Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1

MACHTWECHSEL


Monica Lewinsky
produziert
eine Krimi-Serie
über den
Fall Clinton

Medien, Seite 44

Die Geheimniskrämerei hat diese Woche
groteske Ausmaße angenommen. Man ge-
wann den Eindruck, alle bisherigen, künf-
tigen und vielleicht irgendwann mal an
der Behandlung beteiligten Ärzte von
Leroy Sané fürchteten ein schlimmes
Schicksal, falls sie ihre Erkenntnisse ver-
rieten. Wurden nicht die Architekten der
Pyramiden in ihr Werk eingemauert und
dem Konstrukteur der astronomischen
Uhr zu Prag die Augen ausgestochen, da-
mit sie ihr Wissen nicht weitergeben, wie
alten Legenden zu entnehmen ist?
Ärzte unterliegen der Schweigepflicht.
Andererseits: Es ist ein Kreuzbandriss.
Was dem Noch-Stürmer Manchester Ci-
tys und Vielleicht-bald-Angreifer der Bay-
ern passiert ist, passiert hunderttausend
Mal im Jahr in Deutschland, statistisch al-
le fünf Minuten. Meistens ist eine Verdre-
hung des Unterschenkels bei gebeugtem
Knie die Ursache, oft bei Richtungswech-
seln, weshalb Ski, Fußball, Handball und
Tennis so riskant sind. Ein falscher Tritt
oder ein Sturz am Skilift können das Band

auch reißen lassen, das Lasten bis 200 Ki-
logramm aushält. Sané trat am Sonntag
im Spiel gegen Liverpool nach acht Minu-
ten und zwölf Sekunden im Laufduell in
Schräglage schief auf, die Bewegung sah
auf den ersten Blick harmlos aus.
„Mit Flüssigkeit im Gelenk, die dabei
fast immer auftritt, lässt sich ein Kreuz-
bandriss im Kernspin gut bewerten“, sagt
Hartmut Gaulrapp, Vorsitzender des Be-
rufsverbands für Orthopädie und Unfall-
chirurgie (BVOU) in München. „Das ist
wie ein natürliches Kontrastmittel.“
Fast immer ist das vordere Kreuzband
betroffen. In der Folge wird das Knie insta-

bil, es kommt zum „Schubladenphäno-
men“: Im Sitzen lässt sich der Unterschen-
kel bei gebeugtem Knie vor- und zurück
schieben. Das unstete Gefühl rührt aber
nicht nur daher, dass die Bandverbin-
dung zwischen Ober- und Unterschenkel
beeinträchtigt ist. Von den Kreuzbändern
gehen Nervensignale aus, die Stand und
Lage des Knies ans Gehirn übermitteln.
„Mit dem Verlust an Kraft und Stabilität
geht auch ein Verlust der Koordination
einher“, sagt Orthopäde Gaulrapp.
Die häufigste Operationstechnik be-
steht darin, aus einem Beugemuskel an
der Rückseite des Oberschenkels mit dem

schönen Namen Semitendinosus eine
Sehne zu entnehmen und als Kreuzband-
ersatz im Gelenk zu verankern. Nach
sechs Wochen kommt es zum narbigen
Umbau, nach sechs Monaten sind Belas-
tungen möglich, nach neun Monaten kön-
nen Profis wieder einsatzfähig sein.
Während die Verletzung früher oft das
Karriere-Aus bedeutete, werden heute
Listen geführt, wie schnell welcher Profi
zurück ist. Sami Khedira wurde weniger
als ein halbes Jahr nach seinem Kreuz-
bandriss in den WM-Kader 2014 berufen,
während des Turniers verletzte er sich er-
neut. Holger Badstuber riss das Band und
dann während der Reha noch einmal. Da-
nach erlitt er weitere Verletzungen. Dabei
gibt es ein Leben ohne Kreuzband. Steter
Muskelaufbau und Stabilisierungsübun-
gen auf dem Wackelbrett geben Kontrolle
über das Knie zurück. Viele Breitensport-
ler lassen sich nicht operieren. „Dazu
braucht es aber Zeit“, sagt Mediziner Gaul-
rapp. „Und die fehlt den meisten Profis
und ihrem Umfeld.“ werner bartens

Sanés Knie-Fall


Der Wunschspieler des FC Bayern hat sich das Kreuzband
gerissen. Früher bedeutete das für Sportler oft das Karriere-Aus

Über den Nordwesten und Norden ziehen
Schauer und Gewitter. Im äußersten
Süden und Südosten klingt der Regen
größtenteils ab. Dazwischen gibt es eine
Mischung aus Sonne und Wolken bei 20
bis 29 Grad.  Seite 14 und Bayern

