SONNTAG, 18. AUGUST 2019 / NR. 23 918 WWW.TAGESSPIEGEL.DE SEITE S 1
„Über Wessis zu lästern,
ist entlastend“
Exzellente Residenzen Warum Autos
die neuen Zeltplätze sind – Seite 7
Herr Mau, in Ihrem neuen Buch „Lütten Klein“ ge-
hen Sie der Frage nach, warum sich Ostdeutschland
bis heute in vielem so stark von Westdeutschland
unterscheidet. Warum der Name?
Lütten Klein ist der Stadtteil von Rostock, in dem
ich aufgewachsen bin, ein sehr großes Neubauge-
biet. Dort habe ich nun für das Buch Interviews
geführt. Lütten Klein ist aber auch ein Symbol für
die Gesellschaft der DDR beziehungsweise Ost-
deutschlands insgesamt. Die Art und Weise, wie
wir in diesem Neubaugebiet gelebt haben, ist pro-
totypisch, normal könnte man sagen. Fast 70 Pro-
zent der Menschen haben in Rostock in solchen
Bauten gewohnt – überhaupt war das in der DDR
sehr verbreitet.
Sie sagen Neubauviertel. Westdeutsche würden das
als „Platte“ bezeichnen.
Ja, das ist nur ein kleines Beispiel, wie stark sich
die Perspektiven auf die Lebensweise in der DDR
unterscheiden. Plattenbauviertel werden heute
eher negativ gesehen, gerade im Westen. Aber in
der DDR waren das arrivierte Wohnmilieus mit
einem eigenen Selbstbewusstsein. Die Neubau-
viertel waren attraktiv. Die Altbauten wurden ver-
nachlässigt, hatten eineschlechte Heizungund un-
dichte Fenster. In den Neubaugebieten gab es
„Warmwasser aus der Wand“, wie wir sagten.
Was war denn das „Normal“, was hat die Lebens-
weise geprägt?
Gerade die Gleichförmigkeit. Wir haben gewohnt
wiealleanderenauch.AllesindaufdieselbenSchu-
lengegangenundindieselbeKaufhalle.Wirhaben
in der Freizeit alle sehr ähnliche Dinge gemacht.
Auch sozial gab es wenige Unterschiede. In der
DDR ist eine sehr gute, breite Allgemeinbildung
vermittelt worden, viele Facharbeiter lasen oder
gingen ins Theater. Die Spitzen aber wurden klein
gehalten.DieDDRwareinestarknivellierteGesell-
schaft mit einer proletarischen, kleinbürgerlichen
Mentalität und einer entbürgerlichten Kultur. Da-
fürsteht„LüttenKlein“.UnddasprägtOstdeutsch-
landbisheute.
Haben Sie in Lütten Klein noch Verwandte oder
Freunde?
Verwandte nicht, Bekannte schon. Meine Eltern
sind nicht weit weggezogen und gehen dort ein-
kaufen. Ich bin mit 19 fort, habe da aber nach der
Wende als Altenpfleger gearbeitet. In den letzten
20 Jahren war ich nur als Durchreisender dort.
Wie war es für Sie, jetzt wieder dort hinzufahren
und Interviews für Ihr Buch zu führen?
Ich musste meine Schwellenangst überwinden,
auch bei den Leuten gab es Vorbehalte. Für mich
wardaseineBegegnungmitmeinemGestern.Ver-
trautheit und Fremdheit mischen sich. Ich habe
mich als Lütten Kleiner geoutet. Es gibt zwischen
Ostdeutschen eine Art Fraternisierung. In den In-
terviews sagen die Leute immer wieder: „Ihnen
braucheichdas janicht zuerklären.“
Zum Beispiel, welche Bedeutung der Trockenraum
hatte, dass man dort Geburtstage mit Fischernetz-
deko an der Wand feierte, so etwas?
Man muss einfach nicht alles ausbuchstabieren,
was einen geprägt hat. Natürlich kann man auch
gemeinsam über die Wessis ablästern, das ist ein
entlastendes Moment.
Die Wende brachte für viele Menschen Brüche mit
sich. In Ihrem Buch verwenden Sie den Begriff der
„Fraktur“, den medizinischen Begriff für einen Kno-
chenbruch. Wie stark prägen einerseits Frakturen,
andererseits soziale und mentale Kontinuität das
Ostdeutschland von heute?
