Der Tagesspiegel - 18.08.2019

(Axel Boer) #1

Warschau


11 Uhr
Das Wochenende in der polnischen Hauptstadt
mit Croissant beginnen? Unbedingt! Früher
nannte man Warschau das „Paris des Ostens“. Am
besten im französischen Café „Charlotte“ auf dem
Plac Zbawiciela, zu Deutsch: Platz des Erlösers,
mitten im Zentrum Warschaus. Mit etwas Glück
bekommt man draußen einen Bistrostuhl, dann
muss man sich nur noch für drei der hausgemach-
ten Marmeladen entscheiden und kann die Atmo-
sphäre aufnehmen.Drum herum redenjunge Men-
schen mal polnisch, mal französisch, mal deutsch.
Das Café ist ein Treffpunkt für Kosmopoliten. Der
Blick schweift über sozialistische Nachkriegs-
klötze, prunkvolle Vorkriegsbauten und die zwei
Spitztürme der Erlöser-Kirche. Die wollte die
Stadtwährendder Rekonstruktion nachdemZwei-
ten Weltkrieg beinahe abreißen. Zum Glück setzte
sich dieser Vorschlag nicht durch.


13 Uhr
Das sozialistische Warschau sieht oft grau aus.
Diesem Einheitsbrei entkommen Besucher im
StadtteilPowisle unterhalbder Weichselklippe,zu
Fuß eine gute halbe Stunde vom Erlöserplatz
entfernt. Das Dach der futuristisch anmutenden
Universitätsbibliothek (Dobra 56/66) ist ein grü-
nes Paradies: Auf knapp 1,5 Hektar Fläche hat die
Landschaftsarchitektin Irena Bajerska einen bota-
nischen Garten angelegt. Dadurch wirkt das 1999
eingeweihte Gebäude, als würde es grünen und
blühen. Stahl, Glas und Solarpanels, Efeuranken
und Blumenbeete. Was unvereinbar klingt,
wächst hier zusammen.
Früher war das Viertel drum herum abgerockt,
bis zum Zweiten Weltkrieg war es das Armenhaus
der Hauptstadt, heute zieht Powisle mit zahlrei-
chen Bistros, Galerien und Kneipen viele junge
Warschauer an. Wenn man auf dem Bibliotheks-
dach entlangspaziert, von oben auf die Weichsel
schaut oder durch die Deckenfenster die lernen-
den Studenten beobachtet, bereut man, das Eras-
mus-Semester nicht in Warschau verbracht zu ha-
ben. Für eine Pause in einem der Liegestühle im
ebenfalls zur Uni gehörenden Park ist es nie zu


spät. Der ist, wie der Dachgarten, offen für alle
Besucher. Kinderspielen aufder Wiese, Studentin-
nen sitzen im Schneidersitz im Gras und lesen.


15 Uhr
Zur „Mood Scent Bar“ in der Tamka-Straße läuft
man von der Bibliothek nur zehn Minuten. Ein
Parfum-Laden, aber kein gewöhnlicher (Tamka
33).Victor Kochetov behauptet,fürjeden Charak-
ter den richtigen Duft bereitzuhalten – und das auf
nicht mehr als acht Quadratmetern. Der 34-Jäh-
rige unterscheidet dabei nicht zwischen Männer-
undFrauendüften, ermöchte „Individuen“anspre-


chen. Das Interieur ist puristisch elegant, an der
olivfarbenen Wand reihen sich zierliche Flakons
aneinander.
Als Kochetov den Laden vor fünf Jahren eröff-
nete, gab es in der Nähe außer seinem Geschäft
kaum eineandereMöglichkeit, einKonsumbedürf-
nis zu befriedigen. Jetzt habe sich die Gegend zum
Hotspot von Warschau entwickelt: Viel los, viele
schöne Läden – und damit einhergehend sehr
teure Mieten. Um nach dem Schnuppern auf der
Suche zu seinem Individuum wieder zu Sinnen zu
kommen, empfiehlt sich ein starker Kaffee im
hübsch eingerichteten Café Stor direkt neben dem
Parfumgeschäft.

