Hamburger Morgenpost - 18.08.2019

(Elle) #1
waffnetenAufstand insVolk tra-
gen, auf eigeneFaust,gegen ei-
nenBeschlussder Partei. Der
HamburgerAufstandscheitert
nach dreiTagen–er fordert 94
Todesopfer.300 Menschenwer-
den verwundet.Beim folgenden
Parteitag machtThälmann–der
vermeintlicheHeld derBarrika-
den verf olgte denAufst andaus
sicherer Entfernung–für die
Niederlagedie mangelhafte Bol-
schewisierungder Partei verant-
wortlich.
Moskau wirdauf Thälmann
aufmerksam. GrigoriSinowjew,
engerWeggefährte Stalins (und
später Opferder stalinistischen
Säuberungen), hältihn für„das
Goldder Arbeiterklasse“.Im
Frühjahr1925kandidiertThäl-
mannbei derWahl desReichs-
präsidenten. Obwohl er im ers-
tenWahlgangnur siebenProzent
der Stimmenbekommt, hälter
seine Kandidatur aufrecht. Der
zweite Wahlgangbringtihm 6,
Prozent. Damitverhindert er –
wohlsehrbewusst –dieWahldes
demokratischen Zentrumpoliti-
kers Wilhelm Marx, Kandidat
der bürgerlichenParteien. Der
unterliegtmit dreiProzent weni-
gerStimmen demparteilosen
Paul vonHindenburg,Kandidat
der rechtenParteien.
Stalins EinffllussmachtThäl-
mannimselben Jahr zumVorsit-

zendender KPD. Da führterbe-
reitsden Rotfrontkämpferbund,
derschonbald Tausende insei-
nen Bann undgege ndas Reichs-
banner derSPD,den Stahlhelm
unddieSAzuFeldezieht.Er
nimmtmiterhobenerFaustdie
Para denab.
WieumStalin wird auch um
Thälmann ein Führerkult aufge-
baut .Moskauwillihn zumTheo-
retikerdes deutschen Kommu-
nismusauffbbauen. Dabei ister
mehrein Mann derTatdenndes
Wortes.Die Frage, ob Thälmann
seiner ihm zugedachtenAufgabe
gewachsen ist, stellen schon
Zeitgenossen.ClaraZetkin, ein-
ffllussr eiches Mitgliedder KPD,
charakterisiert diePartei im Sep-
tember1927 als „schwach und
unfähig“,geprägt durch „Her-
ausbildung kleinerKliquen, per-
sönlichesIntrigieren,Gegenein-
anderarbeiten“.Thälmann wirft
sie vor, dass er „kenntnislos und
theoretisch ungeschult ist,inkri-
tiklose Selbsttäuschung und
Selbstverblendung hineingestei-
gert wurde, die an Größenwahn-
sinngrenzt (...).“

FürStalin bleibtThälmann
erste Wahl. Daszeigtsich, alsdie
Führungsspitz eder KPDihn im
September1928 vonseinen Äm-
tern entbindet; er deckteeinen
Genossen, derParteigelder un-
terschlagenhatte.NachDruck
ausMoskauist erzehn Tage spä-
terwieder im Amt;fortanver-
folgt er noch ergebenerdie Mos-
kauer Weisungen.
DieWeisungenorientieren
sich ander „Sozialfaschismus-
these“,vonSinowjew 1924 aufge-
stellt (undvon derKomintern
bis 1935vertreten).Sie besagt:
Die Sozialdemokratie stelltden
linken Flügel desFaschismus
dar;sie bindet die Arbeiteran
das bürgerlicheSystem undhält
sie vomKlassenkampfab; sie ist
vorrangig zu bekämpfen. „Man
kann den Kapitalismus nicht
schlagen“,sagtThälmann19 3 1,
„ohnedie Sozialdemokratie zu
vernichten.“
Wo immer sichdie Gelegen-
heit bietet, die (Sozial-)Demo-
kratiezubekämpfen–Thälmann
nutzt sie.Dabei scheut er sich
nicht,mit den erstarkendenNa-
tionalsoziali sten zusammenzu-
arbeiten. ImAugust 1931 versu-
chenKPD und NSDAPgemein-
sam, die sozialdemokratische
Landesregierung Preußens
durch einenVolksentscheid zu
stür zen.
Die Zerschlagung des bürger-
lichenStaat es unddie Errich-
tungeiner Diktatur nach sowje-
tischem VorbildwarThälmanns
Ziel. Im März1921 verkündeteer
sein antidemokratisches Credo:
„DiesenStaatbekämpfenwir so
lange,bis er nicht mehr alsStaat
existiert.Wirmachen daraus ab-
solu tkeinenHehl. Wirhaben
keineVeranlassung, in dieser
oder jenerBeziehunggegendie-
se oderjenePersonschonend
vorzugehen.“
Es gehörtzur Tragödie Ernst
Thälmanns, dassdem Staat, den
er unerbittlich bekämpfteund
dernach der ErnennungHitlers
zumReichs kanzlerdurch Hin-
denburgam30. Januar1933 tat-
sächlichnicht mehrexistierte,
ein Staatfolgte, der auchgegen
ihn schonungslosvorging.
DenReichstagsbrandinder
Nacht zum 28.Februar,den Hit-
ler denKommunistenindie
Schuhe schiebt, nutzen die neu-
en Machthaber,umTausende
politische Gegner,allenvoran
kommunistische Reichstags-
und Landtags abgeordnete–
rechtswidrig–festzunehmen.
Acht Polizeibeamte ergreifen
ThälmannamNachmittagdes 3.
Märzinder Wohnung derEhe-
leuteKluczynskiinder Lützo-
werStraße9(heute Alt-Lietzow
11)inCharlottenburg. Mindes-
tens fünfPersonen haben ihr
Wissen über dieVerbindung
Thälmann-Kluczynski an die
Polizei weiter gege ben.

