Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
von christine dössel

D


a steht sie schon und wartet,
seelenruhig in ein Buch ver-
tieft, in ihrem Rücken der
Fels, vor ihr die Gräber. Valery
Tscheplanowa hat für das Tref-
fen in Salzburg den St.-Peters-Friedhof
vorgeschlagen. Der liegt samt Stiftskirche
am Fuß des Mönchsbergs, nahe dem Dom-
platz, der für die Schauspielerin in diesem
Sommer die Bühne ist. Sie spielt die Buhl-
schaft in Hugo von Hofmannsthals „Jeder-
mann“, dem unverwüstlichen Hit der Salz-
burger Festspiele, alljährlich dargeboten
als „Spiel vom Sterben des reichen Man-
nes“, mit Glockengeläut, Todesrufen und
Knittelreimen fürs Seelenheil. Und mit der
Buhlschaft als berühmtester Minirolle.
Das kühl-erotische Kraftwerk aus Russ-
land als Gspusi von Tobias Moretti – das ist
keine naheliegende Besetzung. Tschepla-
nowa ist eine Intellektschauspielerin. Eine
Frau mit besonderer Aura, trotzig-selbst-
bewusst, eisig-intelligent, von innen leuch-
tend. Vor allem ist sie eine Sprachvirtuo-
sin. Eine Literaturversteherin, die Texte
mit mathematischer Genauigkeit durch-
dringt und in aller Schönheit und Klarheit
zu Gehör, zum Funkeln und Klingen
bringt. Jedes Wort wie mundgeblasen.


Im Maschinentheater von Ulrich Rasche
hat sie, auf gigantischen Laufbändern und
Drehscheiben marschierend, wortmächtig
brillant den Franz gegeben in Schillers
„Die Räuber“ (2016 am Münchner Resi-
denztheater) und den alten König Dareios
in Aischylos’ Kriegstragödie „Die Perser“
(letztes Jahr in Salzburg) – Rollen nach ih-
rem Geschmack, weil diese couragierte
Reckin sehr gerne Männer spielt. Dann ist
sie wieder ganz Frau, mit unverschämter
Coolness, Würde und nackter Grandezza
das weibliche Prinzip an sich verkörpernd,
wie 2017 als Gretchen, Helena und Nana
in Frank Castorfs siebenstündigem
„Faust“-Trip zu seinem Abschied von der
Berliner Volksbühne. Sie wurde dafür als
„Schauspielerin des Jahres“ gefeiert. Ihr
bislang glänzendster Erfolg.
Die Sprechgranate Tscheplanowa für
die paar Sätze im „Jedermann“ – das ist ge-
radezu eine Verschwendung. Als Buhl-
schaft angefragt zu werden, fand sie selber
„so schräg“, dass sie prompt zusagte. Die
39-Jährige ist gerade in einer Sondie-
rungs- und Neuorientierungsphase. Sie
hat seit dem Castorf-„Faust“ kein Theater
mehr, kein Ensemble, weiß noch nicht, wie
es weitergeht. „Es ist schwer, nach Castorf
wieder jemanden zu finden.“ Sie will sich
jetzt erst mal Zeit lassen und sich umgu-
cken, die Fühler Richtung Film ausstre-
cken. Da kam die Buhlschaft gerade recht.
Sie spielt die Rolle bewusst distanziert,
will sich „nicht zu sehr assimilieren“ mit
der profanen Jetztzeit-Inszenierung von
Michael Sturminger. Zwischen ihr und Mo-
retti entsteht auch keine prickelnde Erotik,
keine Leidenschaft, aber, das ist Tschepla-
nowa wichtig: Wärme. „Wir sind ein Flirt.“
Kein Paar. Ein Kritiker schrieb, sie sei wie
eine „gute Freundin“. Das fand sie schön.
Bei ihrem ersten Szenenauftritt in einem
aufregenden Glitzer-Jumpsuit muss man
an große Diseusen à la Edith Piaf denken.
Zumal Tscheplanowa tatsächlich singt, ein
mittelalterliches Lied, „Der grimmig’ Tod“.
Wunderschön. Später bietet sie dem Publi-
kum die traditionell gewünschte Buhl-
schaftsweiblichkeit im signalroten Chiffon-
kleid. Aber nicht ranschmeißerisch.
Ein knöchellanges Kleid in Rot trägt sie
auch beim Treffen auf dem Friedhof. Es
schaut aus wie ein Buhlschafts-Alltagskos-
tüm. Tscheplanowa flieht aus dem Getüm-
mel oft hierher und besucht die „Katakom-
ben“ von St. Peter: die uralten Höhlen und