17 Uhr
DerSpaziergangzurück insZentrumführt an stali-
nistischen Palästen und stuckverzierten Gründer-
zeithäusern vorbei. Diese architektonischen Kon-
traste machen den Reiz der Stadt aus. In den frisch
renoviertenAltbauten inderPoznánska-Straße ha-
ben sich heute vor allem vegane und nahöstliche
Lokale angesiedelt. Warschau gilt mittlerweile als
Osteuropas Hauptstadt der Veganer, in vielen Rei-
seblogs werden mehr als 100 solcher Restaurants
gelistet und empfohlen. Unbedingt probieren soll-
ten Besucher das „Yumiko“ (Hoza 62), einer der
angesagten veganen Sushi-Läden der Stadt. Inzwi-
schen hat das Restaurant auch Ableger in Krakau
und München eröffnet. Kaum vorstellbar, dass die
Zentrale der konservativen Regierungspartei PiS
nureinenSteinwurf vondenBefürworternalterna-
tiver Lebensentwürfe entfernt ist.

20 Uhr
In Polen ist es verboten, Alkohol auf der Straße zu
trinken. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das
Weichsel-Ufer. Früher war das Trinken nur auf
der östlichen Seite im Stadtteil Praga erlaubt, die
dortigen Grünanlagen wurden Alkoholiker-Treff-
punkte. Heute ist das linke Flussufer zur Prome-
nade umgebaut, die Warschauer nennen die Ab-
schnitte zwischen den Brücken Weichsel-Boule-
vards(Wybrzeze Kosciuszkowskie). Alle paar Me-
ter legen hier DJs elektronische Musik auf, junge
Menschen trinken Bier auf den Treppenstufen. Es
gibteinen Sandstrand mitLiegestühlen, einen Ska-
terpark, mehrere Cafés und Restaurants. Das
bunte Licht von Lampions und Lichterketten spie-
gelt sich am späten Abend auf der Flussoberflä-
che. Mehr braucht es nicht.

22 Uhr
Auf der Suche nach dem Warschauer Nachtleben
im „Bardzo Bardzo“ (Nowogrodzka 11) nahe des
Hauptbahnhofs gelandet – ein Glücksgriff. Der
Name heißt übersetzt „Sehr sehr“, und das ist der
Laden auch. Die individuell gemixten Cocktails:
sehr lecker. Die Live-Musik, senegalesischer Jazz:
sehr tanzbar. Die Barkeeperin Marlena: sehr kom-
munikativ. „So lange in Polen keine Diktatur
herrscht, leben wir hier in Warschau in unserer
liberalen Blase“, sagt sie.
Danach um die Ecke weitertanzen, in der Meta
Disco (Parkingowa 5), zu Disko Polo (polnischem
Schlager) und billigem Alkohol. Hier trifft sich
Ost und West, der PiS-Anhänger und die Ber-
lin-Enthusiastin, hier tanzen die Hipster-Mäd-
chen mit den Fjallraven-Rucksäcken neben glatz-
köpfigen Jungs vom Land.

11 Uhr
Was hilft gegen Kater? Zum Beispiel: französi-
scher Kaffee, frisch gepresster Orangensaft und
ungarische Langos. Gibt es alles auf dem Früh-
stücksmarkt Targ Sniadaniowy (Aleja Wojska Pol-
skiego, bei gutem Wetter draußen) im Norden der
Stadt. Aus den weißen Pavillons auf der grünen
Wiese dampft und zischt es, in der Luft hängt ein
leichter Fettgeruch, dazu plätschert melodischer
Elektro-Pop aus den Lautsprechern. Die Maisfla-
den aus Venezuela schmecken, die Geschichte ih-
rer Macher ist traurig. Vor vier Monaten haben sie
ihre Heimat verlassen. Sie sagen: „Wer gehen
kann, der geht.“ In Warschau fangen sie neu an.