Berlin– Der kommissarische SPD-Frakti-
onschefRolf Mützenich will das Spitzen-
amt dauerhaft übernehmen. Er wolle
sich im September zur Wahl stellen, teilte
er am Freitag mit. Der Bundestagsabge-
ordnete hatte die Fraktionsführung im Ju-
ni kommissarisch übernommen, nach-
dem Andrea Nahles als Vorsitzende zu-
rückgetreten war. dpa  Seite 6

von oliver meiler

Was wurde Italiens Premier Giuseppe Con-
te imvergangenen Jahr belächelt: eine Ma-
rionette, ein Strohmann. Mit seinem Ein-
stecktuch, der Pomade im Haar, den fei-
nen Manieren galt er als präsentable Fi-
gur in einem Kabinett von Populisten und
Prahlern. Man schickte den süditalieni-
schen Rechtsprofessor und Anwalt, der
im Juni 2018 so unerwartet in sein Amt ge-
kommen war, auf alle internationalen Gip-
fel und Konferenzen, damit er für das
Land „bella figura“ machte, eine gute Fi-
gur. In Brüssel sollte er die Wogen glätten,
die seine lauten Vizes, Matteo Salvini von
der rechten Lega und Luigi Di Maio von
den Cinque Stelle, aufgewallt hatten. Er
sollte die totale Isolation Italiens abwen-
den. Alle Macht aber lag bei den Vizes.
Das war nur eine von vielen barocken
Anomalien, die dieses erste populistische
Experiment in Europa in sich barg. Nun
ist Regierungskrise, mitten in den Som-
merferien, und plötzlich zieht die ver-
meintliche Marionette die Fäden. Wenigs-
tens in dieser ersten Phase. Schließlich ist
er Premier, in aller Form.
Ausgelöst hatte die Krise aber Salvini.
Der Innenminister rechnet sich aus, dass
er bei baldigen Neuwahlen die Dividen-
den seiner rasant gestiegenen Popularität
einkassieren wird und dann eine harte,
rein rechte Regierung anführen kann. Er
ist ungeduldig. Salvini bangt vor den trä-
gen Mühlen der republikanischen Litur-
gie. Darum forderte er Conte auf, aus eige-
nen Stücken beim Staatspräsidenten den
Rücktritt einzureichen, um so den Weg
für Wahlen im Herbst frei zu machen. Am
liebsten wäre Salvini der 3. Oktober.
Doch Conte stellte sich quer, zum ers-
ten Mal. Dem Innenminister richtete er
aus, dass nicht dieser den Takt vorgebe,

dass es dafür andere, höhere Instanzen ge-
be. Conte „parlamentarisierte“ die Krise.
Das bedeutet: Salvini soll offen mit ihm
brechen, im Parlament und vor dem Volk,
und die Verantwortung dafür tragen. Man
muss dazu wissen, dass der parteilose
Conte trotz – oder gerade wegen – seiner
Statisten- und Mittlerrolle beliebt ist, be-
liebter noch als Salvini. Hat er persönliche
Ambitionen?
Conte steht den Cinque Stelle nahe, sie
hatten ihn in sein Amt gehoben. Er könnte
nun Di Maio an der Spitze der Partei ablö-
sen, den großen Verlierer des vergange-
nen Jahres. Doch ist das plausibel? Und wä-
re Conte, der früher immer links gewählt
hatte, wie er einmal erzählte, ein mögli-
cher Bündnispartner für die Sozialdemo-

kraten vom oppositionellen Partito Demo-
cratico? Sehr wahrscheinlich ist das Szena-
rio einer alternativen Mehrheit im Parla-
ment zwar nicht. Doch wer weiß – nie-
mand mag gerade Prognosen wagen.
Als er Salvini in die Schranken wies,
hielt Conte mit frontaler Kritik nicht zu-
rück. Er und sein Team hätten ihre Zeit
nicht am Strand vertrödelt, sagte er, son-
dern gearbeitet, das ganze Jahr über. Der
Vize? Hatte gerade eine „Beach Tour“ ge-
startet. Aus den Reihen der Cinque Stelle
wurde Salvini aufgefordert, dass er sich
endlich der Affäre um den angeblichen
Millionendeal seiner Lega mit Moskau
stelle, dem „Moscopoli“.
Da gibt es nichts mehr zu kitten, das Ex-
periment ist gescheitert. Die Lega hat nun