Ich lege zwei Prismen über die DDR-Gesellschaft:
DaseineistdiesozialstrukturelleEntwicklung,das
anderedieMentalitätsentwicklung.DiebeidenEnt-
wicklungen bedingen sich gegenseitig. Man kann
sogar sagen, dass der Bruch in der Sozialstruktur
dieKontinuitätder Mentalitäten verstärkt hat.
Wie meinen Sie das?
In den 80er Jahren versperrte der Staat zuneh-
mend den Zugang zu Hochschulbildung. Weder
die sozialistische Intelligenz konnte sich umfas-
send reproduzieren, noch hatte die Arbeiterklasse
Aufstiegschancen. 1989 wurde der Sargdeckel,
der auf der DDR-Gesellschaft lastete, geöffnet.
Als Soziologen hätten wir gedacht, dass jetzt die
freie Berufs-und Studienwahl,dasEnde derpoliti-
schen Kontrolle über gesellschaftliche Positionen,
Aufstiegermöglichenwürde.DasGegenteilistpas-
siert.VieleMenschenstiegenimVergleichzuihren
Eltern sogar sozial ab. Günter Gaus nannte die
DDReine„Gesellschaftder kleinenLeute“. Das ist
Ostdeutschland bis heute – und es hat sich durch
die Wendezeit verstärkt, indem die Leistungsstär-
keren undviele Frauen abgewandert sind.
Warum blieben die Aufstiegschancen aus?
DieMärktebrachenzusammen.DiegroßenUnter-
nehmen blieben im Westen. Führungspositionen
wurden durch Westdeutsche besetzt. Ostdeutsch-
land wurde zwar in eine Wohlstandsgesellschaft
hineinintegriert, fand sich aber trotzdem auf den
untersten Rängen der Bundesrepublik Deutsch-
land wieder.
Manche Populismusforscher vertreten die These,
dass der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten und gar
nicht unbedingt die aktuelle wirtschaftliche Situa-
tion eines Menschen eine große Rolle dabei spielt,
ob jemand eine populistische Partei wählt. Kann
das die Erfolge der AfD im Osten erklären?
Das hat sicher etwas damit zu tun. Aber die Ursa-
chen für den Erfolg der AfD im Osten sind viel-
schichtig. Auch politische Faktoren sind wichtig.
Welche?
Die DDR wurde in gewisser Weise „übernom-
men“. Der Soziologe Claus Offe sprach von der
„Selbstauslieferung einer realsozialistischen Kon-
kursmasse“. Die DDR war moralisch, politisch
und ökonomisch bankrott und ist wie von einem
Insolvenzverwalter übernommen worden. Die
Ostdeutschen, die sich soeben als politische Sub-
jekte entdeckten, wurden in die Rolle der Dulden-
den gedrängt.
Sie waren zur Zeit der letzten Volkskammerwahl
Pfleger in einem Altenheim und haben den Wahl-
kampf dort miterlebt.
Daswarfaszinierend!Parteivertreterfuhrenmitih-
ren VW-Bussen vor und legten Schokolade mit
demParteilogoaufdieBettenderaltenundteilsde-
menten Menschen. Die großen Marktplätze wur-
den von Willy Brandt und Helmut Schmidt und
Helmut Kohl bespielt. Es haben sich keine eigenen
Parteistrukturen entwickelt, die politische Kultur
kam von außen. Mit der pauschalen Zustimmung
zurEinheitsinddieMitwirkungsmöglichkeitenge-
schrumpft. Es gab keine verfassungsgebende Ver-
sammlung nach Artikel 146 Grundgesetz, in der
sich die Ostdeutschen hätten einbringen können.
Eswurdenichteinmalversucht,eineBeteiligungs-
illusionherzustellen.Das wirktbisheute nach.
Die Flüchtlingskrise hat viele Ostdeutsche aller-
dings politisiert, zum Schrecken der politischen
Mitte. Jetzt wählen sie die AfD ...
Der Protest richtet sich oft gegen „die etablierten
Parteien“.DadrehtsichdasSchwungraddesUnbe-
hagens. Für mich ist das nicht überraschend: Es
spiegelt die politische Urerfahrung der Ostdeut-
schen. Man geht auf die Straße, tut seinen Unmut
kund und hofft, dass sich nun etwas ändert. Doch
derProtestwirdnieüberführtindiekleinteilige,oft
langweilige und nervige, manchmal wunderbare
Erfahrung derDemokratie.
Was hätte man damals anders machen müssen?
