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Ihre Stunde schlug nach dem Krieg. Mutter Cou-
rage in Zivil und mobil. Sie schnappte sich ein
motorisiertes Dreirad, leichte Aluminiumbau-
weise, Höchstgeschwindigkeit 60 km/h, überlud
es mit Büchern und fuhr in den Folgejahren regel-
mäßig an die hundert Frontstadt-Buchhandlun-
gen ab, um die Bücher der von ihr vertretenen
Verlage anzubieten – was ihr als Frau umso leich-
ter fiel, als die meiste Arbeit in den Buchläden
von Frauengetanwurde. Wörterbücher waren ge-
fragt, Schulbücher, Kinderbücher und natürlich
all die verfemten Bücher, die nun nach und nach
wieder lieferbar waren. In der Kriegszeit hatte die
Reichsschrifttumskammer die Bücher den Buch-
handlungen zugeteilt, nun gab es plötzlich den
freien Markt. „Die Buchhändler“, erinnerte sie
sich, „begrüßten mich wie ein Wunder der Zu-
kunft, noch ungläubig, dass sich dieses Wunder
einesVertreterbesuchesbei weiteren Neuerschei-
nungen wiederholensollte: Wirdürfen uns die Bü-
cher nach Titeln selbst aussuchen!?“
Es wurde viel bestellt, viel gelesen und heftig
über das Gelesene diskutiert, wozu die häufigen
Stromausfälle in den ersten
Nachkriegsjahren und wäh-
rendder Berlin-Blockade ge-
nug Gelegenheiten boten.
Und dann noch das Wirt-
schaftswunder: „Zunächst
die Fresswelle, dann die
Kleiderwelle und erst nach
der Möbelwelle blieb es
nicht aus, dass auch eine
kleine Bücherwelle ange-
rollt kam.“ Die trug sie nicht
nach Atlantis, was die Reichtümer anbelangte,
aberes wurden viel aufregendere Zeiten, als sie es
sich je erhoffen konnte.
Gelernt hatte Ursula das Buchhändler-Hand-
werk während des Krieges im Pegasus Verlag, zu-
vor Mittlere Reife und Handelsschule. Sekretärin
war das höchste der Ziele. Ihr Vater war Orthopä-
dieschuhmacher, ihre Mutter Hausfrau, beide
dachten in Perspektivfragen sehr praktisch. Ein
Mädchen wie Ursula durfte keine großen Träume
haben, keine Freundschaften mit den Bürgerkin-
dern pflegen. Selbst die Hoffnung auf Liebe trog,
als der Krieg kam und ihr den Geliebten nahm.
Aber je länger der Krieg dauerte, desto wichtiger
wurden die Frauen, desto selbständiger konnten
sie die Geschäfte führen. Ursula hatte in dem klei-
nenVerlag bald alleindas Sagen, und als der Krieg
vorbei war, entschloss sie sich, gänzlich unabhän-
gig zu werden. Sie übernahm in Berlin.Dort
musste der Verlag die Bücher einlagern, weil die
Verkehrswege durch die Ostzone unzuverlässig
waren. Dann kam der neu gegründete „Diogenes
Verlag“ aus der Schweiz hinzu, und Loriots Erst-
ling, „Auf den Hund gekommen“, wurde 1954 ein
so grandioser Erfolg, dass die Nachbestellungen
gar kein Ende mehr nahmen.
Ab den 60er Jahren residierte „Buch-So-
bottka-Berlin“ in der Sächsischen Straße in einem
geräumigenBüro,daszugleichalsLagerundWohn-
zimmer für die abendlichen Zusammenkünfte all
jener diente, die nicht nach Hause gehen wollten.
Schauspieler, Buchhändler, Künstler und Kunden
trafensichbeiihr,diskutierten,trankenundwaren
neugierig auf das, was noch kommen sollte. Und
immerließdieChefineinGedeckextraauftischen:
„Fürden müdenWanderer“.
Dezenter Dirigent dieser Gesprächsabende war
ihr Freund, der Schauspieler und Verlagsgehilfe
Michael Beerman, der allenthalben als ihr Liebha-
ber angesehen wurde, obwohl er Männer viel lie-
ber mochte. Über ihre tatsächlichen Liebhaber
schwieg sie sich aus, es waren nicht wenige, wie
sie ihrem Sohn gegenüber mal mit Stolz be-
merkte. Die vielen Vertreter-Reisen boten ihr dis-
krete Möglichkeiten, namhaft bekannt war der Fa-
milie und den Freunden nur einer, der Vater ihrer
Zwillinge: Attanasio Retti Marsani.
EinLebemannderaltenSchule,indensiesichun-
sterblich verliebt hatte, weil sie sich nie den star-
ken Mann, sondern den schönen, den illustren,
denMannvonWeltanihrerSeitegewünschthatte.
Erwar30Jahreälteralssie,auseinemaltenitalieni-
schen Adelsgeschlecht, mehrsprachig erzogen,
Parteigänger D’Annunzios unddes Duces,Liebha-
ber schöner Frauen und schneller Pferde, was ihn
einwenig zumKlischee seiner selbstmachte.