im Senat einen Misstrauensantrag gegen
Conte deponiert. Die Parlamentskam-
mern aber sind gerade ferienhalber ge-
schlossen, eigentlich für den gesamten
August. Um die Herrschaften aus dem sa-
krosankten Urlaub zu holen, vergeht
zwangsläufig etwas Zeit. Vor dem 20. Au-
gust, so die vorherrschende Meinung, öff-
net das Parlament wohl nicht.
Verliert Conte die Abstimmung, was an-
zunehmen ist, startet Staatschef Sergio
Mattarella die Konsultationen mit allen
Parteien und Akteuren. Auch dieses Ritu-
al dauert. Wenn Mattarella dann zur Ein-
sicht gelangt, dass das sitzende Parla-
ment keine Mehrheit mehr hervorbringt,
kann er die Kammern auflösen und Neu-
wahlen ansetzen. Mindestens sechzig Ta-
ge liegen zwischen den beiden Terminen.
So lange braucht es, um die Wahl der Aus-
landsitaliener zu organisieren. In der Zwi-
schenzeit würde wohl eine Übergangsre-
gierung die Geschäfte führen. Wie lange
genau, mit welcher Führung und Aufgabe
liegt allein im Ermessen des Staatschefs.
Das wichtigste Geschäft eines Fähr-
manns in der Krise wird die Verabschie-
dung des Haushalts für 2020 sein. Erwar-
tet werden schmerzhafte Einsparungen
und harte Auflagen aus Brüssel. An der
prekären wirtschaftlichen Verfassung des
Landes und den hohen Staatsschulden
hängen nämlich alle echten Sorgen. Das
zeigte sich am Freitag auch an den Börsen:
Die italienischen Banktitel gaben stark
nach, die Risikoaufschläge auf Staatsanlei-
hen stiegen.
Salvini wäre es ja ganz recht, wenn er
das knappe Budgetieren nicht selbst ma-
chen müsste. Denn es würde seiner Propa-
ganda schaden. Wahrscheinlich war das
auch der Hauptgrund dafür, dass er den
Bruch mit den Cinque Stelle gerade jetzt
erzwang.  Seiten 4 und 9

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Xetra Schluss
11694 Punkte

N.Y. Schluss
26287 Punkte

22 Uhr
1,1202 US-$

Euro-Jackpot(09.08.2019)
5 aus 50:2, 4, 20, 21, 49
2 aus 10:9, 10 (Ohne Gewähr)

Die SZ gibt es als App für
Tabletund Smartphone:
sz.de/zeitungsapp

29 °/11°


Berlin– Die vom Europäischen Gerichts-
hof gekippte Pkw-Maut bereitet Bundes-
verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU)
immer größere Probleme. In einem Brief
werfen die Grünen ihm nach SZ-Informa-
tionen Blockade bei der Aufklärung des
Debakels vor. Scheuer halte „wichtige Un-
terlagen gezielt unter Verschluss“, kriti-
siert Stephan Kühn, verkehrspolitischer
Sprecher der Fraktion. Dem Steuerzahler
drohen Schadenersatzforderungen der
Betreiber über einige Hundert Millionen
Euro. Die Opposition will aufklären, war-
um Scheuer die Betreiberverträge vor
dem Urteil einging. Bis 21. August soll er
die Papiere nachliefern, sonst drohen die
Grünen mit einem Untersuchungsaus-
schuss. mbal  Wirtschaft

AM WOCHENENDE


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 10./11. AUGUST 2019 75. JAHRGANG/ 32. WOCHE / NR. 184 / 3,70 EURO


Mützenich will


Fraktionschef bleiben


MIT IMMOBILIEN-,
STELLEN-UND
MOTORMARKT

 Buch Zwei, Seite 11


Dax▼



  • 1,28%


Dow▼



  • 0,34%


Euro▲


+ 0,

DAS WETTER



TAGS

NACHTS

Ultimatum


für Scheuer


Oppositionbeklagt Blockade
bei Aufklärung des Mautdebakels

DIE ZAHLEN


DER TOTEN


In den USA
hat der Missbrauch
von Waffen
die Ausmaße einer
Epidemie
angenommen

Wissen, Seite 34

Basta!