13 Uhr
Nun ist es Zeit, einmal das Weichselufer zu wech-
seln und rüber auf die rechte Seite nach Praga zu
gehen. Dieser Stadtteil gilt als Neukölln von War-
schau: früher arm, heute sexy. Das sieht man vor
allem an den vielen Street-Art-Gemälden und den
zahllosen Bars. Den Spaziergang durch das Viertel
sollte man am Praha-Kino beginnen, in der Nähe
der Zabkowska-Straße, dem Knotenpunkt, an
dem sich die meisten Galerien, Cafés und Imbisse
befinden. Vor fünf Jahren waren auf der Straße
vor allem Drogendealer und Kleinkriminelle un-
terwegs. Heute öffnen jeden Monat neue Lokale.
Besonderer Tipp für abendliche Wiederkehrer:
die Studentenkneipe „W Oparach Absurdu“ (Zab-
kowska 6). Gäste sitzen auf Vintage-Stühlen aus
den 50er Jahren, Stehlampen aus der Vorkriegs-
zeitstrahlengedämpftes Licht aus, während polni-
sche Ska-Bands im Lokal spielen.

15 Uhr
Praga kann auch Hochkultur. Nur einen Kilometer
entfernt befindet sich das Powszechny-Theater
(Zamoyskiego 20). Der Direktor stellt syrische
Flüchtlinge ein, setzt sich für Feminismus und
Multikulturalismus einund betreibtaufdem Thea-
tervorplatz ein „Urban Gardening“-Projekt. Die
Gerichte im Theaterbistro werden mit den Kräu-
tern aus eigenem Anbau garniert. Die Theaterstü-
cke wiederum sind provokativ, sodass das Theater
manchmal konservative Warschauer auf die Barri-
kaden bringt – zuletzt 2017 mit dem kirchenkriti-
schen Stück „Fluch“. Rechtsnationalisten drangen
in das Gebäude ein und störten die Aufführung
mit Tränengas. Die Besucher mussten den Saal

durch einen Hinterausgang verlassen. Das Stück
wurde trotzdem nicht abgesetzt.

16 Uhr
Danach einen Besuch in der früheren Wodkafa-
brik Koneser (Plac Konesera 2) einplanen. Bis
2007 wurden hier Wodkamarken wie Luksusowa
und Wyborowa abgefüllt. 2018 eröffnete das Mu-
seum des polnischen Wodkas. Der enthielt im 17.
Jahrhundert noch keinen Alkohol, sondern Kräu-
ter und galt deswegen als Medizin. Erst 100 Jahre
später kam Hochprozentiges dazu, weil das Was-
ser voller Bakterien war. Beim Tasting zeigt sich,
dass der Kartoffel-Wodka der einzige ist, der beim
Schlucken nicht in der Kehle kratzt.

Erst der Wodka, dann einen Kaffee, bitte. Eine
knappe Viertelstunde Fußweg zum Ausnüchtern,
bis man die Rösterei „Proces Kawki“ (Ksiedza
Ignacego Klopotowskiego 23/25) erreicht, der
Name ist ein Wortspiel: der Prozess des Kaffees
oder Kafkas Prozess. Damit wolle man die Absur-
dität der politischen Lage unterstreichen, erklärt
der Pächter. Früher war hier eine Schule, dann
eine Militärzentrale. Im August 2018 eröffnete
das Lokal, das unter anderem Kaffeebohnen aus
dem Jemen im Sortiment hat und Intellektuelle
wie den Theaterkritiker der linksliberalen Tages-
zeitung „Gazeta Wyborcza“ zu seinen Stammkun-
den zählt.

