Süddeutsche Zeitung - 13.08.2019

(nextflipdebug5) #1
von tobias kniebe

E


s liegt eine Last auf diesen Bildern,
so wenig man es zunächst auch
sieht. Da fährt ein junges Paar im of-

fenen Roadster durch Hollywood. Der


Fahrtwind zaust seine schulterlange Mäh-


ne und ihre blonden Strähnen, kaum ge-


bändigt von einem bunten Tuch. Er zaust


auch das Fell des kleinen Yorkshire Terri-


ers auf ihrem Schoß. Im Radio läuft, mit


dengelnden Surfgitarren, der Song „Treat


Her Right“ vonRoy Head and The Traits.


Das Leben dieser beiden scheint in golde-

nes Licht getaucht, vor ihnen liegen Glück


und Ruhm, Abenteuer und Elternschaft.


Dann wuchern Bäume am Wegesrand, die


Straße windet sich nach oben in einen Can-


yon, immer weiter hinauf, bis zu einer


Sackgasse kurz vor dem Himmel, dem Cie-


lo Drive. Schließlich sind sie angekommen,


das Einfahrtstor ihrer Villa öffnet sich. End-


lich daheim – und zugleich im Herz der


Finsternis, am Ort der kommenden Kata-


strophe.


Bis hierhin sind keine Namen gefallen in

„Once Upon a Time In Hollywood“, aber es


gibt schon ein exaktes Datum: Samstag,


der 8. Februar 1969. Und wer mit Quentin


Tarantinos Kosmos vertraut ist, der wird


gleich erkennen, wen er mit diesem Paar


porträtiert. Es sind Roman Polanski und


Sharon Tate, zu diesem Zeitpunkt seit ei-


nem Jahr verheiratet. Er der „Rosemary’s


Baby“-Erfolgsregisseur aus Polen, sie das


neue It-Girl. Aber damit endet das Wissen


natürlich nicht.


Denn wenn jetzt Februar ist, hat Tate

noch sechs Monate zu leben. In der Nacht


vom 8. auf den 9. August wird sie ermor-


det werden, hochschwanger, von Mitglie-


dern der Manson Family. Ein Tag, der in


Los Angeles bis heute als eine Art Urkatas-


trophe gilt, eine Wendung der Dinge ins


Mörderische. Als das neue, freie, drogenbe-


rauschte Hollywood, das doch das alte und


korrupte ersetzten wollte, selbst von dämo-


nischen Kräften zerfetzt wurde. Sogar den


Hund erwartet ein grausames Schicksal: In


der Garageneinfahrt wird er überfahren


werden.


Wie dieser Film wohl wirken mag, wenn

man das alles noch nicht weiß? Vielleicht


ein wenig rührend, entwaffnend, alltäglich


banal: Tate (Margot Robbie) kauft in ihren


nächsten Szenen ein Exemplar von Tho-


mas Hardys Roman „Tess von den d’Urber-


villes“, damit ihr Mann das Buch mit ihr


verfilmt. Sie geht allein ins Kino, in das


wunderschöne Bruin Theater in West Hol-


lywood, und schaut einen Film mit sich


selbst und Dean Martin an, „The Wrecking


Crew“. Sie fährt mit ihrem Mann (Rafal Za-


wierucha) zu einer Party in der Playboy


Mansion, wo sie ausgelassen tanzt, mehr


passiert aber nicht.


Auch nicht gerade weltbewegend ist das

Leben ihres Nachbarn am Cielo Drive. Rick


Dalton, mit Verve verkörpert von Leonardo


DiCaprio, war einst der Star der Westernse-


rie „Bounty Law“, in Polankis neuem Holly-


wood aber kriegt er nur noch zweitklassige


Schurkenrollen. Rick Dalton ist eine fiktive


Figur. So leben Wirklichkeit und Erfin-


dung Seite an Seite in Tarantinos Kopf –


und zugleich in dieser Sackgasse ganz


oben im Benedict Canyon:Driveway to Hea-
ven. Driveway to Hell.
Rick hat einen besten Freund, Fahrer
und Kompagnon, der früher sein Stunt-
man war: Cliff Booth, eine wahre Traumrol-
le für Brad Pitt. Das Leben dieser beiden
beschreibt Tarantino nun weitaus raum-
greifender als die Episoden mit Sharon Ta-
te. Rick trifft etwa einen legendären Agen-
ten (Al Pacino), der mit ihm seine Karriere
diskutiert, inklusive hilfreich eingeschnit-
tener Clips mit Cowboy-Duellen und bren-
nenden Nazis. Sein Rat: Dalton sollte drin-
gend Spaghettiwestern drehen.
Die dazugehörige Erkenntnis, dass er
jetzt wirklich abgehalftert ist, trifft Rick so
richtig erst auf dem Parkplatz, wo ihm Trä-
nen in die Augen schießen. Er vergräbt sei-
nen Kopf in der Schulter des Freundes, der

