für Zeithistori-
sche Forschung und
Professor an der Hum-
boldt-Universität Berlin.
Er arbeitet am zweiten
Band seiner Honecker-Bio-
grafie, der erste Band
erschien 2016.FOTO: DPA

Berlin –Für die Drohung aus Berlin hat
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro nur Ver-
achtung übrig: „Brasilien braucht dieses
Geld nicht“. Deutschland höre nun endlich
auf, den Amazonas zu „kaufen“, sagte er
am Sonntag in Brasília. Umweltprojekte
und andere soziale Aktivitäten, die seiner
Politik im Weg stehen, betrachtet Bolsona-
ro als Einmischung von außen, etwa in die
wirtschaftliche Erschließung Amazoniens,
die er betreibt.
Weil die Abholzung des Regenwaldes in
Brasilien deutlich zugenommen habe, hat-
te Bundesumweltministerin Svenja Schul-
ze am Samstag angekündigt, Fördermittel
für brasilianische Waldschutzprojekte von
35 Millionen Euro einzufrieren. Seit 2008
waren 95 Millionen Euro aus der internatio-
nalen Klimaschutzinitiative des Umwelt-
ministeriums nach Brasilien geflossen. Sie
wolle damit ein „Signal“ setzen, sagte ihr
Sprecher. Zugleich habe Schulze an Part-
ner der Bundesregierung appelliert, ihre
Zahlungen an Brasilien ebenfalls zu über-
denken. Gemeint ist der Amazonas-Fonds,
den Deutschland und die norwegische Re-
gierung sowie der brasilianische Ölkon-
zern Petrobras befüllen. Eine Sprecherin
von Außenminister Heiko Maas stand
Schulze bei: Es sei „sehr nachvollziehbar“,
die Dinge auf den Prüfstand zu stellen.

Einen anderen Ansatz verfolgt Bundes-
entwicklungsminister Gerd Müller (CSU),
der für den deutschen Anteil am Amazo-
nas-Fonds von 55 Millionen Euro verant-
wortlich ist. Er reagierte kritisch auf Schul-
zes Bitte: „Jeder, der die herausragende Kli-
mafunktion des Regenwaldes erhalten
will, muss diese Maßnahmen verstärken
und nicht beenden“, sagte er. Müller hatte
im Juli mit Brasiliens Umweltminister ge-
sprochen. „Wir haben vereinbart, gemein-
sam einen neuen Ansatz der Zusammenar-
beit zur Fortsetzung des Amazonas-Fonds
zu erarbeiten“, so Müller. Mit dem Fonds
seien „viele Erfolge erzielt worden“.
Die Zerstörung des Amazonas-Regen-
walds nimmt seit Bolsonaros Amtsantritt
dramatisch zu: Im Juli wurde laut brasilia-
nischem Weltrauminstitut INPE drei Mal
so viel Regenwald illegal abgeholzt wie im
gleichen Monat des Vorjahres. Bolsonaro
bezeichnete die Darstellung des Instituts
sogleich als „Lüge“; INPE-Chef Ricardo
Galvao wurde gefeuert. Er handele im Auf-
trag ausländischer Aktivisten, unterstellte
ihm Bolsonaro. Bei seinem Amtsantritt hat-
te der Präsident angekündigt, Schutzgebie-
te für die Ausbeutung freizugeben.
Weideflächen und der Anbau von Soja,
Palmöl und anderen landwirtschaftlichen
Produkten kosten den Regenwald riesige
Flächen, im Juni 920 Quadratkilometer.
Die Umweltorganisation WWF forderte,
mehr in die Waagschale zu werfen: „Ein ge-
eignetes Druckmittel sind die Verhandlun-
gen um das Freihandelsabkommen mit
dem Mercosur, wo bei den Sozial- und Um-
weltstandards dringend nachgebessert
werden muss.“ Die südamerikanische Wirt-
schaftsgemeinschaft Mercosur und die Eu-
ropäische Union wollen die größte Freihan-
delszone der Welt schaffen.kristiana
ludwig, sebastian schoepp Seite 4

6 HF2 (^) POLITIK Dienstag,13. August 2019, Nr. 186 DEFGH
Entwicklungsminister Müller
will die „Maßnahmen verstärken
und nicht beenden“
Kamala Harris empfängt in einem
mexikanischen Restaurant – und
demonstriert Spanischkenntnisse
Volksnähe demonstrieren und möglichst viele Hände schütteln: Die meisten Bewerber für die US-Präsidentschaftskandidatur – in der Mitte Joe Biden (blaues Hemd)



  • besuchendie State Fair in Des Moines, eine Mischung aus Volksfest und Landwirtschaftsmesse. FOTO: ERIC THAYER/REUTERS


DDR-Staatschef Honecker, hier auf einem FDJ-Fest in Berlin, hing bis zu seinem Tod
in Chile an den „schönen Erinnerungen an die DDR“. FOTO: SVEN SIMON / IMAGO

Wer in Iowa gewinnt, erhält


Schwung für die Vorwahlen



  • so wie 2008 Barack Obama


Das BKA ging von Tätern aus


der linken Szene aus, doch nicht


einmal das ist sicher


Umstrittener


Amazonas-Fonds


Deutsche Minister uneins über


Fördergelder für den Regenwald


Erich, Ochs und Esel


Der Historiker Martin Sabrow spricht über die Engstirnigkeit, mit der Honecker noch im August 1989 den Sozialismus pries

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