Lega-Chef Matteo Salvini erklärt Italiens Regierung für gescheitert. Einer aber scheint in der


Krise aufzublühen: Premier Giuseppe Conte. Lange galt er als Marionette, nun zieht er die Fäden


FOTOS: ATHUR SASSE/MAURITIUS; SZ-GRAFIK; JORDAN STRAUSS/AP

Politische Stimmung in Italien


Wahlergebnis 2018
Gewinne/
Verluste Aktuelle Umfragen*

Angaben in Prozent

38

22

1717

7
6
10

SZ-Grafik: juho, chen; Quelle: Politico, La Repubblica





+

+













Movimento 5 Stelle

Partito Democratico

Lega

Forza Italia
Fratelli d’Italia
Sonstige

Movimento 5 Stelle

Partito Democratico

Lega

Forza Italia
Fratelli d’Italia
Sonstige

3333

19

17

14
44
13

*Gewichteter Mittelwert, Stand 5. August 2019

Weltsprache


Emojis


Millionen Menschen kommunizieren


mit den Zeichen ihrer Smartphones.


Dabei ist ein modernes Esperanto


entstanden – gefühlig, lustig und politisch


überaus korrekt


TV-/Radioprogramm, Medien 42–
Forum & Leserbriefe 14
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 36
Traueranzeigen 27– 29


(SZ) Seit Christian Lindner 2017 die
Regierungsverantwortung abgelehnt
hat, nutzt der FDP-Chef die dadurch ge-
wonnene Zeit und profiliert sich als politi-
scher Denker. Sein geistiges Werk trägt
Spuren der Philosophie von Gottfried Wil-
helm Leibniz, der ja vom „Sinne des zurei-
chenden Grundes“ sprach, dem zufolge
„keine Tatsache als wahr oder existie-
rend gelten kann und keine Aussage als
richtig, ohne dass es einen zureichenden
Grund dafür gibt, dass es so und nicht an-
ders ist“. In diesem Sinne erläutert Lind-
ner gern, dass es immer einen
zureichenden Grund gebe, warum seine
Partei die Menschen gern belehrt, dass
sie gefälligst Verantwortung überneh-
men sollen, und diese Verantwortung sel-
ber dann zurückweist. Wahrscheinlich
wäre es sonst so und nicht anders, dass
die FDP vor lauter Regierungsarbeit gar
nicht mehr dazu käme, die Bürger über
das Nötige zu belehren.
Lindners ganze Brillanz erweist sich in
seiner Kunst, solche mentale Leistungs-
trägerschaft auf die Alltagsebene herun-
terzubrechen und jedermann verständ-
lich zu machen. Nun ist ihm die Erkennt-
nis zu danken, dass Geländewagen einen
wichtigen Beitrag zur Rettung des Welt-
klimas leisten: Ein Diesel-SUV, der „nur
wenige Kilometer genutzt wird, ist um-
weltfreundlicher als der Kleinwagen mit
hoher Fahrleistung“, so Lindner. Natür-
lich, die üblichen rot-grünen Bedenken-
träger, aus Lindners Sicht wohl lauter
Leute, die alles bestreiten außer ihrem Le-
bensunterhalt, mögen argwöhnen, der
FDP-Boss wolle seiner Klientel schmei-
cheln, welcher der kampfpanzergroße
Cityjeep als Ausweis all der Verantwor-
tung gilt, die der Besitzer in dieser Welt
voller Sozialromantiker zu tragen hat.
Die Kritiker verstehen eben den positi-
ven Geist nicht, der Lindners Worte zu sol-
chen Kostbarkeiten macht.
Man muss das SUV-Gleichnis doch
nur einmal weiterdenken: Ein tonnen-
schwerer, 23 Liter schluckender Hum-
mer-Geländewagen, dessen Zündschlüs-
sel der Besitzer fortgeworfen hat, um un-
sere Erde zu einem besseren Ort zu ma-
chen, ist ökologisch nachhaltiger als alle
Elektroroller der Republik zusammen.
Ein Löwenrudel, das sich vegan ernährt,
ist für Safaritouristen eine weit geringere
Gefahr als die Westafrikanische Zwergzie-
ge, die als störrisch gilt und mit den Hör-
nern nach ihnen pieken könnte. Ein Mit-
glied des rechten AfD-„Flügels“, welches
ausschließlich edle und dem Zusammen-
leben der Kulturen verpflichtete Gedan-
ken äußert, belastet das politische Klima
weniger als eine durchschnittliche Sonn-
tagspredigt. Und die FDP ist viel bedeu-
tender als alle anderen Parteien, wenn
ausschließlich ihre Anhänger zur nächs-
ten Bundestagswahl an die Urnen gehen.
Aber das ist natürlich hypothetisch. Chris-
tian Lindner würde nämlich selbst dann
Gründe finden, lieber doch keine Regie-
rungsverantwortung zu übernehmen.


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