ihm gut zuredet und ihm seine Sonnenbril-
le leiht. DiCaprio und Pitt spielen das voll-
kommen ernst. Denn worüber sollte ein
Mann bei Tarantino weinen, wenn nicht
über den Verlust seiner kreativen Potenz?
Dieser Regisseur kündigt immer wieder
an, nach dem zehnten Film sei Schluss bei
ihm, danach nämlich drohe Zweitklassig-
keit und Vergreisung. „Once Upon a Time
in Hollywood“ ist sein neuntes Werk.
Bei Sharon Tate geht es um die Euphorie
des Anfangs und den Lockruf des Ruhms,
bei Rick Dalton darum, im Niedergang ei-
ne Würde zu bewahren, was ihm beim
Dreh einer Schurkenszene mit einem neun-
jährigen Mädchen, einem rührend nase-
weisen Co-Star, auch gelingt. Vor allem
aber geht es um den Stolz jener Filmarbei-
ter, die nicht im Rampenlicht stehen, wie

Cliff Booth: Weil er sich nicht als Knecht
fühlt, sondern als eine Art Ordensritter auf
Lebenszeit, auch wenn ihn am Set keiner
mehr braucht.
Nun handeln untergründig ja viele Ta-
rantino-Werke vom Zauber des Filmema-
chens. Hier aber wird es explizit. So leuch-
ten im Vorbeifahren immer wieder die Ne-
onzeichen von Kinos auf, die es längst
nicht mehr gibt, dazu Billboards und
Werbeplakate von Filmen, die damals lie-
fen. Dass diese Welt aber auch hermetisch
ist, ein Reich der Märchen und des „Es war
einmal“, das am Ende kein Außen kennt –
das schwingt hier so deutlich mit wie noch
nie.
Denn da ist ja noch die monströse Blut-
tat, die in den Köpfen der Manson-Hippies
heranreift, jenseits der Hügel. Die Zeichen

kann man sehen: Einmal warten Rick und
Cliff an der Ampel im riesigen Cadillac,
während lichtumflorte Blumenkinder mit
Kisten und Körben die Straße überqueren,
Manson-Girls, auf der Jagd nach Essba-
rem aus den Abfallcontainern der Super-
märkte. Einmal steht sogar der bärtige Gu-
ru, Charles himself, vor der Tür am Cielo
Drive und fragt nach dem Vormieter Terry,
der dort aber nicht mehr wohnt.
Cliff ist es dann, der beide Welten einmal
kurz verbinden wird. Am Straßenrand
fängt er den Flirtblick des hübschesten
Manson-Mädchens auf, hält an, willigt ein,
sie mitzunehmen. Für einen Augenblick
darf Kitty Kat (umwerfend gut: Margaret
Qualley) die reine Verheißung sein, ein Ver-
sprechen auf Lust und befreiten Sex. Im
nächsten Moment wird sie dann schon zur

Bedrohung. Cliff fragt nach ihrem Aus-
weis, kommt zur Besinnung und spürt am
Ende der Fahrt schon den Hass ihrer Freun-
de, der künftigen Mörder.
Schließlich, nach einem Sechsmonats-
sprung, kommt der Tag, wo es wirklich
mörderisch wird, und sehr brutal. Was
macht Tarantino aus diesen Minuten, auf
die natürlich alles hinausläuft? Verraten
sei nur, dass er den Überfall auf diese un-
vollendete Filmgöttin und ihre Freunde äu-
ßerst persönlich nimmt – als einen Angriff
auf die heiligen Kinder des Hollywood-
Olymps, ein Auslöschen aller Filme, die er
mit Sharon Tate gerne noch gern gesehen
hätte, als eine Attacke gegen das Kino
selbst.
Durchgedrehte Hippies, die so etwas wa-
gen, müssen mit Tarantinos heiligem Zorn
rechnen. Durchgedrehte Hippies, die ihre
Tat dann auch noch dem Kino und dem
Fernsehen anlasten – wie sonst wären sie,
mit all den fiktionalen Morden, auf Gewalt
konditioniert worden? –, steigern die Wut
dieses Filmemachers ins Unermessliche.
Nichts hasst er mehr, als in Interviews mit
dieser These konfrontiert zu werden. Die
Folgen bekommt vor allem Manson-Jünge-
rin Susan Atkins (Mikey Madison) zu spü-
ren, die es gewagt hat, diese Begründung
zu konstruieren.