Kavernen in der massiven Felswand, einst
bewohnt von Eremiten.
In die Mönchsberg-Katakomben steigt
man nicht hinunter, sondern über Trep-
pen steil hinauf, quasi in den Fels hinein.
Tscheplanowa rafft ihr Kleid und mar-
schiert in ihren Stiefeletten voran, in der
Hand einen beigen Sonnenschirm. Sie
sieht bezaubernd aus mit ihrem altmodi-
schen Fräulein-Look, ihren hochgesteck-
ten blonden Haaren, ihrem feinen Gesicht.
Wie eine Figur aus einem Tschechow-
Stück. Oben führt sie in die „Kommune-
gruft“, in die Kapellen, die Nischen im Fels.
Sie saugt die Vergangenheit ein, die sie hier
umfängt, berührt das kühle Gestein. „Im
Grunde ist das hier mein Jedermann“, sagt

Tscheplanowa, „genau diese Rauheit, die-
se Felswand, dieser alte, schroffe Stein.“
Sie hat sich, beflissene Textstreberin,
die sie ist, die früheren „Jedermänner“ auf
Video angesehen, hat sie alle studiert, „die
alten Sprecher mit den Wahnsinnsstim-
men“, an ihrer Seite die unterschiedlich-
sten Buhlschaften: Senta Berger, Veronica
Ferres, Sophie Rois. Was Tscheplanowa
mag, ist „die Tradition“, das Urtümliche an
dem Stück: „Der Dom und die Spieler,
mehr war das früher nicht. Die Sprache hat-
te eine bildnerische Kraft. Was für eine Ma-
gie und Intimität da entstand vor 2000
Menschen!“ Aber jetzt geht ja nichts mehr
ohne Mikroports. Die amtierende Buhl-
schaft findet das schade. Sie hätte gerne

den Domplatz mit ihrer Stimme gefüllt, oh-
ne Verstärkung. Tscheplanowa pur. Dass
sie das gekonnt hätte – keine Frage.
Unvergessen, wie sie 2013 in einer denk-
würdigen Inszenierung ihres noch im sel-
ben Jahr gestorbenen Mentors Dimiter Got-
scheff ihr Engagement am Münchner Resi
antrat – in Heiner Müllers „Zement“, ei-
nem sperrigen Post-Revolutionsdrama
über die Aufbauphase der Sowjetunion.
Tscheplanowa in einem Leinenhemd wie
ein Sterntalermädchen durch den Abend
führend, leuchtend zart und intensiv. Got-
scheff, der schon am Deutschen Theater
Berlin mit ihr 2007 Müllers „Hamletma-
schine“ machte, hatte die Rolle eigens für
sie, die Sprachgewaltige, hinzuinszeniert:

Njurka, das tote Kind. Als solches erzählte
sie mit heller Todesengelstimme von Pro-
metheus und sprach Müllers schwierigen
Hydra-Monolog. Es war sensationell.
Als könne sie auf ein uraltes Wissen in
sich zurückgreifen, versteht es diese oft so
reif wirkende Schauspielkünstlerin, die
Kostbarkeit von Texten hörbar zu machen,
den Schmerz darin fühlbar, Schneisen zu
bahnen in die Tiefe. Dabei scheut sie weder
Innigkeit noch Pathos. Sie ist das Gegenteil
einer Ich-Performerin, es geht ihr um die
Dichter. Dafür ist sie überhaupt ans Thea-
ter: „Um den Dichtern nahezukommen.“
Absehbar war das in ihrer Jugend nicht