„Gentleman bleibt immer Gentleman“, pflegte
er zu betonen, sofern es seinem Egoismus keine
Opfer abverlangte, den Vaterpflichten nämlich
entzog er sich baldmöglichst und beließ es fortan
dabei, über die Widrigkeiten der Existenz im All-
gemeinen zu lamentieren, während Ursula für
den Unterhalt der beiden Kinder zu sorgen hatte.
Die staatlichen Kindergärten weigerten sich, die
unehelichen Zwillinge auf-
zunehmen, nur eine katholi-
sche Einrichtung erklärte
sich bereit – mit der demüti-
genden Begründung: „Die
arme Frau ist so tief gefal-
len.“
Wenn die Kinder aus der
Schule nach Hause kamen
und erzählten, dass sie ge-
fragt worden seien, was
denn der Beruf des Vaters
sei, ermahnte sie Ursula: „Das nächste Mal sagt
ihr einfach, Beruf der Mutter: Verlagsbuchhändle-
rin.“ Jahrelang nagte die Angst an ihr, dass ihr das
Sorgerecht entzogen werden könnte, aber der be-
rufliche Erfolg sicherte das Familienglück mehr
noch als ihre Kochkünste, die sie eher im experi-
mentellen Sinn verstand: „Ihr müsst es nicht es-
sen, aber wenigstens mal probieren!“
Ab und an tat sie so, als träume sie von dem
einfachen Leben der Hausfrauen: Morgens aus
dem Haus, auf den Markt und grüne Bohnen
kaufen, dann wieder nach Hause, kochen, wo-
möglich die Pantoffeln für den Mann vorwär-
men. Prompt musste sie dann lachen. Das wäre
nie ihr Leben gewesen.
Sie fuhr gern nach Capri, liebte die italieni-
schen Fischer. Sie filmte mit ihrer Kamera den
Beginn des Mauerbaus und den Besuch Kenne-
dys, sammelte Spieluhren und sah mit Verwunde-
rung, wie schnell die Jahre verstrichen: Im Juli
1988 lud „Buch-Sobottka-Berlin“, die älteste Ver-
lagsauslieferung in Berlin-West, zur Abschieds-
feier.Ihrwurdenicht langweiligdanach, sieunter-
nahm weite Reisen, besuchte all die Freunde, die
sie im Laufe des Berufslebens gewonnen hatte, bis
sie ein wenig müde wurde. Von Einsamkeit
sprach sie nie in ihren letzten Jahren, sie war nicht
wehleidig, nie gewesen. Sie schwand dahin, fei-
erte die kleinen Freuden, das unverhoffte Erin-
nern an Ereignisse, die längst aus dem Gedächtnis
entglitten schienen. „Ich kann sagen“, schrieb sie
stolz einem Freund, „bei einer Wiedergeburt
würde ich auch das gleiche Leben noch einmal
mitmachen.“ Gregor Eisenhauer
Mit Wut, sagte sie, fing alles an. Da sollten doch,
mitten in Charlottenburg, Hochhäuser aufge-
stellt, meterhohe Lärmschutzwände hochgezo-
gen, Billigläden etabliert werden! Die Kastanien
und Linden, Jahrhunderte alt, würden verschwin-
den. Nicht mit ihr.
Natürlich hat sie nicht allein gekämpft in der
Bürgerinitiative StuttgarterPlatz.Aber sie war be-
sonders laut, besonders zäh. Besonders nervig.
Wenn jemand dachte, der Punkt ist jetzt aber echt
ausdiskutiert, dann grätschte sie noch mal rein.
NächsteRunde. Streitenwar für sieKultur. Schlag-
fertig, aber ohne die Fähigkeit, über sich selbst zu
lachen. Sie fetzte sich gern und ließ gar nicht gern
los. Keine Kompromisse!
Die Wut reichte für mehr als zehn Jahre. Für
ihre erfolgreiche Hartnäckigkeit hat die Initia-
tive den Umweltpreis des BUND bekommen.
Das war Margarete Winkes wichtig, dass der
Kampf honoriert wurde. Außerdem hatte sie
den Platz ja jeden Tag vor Augen, lebte als
Mieterin mit ihrem Mann und Mitstreiter direkt
vis-à-vis. Wobei es ihr um weit mehr als persön-
liches Wohlbefin-
den ging. Es ging
um die Stadt, die
Gesellschaft, die
Natur.
Genauwie in ih-
rereigenen Archi-
tektur. „Werkfa-
brik“,so nannten sie das 1979gegründete, kollek-
tiv organisierte Büro. Damit war schon mal klar:
Es ging hier um die Sache, nicht um die Person. In
einer immer mehr vom Starkult geprägten Bran-
che war das von Bedeutung.
„Man wollte kein Zeichenknecht sein in ei-
nem großen Büro“, sagt Hendrikje Herzberg,
die Anfang der 80er in die Werkfabrik einstieg.