Und doch, Hass ist nicht der Kern dieses
Films. Eigentlich ist er von einer seltsamen
Unschuld durchzogen, zuerst sehr unter-
gründig, bis man sich fragt, wer hier eigent-
lich schaut, wessen Blick, neugierig, ah-
nungsvoll, begierig auf jedes Detail, jede
der Szenen prägt. Er gehört zu keiner der
Hauptfiguren, so viel ist schnell klar. Und
auch keinem souveränen Erzähler, bewaff-
net mit allem historischen Wissen. Wem
aber dann?
„Dies ist mein Erinnerungsfilm“, hat Ta-
rantino gesagt. „Das bin ich, das ist das
Jahr, das mich geformt hat. Das ist meine
Welt, mein Liebesbrief an Los Angeles.“
Und plötzlich versteht man – hier schaut
ein kleiner, sechsjähriger Junge. Der Jun-
ge, der Tarantino selber war, im Jahr 1969.
Der mit seiner sehr jungen Mutter und sei-
nem Stiefvater in Torrance lebte, ganz im
Süden von Greater Los Angeles, und die-
sen riesigen Stadtraum zuerst im Familien-
auto durchmessen hat, auf dem Rücksitz.
All die Kino-Billboards und Logos an den
Shops und Restaurants, die man jetzt auf
der Leinwand sieht, auf den Autofahrten
über die großen Boulevards, sie erzählen
von einem Land der Verheißung. Aufgela-
den mit der Aura des noch Unerreichbaren,
des erst halb Verstandenen, des Unwider-
stehlichen. Die das Neon leuchten lässt in
der Nacht, bis es ins Herz brennt, und die
Sonne flirren lässt am Tag, bis die Augen
tränen. Wer es schafft, dass seine Zuschau-
er eine solche Sehnsucht spüren, ganz los-
gelöst von der großen Erzählung im Vorder-
grund – der wird schon sehr zu Recht ein
Meister genannt.

Once Upon a Time in Hollywood, USA 2019 – Regie
und Buch: Quentin Tarantino. Kamera: Robert Ri-
chardson.Schnitt: Fred Raskin. Mit Leonardo DiCa-
prio, Brad Pitt, Margot Robbie, Margaret Qualley.
Sony, 161 Minuten.

Vergangene Woche bei den Innsbrucker


Festwochen der Alten Musik: Bei Riccardo


Broschis Oper „Merope“ ist der Tenor weni-


ge Tage vor der Premiere erkrankt. Das ers-


te Problem: Seit dreihundert Jahren hat


niemand mehr die Partie in dem gerade


wieder ausgegrabenen Werk gesungen.


Das zweite: Die Regisseurin Sigrid T’Hooft


arbeitet mit barocker Gestensprache, die


kein Sänger in wenigen Tagen lernen


kann. Am Ende singt ein Tenor die Partie


von Noten aus dem Orchestergraben, auf


der Bühne wird die Figur von einem italie-


nischen Schauspieler dargestellt. Opernall-


tag, der kaum Schlagzeilen macht.


Ganz anders liegt die Sache, wenn Anna
Netrebko absagt. Wegen einer Erkältung


ließ sie die mittlere von drei Vorstellungen


bei den Salzburger Festspielen ausfallen,


danach sagte sie ihr lang erwartetes Debüt


bei den Bayreuther Festspielen als Elsa im


„Lohengrin“ an diesem Mittwoch ab. Dass


die Sängerin gleichzeitig Fotos von sich


beim Baden nahe Salzburg oder aus fernen


Ländern auf Instagram postete, lässt die


Spekulationen ins Kraut schießen. Sagen


Sänger inzwischen wichtige Vorstellungen


ab, wenn sie sich ein wenig müde fühlen?