Lesen Sieweiter aufder
nächsten Seite

Moskau
betrachtet

Thälmann als
„Goldder

Arbeiter-
klasse“.

Fotos: dpapicturealliance/ullstein bild (2), dpa pictur

ealliance/ak

gimages, Universal Images Group/Get

tttyImages, imago images/imagebroker

Sonntag, 18. August 2019^33


„Stimme und
Faust der Nation“:
So preist ein
Lied aus dem
Jahr 1951 Ernst
Thälmann, hier
bei einer Rede.

VonMICHAEL BRETTTTIN

Alles wird gut, jetzt, daBerlin
undMoskau einenPakt ge-
schlossen haben. Der Mann, der
Teddygenanntwird,istsichdes-
sen sicher.Ersei „f elsen fest
überzeugt“,dassStalinund Mo-
lotow –der sowjetischeAußen-
minister–bei denVerhandlun-
gen„dieFrage derFreilassung
der politischenGefangenenein-
schließlichdievonThälmannir-
gendwo und irgendwie gestellt
und aufgeworfen haben“,
schreibt er .„Alles, aberauchal-
les,spricht füfürmeinebaldige
Freilassung.“

Seit etwasmehr als sechsJahren
ist Ernst „Teddy“Thälmann,po-
pulärgeworden als Führer der
Kommunistischen Partei
Deutschlands (KPD), HitlersGe-
fangener.Ungebrochen scheint
er,wie ausseinenBriefen zu le-

sen ist. Demgegenübersind auch
Zeilen überliefert, aus denen
Enttäuschung undWutspre-
chen.
Nichts wirdgut,nachdem die
DeutscheReichsregierung und
die Regierungder UdSSRam23.
August 1939einenNichtangriffs-
vertrag unterzeichnet haben.
Thälmann wirdfünf weiter eJah-
re HitlersGefan genersein; Stalin
hatihn längstfallengelassen, sei-
ne Parteigenossen imExil eben-
so.Seine Gefangenschaft endet
vermutlichkurz nach Mitter-
nachtdes 18.Augusts1944 –ver-
mutlichdurch drei Schüsse in
den Rücken und einenSchussins
Genick.
Werwar ErnstThälmann?Ein
Kommunist und Antidemokrat,
beides durch und durch. EinVer-
ehrerStalins undVerächter der
Sozialdemokraten. EinHeld und
Märtyrer der Arbeiterklasse.
Auch,ja, auchdas: einWegberei-

terHitlers. Ein Bauer auf dem
Schachbrettder Geschichte.
Das Leben, in das ErnstThäl-
mann am16.April1886 in Ham-
burggeboren wird, ist ein ent-
behrungsreiches. Mit seiner
Schwester lebt er zunächst in ei-
ner Pffllegefamilie.Erhilftspäter
im Gemischtwarenladen derEl-
tern. WegenanhaltenderStre ite-
reien mitseinemVaterent-
schließtersich, seinElternhaus
zu verl assen.Erschlägt sich
durch als Hafenarbeiter,See-
mannund–indenUSA–Landar-
beiter, alsTransportarbeiter und
Kutscher.Indie Politikzieht es
ihn im Mai1903.ErwirdMitglied
derSPD.
Im ErstenWeltkriegkämpft er
an derWestfront;imHerbst 1918
kehrt ervoneinemFrontur laub
nichtmehr zurTruppe zurück.
Er erlebt dieRevolution in Ham-
burg, er arbeitet dortauf einer
Abwrackwerf t.Undschließtsich

derUSPD an, deraus demlinken
Flügelder SPD hervorgegange-
nen Partei.
Auch die USPD führt Flügel-
kämpfe,sie zerbricht beimPar-
teitag in Halle im Oktober 1920:
Die Fraktion,die vonder Revolu-
tion inRusslandbegeistert ist
und derauch der Delegierte
ErnstThälmannangehört, setzt
ihre Forderung durch, sich der
KommunistischenInternationa-
le anzuschließen, demWeltver-
band allerkommunistischen
Parteienmit Sitz inMoskau.We-
nigeWochen später gliedert sich
dieUSPD-Linkeindie KPDein.
Damitwächst diePartei um
350000Mitglieder;jetztistsi eei-
ne Massenpartei.
Schnell machtsich Thälmann
in derKPD einenNamen. Er er-
weistsich alsehrgeizigund
machtbewusst, seine Denkweise
kennt nur Genossen und Gegner.
ImOktober1923 willer denbe-

KPD-Führer Ernst Thälmann: Der Hamburger wurde


von Stalin, Ulbricht&Co. im Stich gelassen, auf Befehl


Hitlers vor 75 Jahren in der Haftermordet


TeddysTragödie


REPORT


Aufmarsch des
Rotfrontkämpfer-
bundes, vermutlich


  1. Ernst Thälmann
    (vorne links) ist
    Vorsitzender des
    paramilitärischen
    Kampfverbandes
    der KPD.

Free download pdf