„Man wollte was anderes leben.“ Nie gelang das
besser als in den 80er Jahren, als die Internatio-
nale Bauausstellung neue Ideen forderte und
förderte. Sie haben gebaut und umgebaut, die
Heinrich-Zille-Schule, Kitas, Krippen, immer im
Kontext des ganzen Bezirks, sie haben Wege
gesucht, Vorhandenes neu und anders zu nut-
zen. Der Schule aus der Kaiserzeit nahmen
spielerische Formen die Strenge, in einem
schnöden Hinterhaus bildeten sich nach dem
Zusammenlegen der Kleinstwohnungen neue
Gemeinschaften. „Soziale Baukunst“, so nann-
ten sie das, und von dem Gedanken ließen sie
sich auch bei der Ergänzung von Plattenbauten
in den 90er Jahren leiten.
An der TU in den frühen 90ern fiel sie auf. Fünf
Jahre lang hat sie dort gelehrt. Eine Frau, hübsch,
blond, links, mit weißer Bluse und Hosenanzug
inmitten eines Altherrenvereins. Erfrischend un-
akademisch sei sie aufgetreten, stets habe sie die
gesellschaftliche Bedeutung des Bauens in den
Blick genommen, so erinnert sich ein ehemaliger
Student. Bewundern allerdings gehörte nicht zu
ihrem Repertoire. Ob Kleihues, Gehry, Chipper-
field, die Arbeit berühmter Kollegen hat sie aufs
Heftigste kommentiert.
Sie hatte ein Fahrrad, knallrot natürlich, aber
radelnd wurde sie nie gesehen. Ansonsten hielt
sie nichts von Besitz. Auch wenig vom Reisen, es
sei denn, es hatte was mit Arbeit zu tun.
Familie? Hatte sie nicht, so wenig wie ihr Mann.
Von denen, die es gab, hatten sie sich gelöst, viel-
leicht war es auch umgekehrt, die Verhältnisse
blieben diffus. Klar muss sie einen Erzeuger ge-
habt haben, aber von dem hat sie nie erzählt.
Sie brauchten keine Familie, sie hatten ja sich.
Wie siamesische Zwillinge beschreiben Wegge-
fährten die beiden, die sich schon als Jugendliche
in der rheinischen Heimat gefunden hatten.
Einen Umweg sind beide gegangen, Margaretes
Mann, HP, lernte erst Maurer, bevor er an die
Werkkunstschule ging, sie machte eine Ausbil-
dung zur Kauffrau im Sanitärgroßhandel, holte
dann das Abitur nach. Zusammen sind sie nach
Berlin gegangen und nahmen die Liebe zum Kar-
neval mit. Dafür hat sie sogar mal ihre Stamm-
kneipe am Stuttgarter Platz verlassen, ist in die
„Ständige Vertretung“ gereist, hat gesungen und
getanzt. Zusammen haben die beiden an der TU
studiert, zusammen haben sie ihr Büro eröffnet
und für die Arbeit gelebt. Ihre Bauprojekte waren
ihre Kinder, sagt einer, der sie kannte. Und ihre
Enkel, ergänzt eine andere.
Sie wollten gemeinsam im Atlantik bestattet
werden. Dann starb HP lange vor ihr, 2010. Was
das für sie bedeutete, darüber sprach sie nicht.
Margarete bewahrte seine Asche bei sich zu
Hause auf, bis sie selber tot war.
Fünf Leute haben sich jetzt, ein paar Monate
später, im „Lentz“ versammelt, dem Gasthaus am
Stuttgarter Platz,
dasihr Wohnzim-
mer war, wo sie
jeden Abend sa-
ßen. Die Wegge-
fährten wollen
erzählen von
Margarete Win-
kes, warum sie wichtig war für sie und für die
Stadt, die Architektur. Sie haben mit ihr gearbei-
tet und gekämpft und von ihr gelernt. Sie haben
sie im Krankenhaus besucht, als sie dort schwer-
krank lag. Normalerweise würde man sie als ihre
Freunde bezeichnen. Aber das, sagen sie alle, wa-
ren sie nicht. Margarete Winkes hielt die anderen
auf Abstand, keine Berührung, keine Umarmung,
in ihre Wohnung hat sie niemanden gelassen.
Wenn einer ihr Blumen brachte, sagte sie: Leg sie
vor die Tür. Telefonieren ja, stundenlang, jeden
Tag, streiten und kämpfen bis ganz zum Schluss,
aber da ging’s ums Politische, nicht ums Persönli-
che. Wie es ihr geht? Alles gut. Bloß keine Schwä-
che zeigen. Am Ende musste die Tür aufgebro-
chen werden. Susanne Kippenberger
Ab und an tat sie so,
als träume sie vom
einfachen Leben
der Hausfrauen
Ursula Sobottka
* am 7. Oktober 1921
Bewundern allerdings gehörte
nicht zu ihrem Repertoire
Margarete Winkes
* am 29. Oktober 1947
DER HIMMEL ÜBER BERLIN-KREUZBERG
AM 29. JULI UM 16:37
Foto: Doris Spiekermann-Klaas
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