Berliner Kurier - 18.08.2019

(WallPaper) #1

A


ch, Lederhose, kenne
ich! Das hörte ich oft,
wenn ich von mei-
nem geplanten Som-
mer-Trip nach Thüringen er-
zählte. Anfangs erwartete ich
noch erhellende Anekdoten
über den Ort. Doch schon bald
hatte ich begriffen, dass nie-
mand jemals in Lederhose war.
Alle kannten den Namen nur
von dem Schild an der A9, der
Autobahn, die Berlin mit Mün-
chen verbindet. Immer schon
habe man dort abfahren und
sichLederhoseansehenwollen,
wurde mir versichert.
Auf nach Lederhose also, ei-
ner muss es ja tun. Mit dem Au-
to benötigt man von Berlin aus
rund drei Stunden für die 217
Kilometer, mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln ein wenig län-
ger. Esgeht über Leipzig nach
Gera und von dort aus dann mit
dem Linienbus durchs Grüne
nach Großebersdorf, das ist ein
Ortsteil von Harth-Pöllnitz, der
Gemeinde, die an Lederhose
grenzt und mit rund 2800 Ein-
wohnern rund zehnmal so groß
ist wie das Ausflugsziel.
Lederhose, das zum Land-
kreis Greiz gehört, ist also eher
klein, und es gibt dort leider
keine Übernachtungsmöglich-
keiten für Gäste, also habe ich
in Großebersdorf, einem Ort
mit einem ebenfalls sehr inter-
essanten Namen, ein Zimmer in
einem Tagungshotel reserviert,
dessen einziger Gast ich sein
werde, wie ich erfahre. Aber
das sei gar kein Problem, sagt
man mir am Telefon, und wann
ich denn frühstücken wolle.
Ichbeginne zuahnen,dass ich
in eine stille Region reisen wer-
de,vielleichtsogar aneinenOrt,
den sich der gehetzte Groß-
städter immer so sehr wünscht,
ein Sehnsuchtsziel der Ruhe.
Dass der Ortsname Lederhose
so gar nichts zu tun hat mit ei-
ner Art der lauten Raubeinig-
keit, wie man sie vielleicht in
Bayern erwartet. Und dass
Thüringen nah und ja nicht so
unähnlich ist.
Die Fahrt beginnt früh und
laut und ist das Gegenteil zu
kontemplativer Ruhe: Der Zug
nach Leipzig ist voll mit Aus-
flüglern, Studenten und Reise-

gruppen.Im Großraumsitztei-
ne Abordnungaus China,nach
Leipzig will man, um sich
schweres Gerät zum Eisen-
bahnbauanzusehen.Die Grup-
pe aus Fernostsiehtsich auf ei-
nemTabletEisenbahn-Erklär-
videosan. EsfallenBegriffewie
Stopfaggregat, Schwellen-
wechsler und Schienenkna-
cker.VonLeipzigaus gehtes
dann mit der Regionalbahn in
Richtung Gera, die Orte am
Weg tragen Namen wie Zwen-
kau-Großdalzig, Wetterzeube
undBadKöstritz.Daskenntder
Berliner, Köstritzer, so heißt
das Bier. Keine Frage, man ist
auf dem Land.
Der Bahnhof in Gera ist blitz-
sauber, der Busbahnhof gefegt.
Die Sparkasse hat ihre Filiale
geräumt bis auf einen einsamen
Automaten. Ein Matratzendis-
counter wirbt mit Wasserbet-
ten, und man kann sich bei den
„Hairchitekten“ oder bei „Hair-
einspaziert“ die Haare schnei-
den lassen, bevor man den Bus
nach Großebersdorf besteigt.
Der Busfahrer hat keine Ah-
nung, wie viele Stationen es bis
nach Großebersdorf sind, er
hältaberohnehinnurnachAuf-
forderung. Der vorletzte Teil
der Etappe führt durch den
Wald, vorbei an Feldern und ei-
nem Großklinikum, das auf der
Hälfte zwischen Großebers-
dorf und Gera liegt, einer Stadt
mit 100000 Einwohnern, der
drittgrößten Thüringens.
Das Hotel liegt an einer
Hauptstraße, die befahren zu
nennen eine wirkliche Unter-
treibung ist, unablässig rasen
Autos vorbei, von Kleinwagen
bis zum Lkw. Wer hier wohnt,
braucht starke Nerven, doch
das Zimmer liegt nach hinten
und ist ruhig, hier kann man
schon durchatmen und be-
kommt einen ersten Eindruck
davon, was Thüringen und be-
sonders diese Region zu einem
beliebten Ausflugsziel macht:
die wunderbar sanfthügelige
Landschaft Thüringens, Stille,
Grün und–ich vermute mal –
Ruhe.
„Sehr viel Ruhe“, bestätigt

BERLINERKURIER,Sonntag, 18. August 2019

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SERIE


Im Osten geht derSommer auf:Teil 9


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WerRuhe sucht,der ist in Lederhose richtig. Besuch in einem


Ort, bei dem man sich zuerst fragt,wie er zu seinem Namen kam


Frau Müller,unterwegs mit Pudel, ist eine Zugezogene und hat sich noch nicht
an dasLandleben gewöhnt.

Fotos: Volkmar Otto

Willkommen in Lederhose!
VonBerlin-Alex anderplatz
bis hierher sind es mit Bahn
und Bus zirka3,5 Stunden.
Der Orthat 262 Einwohner.

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Einsamkeit

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