Er habe nicht den Eindruck, dass häufi-

ger abgesagt werde als früher, sagt Till-


mann Wiegand, Künstlerischer Betriebsdi-


rektor der Hamburgischen Staatsoper.


Nur falle es bei Stars wie Netrebko mehr


auf. „Die meisten Sängern machen ihren


Beruf aus Herzblut.“ Schon deshalb sagten


sie nicht gern ab – und durchaus auch aus


Kostengründen. „Wenn man am Vormittag


absagt, ist das ganze Geld weg.“ Zumindest


für die, die, wie die meisten prominente-


ren Sänger, freiberuflich arbeiten. Tritt ein


Sänger nicht auf, dann verdient er nichts –


so einfach, so hart ist das Geschäft.


„Häufig ist es eher so, dass man Sänger

vor sich selbst schützen muss“, bestätigt


der Stimmfacharzt Matthias Echternach,


der am Klinikum der Münchner Ludwig-


Maximilians-Universität die Abteilung für


Phoniatrie und Pädaudiologie leitet und


viele bekannte Sänger betreut. Dass er


selbst in einem Knabenchor sang und dem


Kammerchor Stuttgart angehört, hilft ihm


bei seiner Tätigkeit. Schließlich hängt es


von vielen Faktoren ab, wie sich ein Sänger
fühlen muss, damit er auftreten kann. So
bestätigt Echternach aus seiner Praxis die
alte Hausweisheit, dass höhere Stimmen
anfälliger sind als tiefe, dass – was er als se-
riöser Mediziner so nie ausdrücken würde


  • der Bass nach der Abendprobe noch aus-
    gehen kann, während die Sopranistin bes-
    ser gleich ins Bett geht. Auch leichte Kolora-
    tursoprane müssen schneller absagen als
    ihre schwerer gelagerten Kolleginnen, weil
    sie häufiger Spitzentöne und schnelle Kolo-
    raturen singen müssen. Entscheidend sei
    die Schwingfähigkeit der Stimmlippen,
    sagt Echternach. Ist der Rachenraum ent-
    zündet, geht noch einiges. Ist aber erst der
    Kehlkopf betroffen, wird es schwierig.


Ob Echternach jemandem zum Auftritt
rät oder nicht, bleibt aber eine Einzelfall-
entscheidung. Es hängt neben dem Befund
von der Technik des Sängers ab und davon,
„wie gut er seine Partie im Körper hat“, wie
oft er sie schon gesungen hat. Die menschli-
che Stimme unterscheidet sich schließlich
von allen anderen Instrumenten dadurch,
dass sie selbst Teil des Körpers ist. Er kön-
ne sich vorstellen, dass die Partie der Elsa
auch in dieser Hinsicht eine „Herausforde-
rung“ für Netrebko gewesen sei, sagt Ech-
ternach. Schließlich hat sie die Partie bis-
her nur vor zwei Jahren in Dresden gesun-
gen und verfügt auch sonst kaum über Er-
fahrungen im deutschen Fach. Bei Wagner
kommt noch die schiere Länge dazu. „Eine
kleine Partie kann man auch mit Infekt
noch singen, aber für einen Tannhäuser
muss man wirklich gesund sein.“
Eine, die solche Längen regelmäßig
durchsteht, ist Petra Lang. Bei den Bayreu-
ther Festspielen singt sie momentan die
weibliche Titelpartie in Wagners „Tristan
und Isolde“. Lang, die selbst einmal Medi-
zin studieren wollte, achtet darauf, dass sie
möglichst gar nicht erst krank wird, mit ei-
ner gesunden Ernährung und vor allem
ausreichend Schlaf. „Wenn der Körper aus-

geruht ist, kann er auf sehr vieles anders re-
agieren.“ Es sind die Ratschläge, die auch
Echternach seinen Sängern gibt: viel
Nachtruhe, wenig Kaffee und Alkohol, kein
spätes Essen. Milch zum Beispiel ist ein ge-
fürchtetes Getränk, weil sie durch den
Zwerchfelldruck beim Singen wieder hoch-
kommt, ebenso alles scharf Gewürzte.
Doch ein geregeltes Leben zu führen ist
alles andere als einfach in einem Beruf, in
dem man bis spät abends auf der Bühne
steht und danach schon wegen des Adrena-
lins kaum schlafen kann. Begehrte Sänger
pendeln zwischen den großen Opernhäu-
sern und sind viel unterwegs. Petra Lang
hat deshalb beschlossen, nicht mehr als
vierzig Abende im Jahr zu singen, auch
wenn die Angebote für eine Brünnhilde
oder Isolde finanziell noch so verlockend
sind. Gerade bei langen Flügen achtet sie
darauf, immer schon zwei oder drei Tage
vorher in der Stadt des Auftritts zu landen.