Man hätte die Ostdeutschen ermächtigen müssen,
beim Spiel um das Erbe der DDR mitzuspielen –
durch ein KfW-Förderprogramm, damit Ostdeut-
sche Zugang zu Kapital erhalten. Man hätte Leute
mit Fellowship-Programmen in westdeutsche Be-
triebe holen und wieder zurückschicken müssen.
Über 10000 ostdeutsche Betriebe wurden ver-
kauft. Nur fünf bis sechs Prozent an neue ostdeut-
sche Eigentümer, meist kleinere Betriebe. Das
DDR-Vermögenwurde inden Westen umverteilt.
Warum gab es nicht mehr Angela Merkels?
Die Biografien dieser erfolgreichen Einzelfälle ha-
ben mich immer sehr interessiert, ich habe mit
etlichen von ihnen gesprochen. Viele sind sehr
früh nach der Wende in westliche Institutionen
integriert worden. Manche gingen erst einmal ins
Ausland und haben dann in westdeutschen Betrie-
ben Karrieren hingelegt. Viele versteckten ihre
Ostherkunft – auch Angela Merkel hat über viele
Jahre ihre Herkunft unsichtbar gemacht.
In Ihrem Buch kommen Sie zu dem Schluss, dass
dieseHypotheken nichtsoschnellzu reparieren sind.
Das hieße für die politischen Verhältnisse, für die
Stärke der AfD, auch, dass das so bleibt?
Vielesagenjetzt,manmussdenOstdeutschenein-
fach mal zuhören. Das sei eine Frage der Anerken-
nung.Dabinichskeptisch.EineinnerdeutscheGe-
sprächstherapie kann nicht schaden. Aber ich
glaube, dieFrakturensind nichteinfachzu heilen.
Bald feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Wird dann doch wieder die „Befreiung“ der Ostdeut-
schen im Mittelpunkt stehen?
Die Erinnerungskultur, die wir größtenteils pfle-
gen, geht an vielen Otto-Normal-Ostdeutschen
vorbei. Im Mittelpunkt stehen Diktatur und der
Unrechtsstaat DDR.Das ist mitunter Erinnerungs-
politik für die Opferverbände und Bürgerrecht-
ler – es ist richtig, daran zu erinnern. Das holt
viele andere Ostdeutsche aber nicht ab. Die DDR
war nicht nur eine Diktatur. Diese Sichtweise öff-
net den Blick auf Dinge, die dieses Land eben auch
ausmachte: Privatheit, kleine Freiheiten, sozialer
Eigensinn, das Reiben am System.
Sie schreiben im Buch zum Beispiel über das Frei-
heitsgefühl auf Hiddensee.
Hiddensee war ein Symbol für das freie Leben in
der DDR. Aber es gab Motocross-Rennen in Tete-
row, Blues-Festivals und eine Kleinkunstszene. Es
gab eine eigene, non-konformistische Jugendkul-
tur, die sich vom einheitsgrauen Gesellschaftsmo-
dell abgehoben hat, ohne allzu politisch zu sein.
Diese mit Risiken verbundenen Freiheiten, die un-
sicherere Toleranz, waren typisch für die DDR.
Der Mauerfall gehört zu Ihrer Biografie. Wie haben
Sie den 9. November erlebt?
Zur Zeit des Mauerfalls war ich Soldat bei der Na-
tionalen Volksarmee. Ich war am Abenddes9.No-
vember in Schwerin, in der Werder-Kaserne, und
hatteWachdienst. Ichhatte einkleines, batteriebe-
triebenesRadiodabei, unser „Wachradio“,das wir
uns bei der Ablösung heimlich zusteckten. Es war
ein Westsender eingestellt – und so hörten wir,
dass die Mauer gefallen ist. Es hatte alles etwas
Unwirkliches. Man steht irgendwo, friert, hat
seine Kalaschnikow über den Rücken geschnallt
und woanders – nein, eigentlich am selben Ort –
bricht ein Gesellschaftsmodell zusammen.
Auch in Rostock gab es Demonstrationen.
Ja, über Freunde und über die Familie haben wir
das verfolgt. Es war eine Zeit, die sich anfühlte, als
seiman an eineSteckdoseangeschlossen,voll elek-
trisiert und von Adrenalin durchpulst. Man spürte
körperlich, wie etwas, das sehr fest gefügt war,
brüchig und dann pulverisiert wird.