19 Uhr
Alles riecht hier nach Speck, nach Zuhause. Auf
die weiße Backsteinwand hat jemand orange-
grüne Blumen gemalt. Das Lokal „Pyzy Flaki Go-
race“ (Brzeska 29/31) ist nicht größer als ein ge-
räumiges Wohnzimmer, und diese Geborgenheit
vermittelt es auch. Jarek Szpekowski bietet hier

vor allem Pyzy an, polnische Kartoffelklöße mit
verschiedenen Toppings im Einmachglas. Früher
haben das alte Frauen auf dem Rozyckiego-Markt
direkt nebenan verkauft. „Das erste polnische
Streetfood!“, sagt Szpekowski, der im Viertel auf-
gewachsen ist. Außerdem auf der Karte: Kluski,
polnische Gnocchi. „Polen hat eine reiche Nudel-
tradition“, erklärt er. „Aber die ist kaum bekannt.
Das wollte ich ändern.“ Sollte klappen. Die Kluski
mit Spinat und Käse sind unglaublich gut.

21 Uhr
Praktisch, dass sich auf dem Parkplatz des Rózy-
cki-Markts im Sommer abends ein Biergarten aus-
breitet: die Praska-Bar (Brzeska 23). So muss man

nach dem Essen nur ein paar Meter hinüberrollen.
Im Kommunismus bekam man auf dem Basar al-
les, was es in den Läden nicht gab: Kleidung, Waf-
fen, sogar Pässe. Heute öffnen nur noch wenige
Stände, es gibt billigen Ramsch wie Polyester-Sak-
kos und Kriegsdevotionalien. Aber auch Braut-
kleider! Auf Liegestühlen fläzen sich ab dem Spät-
nachmittag polnische Hipster und trinken heimi-
sches Craft-Bier.

23 Uhr
Das Wochenende endet, wo es begonnen hat: am
Erlöserplatz. Spätabends wird auf dem Bürger-
steig aus Cocktailgläsern getrunken, um sich auf
die Nacht einzustimmen. Viele ziehen dann wei-
ter ins „Plan B“ (Aleja Wyzwolenia 18), eine Bar
im ersten Stock mit Tanzfläche und Blick auf den
Platz. Dazu passt Wsciekly Pies, zu Deutsch: toll-
wütiger Hund – Wodka mit Tomaten-Ta-
basco-Saft, ein Drink in den polnischen National-
farben. Der Barkeeper serviert ihn gleich zwei-
mal. Na zdrowie!

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HINKOMMEN
Am einfachsten fährt man von Ber-
lin nach Warschau Hauptbahnhof
(Warszawa Centralna) mit dem Ber-
lin-Warschau-Express per Zug ab
60 Euro hin und zurück.


UNTERKOMMEN
Hotels sind in Warschau relativ
preiswert. Zum Beispiel das
Marriott am Hauptbahnhof, wo das
Doppelzimmer ab 90 Euro pro
Nacht kostet (marriott.de).


Ein Zimmer in den oberen Stock-
werken reservieren, mit Blick auf
den Kulturpalast.

RUMKOMMEN
Mit dem Warschau-Pass für 30
Euro kommt man in alle wichtigen
Museen der Stadt. Infos zu Festi-
vals und anderen Events gibt es
auf warsawtour.pl.
Die Reise wurde unterstützt vom
Polnischen Fremdenverkehrsamt,
mehr unter polen.travel.

REISETIPPS FÜR WARSCHAU


Hat einen guten Riecher.Victor Kochetov
vor seinem Parfumgeschäft.

Fühlt sich modern an.Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten die Armen im Stadtteil Powisle, heute zieht es junge Leute wegen der zahlreichen Bistros wie an der umgebauten Bahnstation hierher.

VonLauraHofmann


Junges


Fotos: picture alliance/Robert Newald, Laura Hofmann

„Wir leben hier


in unserer


liberalen Blase“,


sagt die Barkeeperin.


In Polens Hauptstadt


tanzen PiS-Anhänger


und Hipster zusammen


W A R S C H A UWARSCHAU

2km

Platz des
Erlösers

Frühstücks-
markt Targ
Sniadaniowy

Tsp/NK

Praga-
Polnoc

Powisle WWeeiicchhss
eell

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