Während des Flugs trägt sie eine spezielle
Gesichtsmaske, die ein Befeuchtungssys-
tem enthält. Der Austrocknungseffekt
durch das Fliegen ist bei Sängern genauso
gefürchtet wie der von Klimaanlagen.
Das alles fordert viel Planung, oft für Jah-
re im Voraus, weil Termine mit erfolgrei-
chen Sängern sehr langfristig vereinbart
werden. „Manche sagen dann mehr Termi-
ne zu, als eigentlich in den Kalender pas-
sen“, sagt Verena Vetter, die als Agentin
beim Münchner Künstlersekretariat am
Gasteig viele Sänger betreut. Besonders
bei sehr prominenten Sängern wie Anna
Netrebko sei der Druck groß, viele Auftrit-
te anzunehmen. Daneben noch Ruhe- und
Vorbereitungszeiten einzuplanen, ist nicht
einfach. Zumal kein Sänger hundertpro-
zentig einschätzen kann, wie sich seine
Stimme entwickeln wird. Oft steht eine Par-
tie genau dann im Kalender, wenn der Sän-
ger sie nicht mehr oder noch nicht wirklich
„im Körper“ hat. „Es ist manchmal schwie-
rig einzuschätzen, was in vier Jahren sein
wird“, sagt auch Petra Lang.
Ein vor Jahren überfüllter Terminkalen-
der kann dann dazu führen, dass ein Sän-
ger tatsächlich krank wird oder allzu kurz-
fristig erst die Notbremse zieht. Auch weil
er durchaus weiß, dass in der Oper ein gro-
ßer Apparat von ihm abhängig ist und er ja
vielleicht doch wird auftreten können.
„Man kann mit einem Schnupfen eine Vor-
stellung singen, wenn man die Technik
hat“, sagt Petra Lang, abhängig auch da-
von, „wie die Partie liegt“.
„Eine Mozart-Oper oder ein Liedpro-
gramm kriegt man immer noch ganz gut
hin, wenn andere Sache schon nicht mehr
gut gehen“, bestätigt ihr Kollege Daniel
Behle, der derzeit in Bayreuth den David in
den „Meistersingern von Nürnberg“ und
den Walther von der Vogelweide in der Neu-
inszenierung des „Tannhäuser“ singt. Es
gebe einfach Auftritte, sagt er, die man um
keinen Preis absagen wolle, weil man be-
reits viel in die Probenzeit investiert habe
oder sich besonders auf die Rolle gefreut
habe. Besonders ärgerlich seien Erkran-
kungen bei CD-Aufnahmen, weil diese lan-
ge vorher geplant seien und sich nur
schwer ein zweites Mal realisieren ließen.

Behle greift dann auch mal zu schärferen
Mitteln, inhaliert zum Beispiel Erkältungs-
salben, „obwohl jeder Hals-Nasen-Ohren-
Arzt sagt, dass das zu scharf ist“.
Besonders ärgerlich ist eine Absage auch
dann, wenn ein Sänger eine Vorstellung als
karriereentscheidend wahrnimmt, also sie
unter erhöhter Aufmerksamkeit in einer
noch relativ frühen Stufe des Lebenswegs
stattfindet. Für solche Fälle gibt es bei
schweren Erkältungen einen letzten Aus-
weg: Cortison, als Tabletten oder
schlimmstenfalls intravenös während der
Vorstellung. Es lässt die Stimmbänder so-
fort abschwellen, kann aber erhebliche
Spätfolgen haben. Matthias Echternach.
rät deshalb Sängern immer zuerst zu einer
konservativen Partie, empfiehlt zunächst
einfach Stimmruhe. „Wenn man Zeit hat,
ist Ausheilenlassen das Beste.“ Dass es das
„Abschwellen per Spritze“ gebe, leugnet er
dennoch nicht.