Während eines Kurzurlaubs hatten Sie dann doch
noch Gelegenheit, an einer Demonstration teilzuneh-
men – auch wenn sich an der strengen Kasernierung
derSoldaten zunächst nichts änderte.
Das war etwas später, am 3. Dezember 1989. An
diesem Tag folgten Hunderttausende dem Aufruf,
eine Menschenkette durch das ganze Land zu bil-
den. Wir sind mit ein paar Leuten nach Kavelstorf
südlich von Rostock gefahren, weil wir gehört hat-
ten, dass es dort ein geheimes Waffenlager gab,
das zum Imperium von Alexander Schalck-Golod-
kowski gehörte, dem Devisenbeschaffer der DDR.
Er hat mit Kunstgegenständen, DDR-Produkten,
aber auch Waffen gehandelt, um die DDR liquide
zu halten. In Kavelstorf drängten die Menschen
die Bewacher zurück und öffneten die Türen zu
den Lagerhallen. Für die NVA und die DDR-Füh-
rung waren diese Entdeckungen verheerend. Die
NVA hatte sich als eine Armee dargestellt, die le-
diglich die sozialistischen Errungenschaften ver-
teidigen sollte, in Abgrenzung zum imperialisti-
schen Aggressor im Westen, der Bundeswehr.
Nun wurde bekannt, dass in Kriegsgebiete Waffen
verkauft wurden. Die Menschen stellten fest, dass
sie, auf Deutsch gesagt, verarscht worden waren.
Sie nutzen Begriffe aus der Pathologie, sprechen von
einem „Obduktionsbefund“. Ist es nicht genau das,
was viele Ostdeutsche ärgert – dass sie als „Anoma-
lie“ des normalen Deutschlands gesehen werden?
ManmussmitdiesenmedizinischenMetaphernex-
trem vorsichtig sein. Und ich will keinesfalls den
Eindruck erwecken, es gebe eine westdeutsche
Normgesellschaft, in die sich die Ostdeutschen
dann hineinintegrieren müssen. Ich will deutlich
machen,dassesummehrgehtals eineoberflächli-
cheReizung.Wirhabenzulangegedacht,dieWie-
dervereinigung sei ein Leichtes. Jetzt erkennen
wir,waslangeverdrängtwordenist:diekulturellen
Verluste, die sozioökonomischen Deklassierun-
gen,diepolitischeMarginalisierung.UnsereNaivi-
tätholtunseinwieeinBumerang.DerAufstiegder
AfDimOsten istTeildavon.
Sie schreiben, dass viele Leute, die rückblickend
über das Lütten Klein vor der Wende sprechen, sa-
gen: „Alles war da.“ Wie ist es heute?
Lütten Klein ist ein recht positives Beispiel für die
Entwicklung eines DDR-Neubaugebietes. Prak-
tischkeinLeerstand,Kino,Ärztehaus.DochdieAlt-
eingesessenensehnensichnachdennachbarschaft-
lichenKontakten,dieinderDDRgelebtwurden.Al-
lesnoch da –und dannauchwieder nicht.
Interview: Anna Sauerbrey
Foto: Yvonn Barth/Irvandy Syafruddin, Jule Waibel
In seiner
ostdeutschen Heimat
fühlt er sich heute fremd –
und kehrte doch zurück.
Der Soziologe Steffen Mau
über nervige Demokratie
und naive Politik
Residenzen für Exzellenzen So wohnen
die deutschen Botschafter – Seite 2/3
SONNTAG
Foto: Marten Körner/Suhrkamp Verlag
STEFFEN MAU, 50,
ist Professor für Soziologie an der
Humboldt-Universität. Zu seinen Schwer-
punkten gehören Ungleichheitsforschung
und Europäisierung.
Mau wuchs im Rostocker Viertel Lütten
Klein auf – die Plattenbausiedlung wurde
in den 1960er Jahren entlang der Bahnlinie
nach Warnemünde hochgezogen und galt
als Vorzeigeprojekt. Die Wendezeit erlebte
der Soziologe als Wehrdienstleistender in
der NVA. Danach arbeitete er zunächst als
Altenpfleger, bevor er schließlich sein
Studium begann.
Für das Buch „Lütten Klein – Leben
in der ostdeutschen Transformations-
gesellschaft“, das gerade bei Suhrkamp
erschien, kehrte Mau nach Rostock zurück.
Er untersucht darin, wie die DDR-Zeit in Ost-
deutschland nachwirkt.
Das Interview findet in seinem Büro an der
Humboldt-Uni statt.