Petra Lang hat sich dieser Methode im-
mer verweigert, auch als sie einmal erleb-
te, wie ihr ein offensichtlich vom Intendan-
ten instruierter Arzt die Spritze geradezu
aufdrängte. Daniel Behle gibt dagegen zu,
dass er für eine CD-Aufnahme schon zu
Cortisontabletten gegriffen hat. „Dann
kannst du deine Sache erst mal durchzie-
hen, bist aber danach drei Wochen mit ir-
gendwelchen Halsinfekten beschäftigt.“
Dabei kann es uneinschätzbare Folgen
haben, wenn man erkältet singt. In den
Stimmlippen sind die Äderchen geweitet,
was sie leichter platzen lässt. Das kann zu
einem Bluterguss oder zu einem Ödem füh-
ren, einer dauerhaften Schwellung der
Stimmlippe durch Flüssigkeitsansamm-
lung. Manchmal heilen solche Ödeme von
selbst wieder aus, in anderen hilft nur noch
die Operation, wenn auch als „Ultima Ra-
tio“, wie Matthias Echternach sagt.
Von den Tenören Jonas Kaufmann und
Rolando Villazón ist bekannt, dass sie sich
solchen Stimmbandoperationen unterzie-

hen mussten. Villazón hat danach nie
mehr das herrliche schimmernde Timbre
seiner Jugend wiedergewonnen, in die Hö-
he kommt er nur noch mit großer Mühe.
Die Operation, sagt Echternach, sei oft nur
ein „Teil der Wahrheit“, weil die Stimme
systematisch auch in der Funktion wieder
aufgebaut werden müsse.
Auch aus solchen Gründen ist Tillmann
Wiegand keinem Sänger persönlich böse,
wenn er absagt. Letztlich müsse man ihm
sowieso vertrauen, weil das Attest reine
Formsache sei. „Kein HNO-Arzt zwingt ei-
nen Sänger zum Auftritt; er kann die Ver-
antwortung gar nicht übernehmen.“ Bei
Proben wisse man manchmal nicht genau,
ob ein Sänger tatsächlich krank sei oder
einfach keine Lust habe. Bei Vorstellungen
erlebt der Betriebsdirektor der Hamburgi-
schen Staatsoper das eher nicht. Deshalb
lädt er Sänger in aller Regel auch dann er-
neut ein, wenn sie absagen. Nur wenn er
mitbekommt, dass sie während der Zeit ih-
rer Krankmeldung an anderen Orten Vor-
stellungen singen, wird er misstrauisch.
Aber an sich sei Krankheit nun mal „keine
Schuldfrage.“ michael stallknecht

DEFGH Nr. 186, Dienstag, 13. August 2019 HF2 9


Feuilleton


Tragödie des Menschseins –


die Oper „Œdipe“ von
George Enescu in Salzburg 11

Literatur


Die große russische Autorin


Ljudmila Petruschewskaja erzählt
von ihrer Kindheit 12

Wissen


Gene für die Magersucht:


Anorexie könnte nicht
nur psychisch bedingt sein 14

www.sz.de/kultur

Böse Hippies hinterm Hügel


Quentin Tarantino erzählt in seinem Film „Once Upon a Time in Hollywood“ vom Los Angeles des Jahres


1969 und der Bande um Charles Manson, deren Morde der Regisseur mehr als persönlich nimmt


„Für einen Tannhäuser muss man wirklich gesund sein“


Anna Netrebko hat Bayreuth wegen einer Erkältung abgesagt. Wie halten Hochleistungssänger ihre Stimme fit, und was machen sie, wenn sie krank werden?


Leonardo DiCaprio und Brad Pitt


geben ein tolles Paar ab, der eine


ein Star, der andere sein Stuntman


Viel Nachtruhe, wenig Kaffee
und Alkohol, kein spätes Essen.

Milch ist gefürchtet


Rolando Villazón unterzog sich
einer Stimmbandoperation – und

verlor sein schimmerndes Timbre


Die Reklametafeln, Shops


und Kinopaläste erzählen von


einem Land der Verheißung


FEUILLETON


WelcheFilme hätte sie uns noch geschenkt, fragt Tarantino, wenn sie nicht umgebracht worden wäre? Margot Robbie als Sharon Tate. FOTO: SONY

Petra Lang als Isolde. FOTO: ENRICO NAWRATH

HEUTE

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