  • obwohl ihr Lateinlehrer an der Kieler Ge-
    lehrtenschule schon mit ihr als 14-Jähriger
    in der Hauptrolle ein Stück einstudiert hat,
    auf Latein. Die Migrantin aus dem russi-
    schen Kasan, Tochter eines Mathemati-
    kers und einer Dolmetscherin, war gut im
    Übersetzen von Dichtern, besonders gern
    „entschlüsselte“ sie Ovid. Und Mathe fiel
    ihr von allen Fächern am leichtesten. Sie
    war eine Topschülerin, eine Klasse hat sie
    übersprungen. Dabei war sie schon acht,
    als sie mit ihrer Mutter und deren neuem
    Lebensgefährten ins fremde Deutschland
    kam, in ein Kaff nahe Kiel.
    Die Geschichte, wie die Mutter sie da-
    mals in den Vorgarten stellte und verkün-
    dete, sie spreche von nun an kein Wort Rus-
    sisch mehr mit ihr, erzählte Tscheplanowa
    schon in Milo Raus Doku-Theaterabend
    „The Dark Ages“ im Münchner Marstall.
    Es waren die Nachbarkinder, die ihr die ers-
    ten Worte beibrachten. „Pony“, „Straße“,
    „Zaun“. Ein halbes Jahr lang verstummte
    das Kind komplett. Um danach akzentfrei-
    es Deutsch zu sprechen, akkurater als die
    meisten Muttersprachler.
    Zur Integrations- und Erfolgsgeschich-
    te der erstaunlichen Valery Tscheplanowa
    gehören aber auch die Ausraster und Aus-
    reißer, ihr anarchisches Potenzial. Die Ein-
    serschülerin war 17, als sie von zu Hause ab-
    haute. Sie trampte via Berlin nach Köln, leb-
    te auf der Straße, verdiente Geld mit Zeich-
    nungen und Gesang. Sie sagt, man müsse
    sie sich damals als androgynes Wesen mit
    kurz geschorenem Haar vorstellen. In grö-
    ßere Gefahr geraten sei sie nie. Zurück in
    Kiel, schmiss sie das Gymnasium kurz vor
    dem Abi, ging nach Russland, um ihren Va-
    ter kennenzulernen, frischte ihr Russisch
    auf – und fühlte sich frei. „Wie umge-
    stülpt.“ Mit 20 heiratete sie den palästinen-
    sischen Komponisten Samir Odeh-Tami-
    mi, mit dem sie drei Jahre zusammenblieb.
    Als sie mit 22 auf die Schauspielschule
    kam, war sie schon ein fertiger, erfahrener,
    eigensinniger Mensch.


Zum Schauspiel kam sie über den Um-
weg der Palucca-Tanzschule in Dresden
und einer Ausbildung am Puppentheater.
Sie schaffte die Aufnahme an der „Ernst
Busch“ in Berlin, galt aber von Anfang an
als Problemstudentin. Zu anspruchsvoll,
zu verkopft, nicht biegsam genug. Tsche-
planowa fand schon damals, „dass es auch
Schauspielerinnen wie mich geben darf“.
Ihr sei nichts lieber, als mit einem Alexan-
der Scheer auf der Bühne zu spielen: „Der
reine Instinkt.“ Oder mit Marc Hosemann,
dem Mephisto in Castorfs „Faust“. Im Ge-
rangel mit ihm riss sie sich auf offener Büh-
ne das Kreuzband – und spielte weiter. Sie
braucht es, dass „neben mir ein Vulkan an
Kraft ist und ich meinen Kopf dazugeben
kann“. Tscheplanowa nennt sich eine „bele-
sene Proletin“: „Von meinen Instinkten her
komme ich vom Land.“ Sie sucht mit aller
Gewalt die Extreme, ist gerne bäuerlich
wie in „Zement“ oder sexy-frivol wie im
„Faust“ – „und dann aber im Kontrast da-
zu: harte Textarbeit, hohe Literatur“.
Vor München war sie am Deutschen The-
ater Berlin und am Schauspiel Frankfurt

engagiert, arbeitete mit Andreas Kriegen-
burg und Michael Thalheimer, beide für ih-
re Ansprüche „zu geschliffen“. Sie war und
ist nicht immer gut, sie weiß es selbst.
„Wenn mir das Gesamtding nicht behagt,
versteinere ich.“ Dann wird sie hart, nach
innen wie nach außen. Sie findet, sie hat
ein bisschen zu lange versucht, in diese
Welt der genormten, kalkulierten Inszenie-
rungen reinzupassen, die darauf ausgelegt
sind: „Um acht Uhr fängst du an, und um
21.40 Uhr sollen die Leute weinen.“ Da ge-
be es andere, die machen das besser.
Sie gilt als schwierig, und das ist sie
auch, wenn man damit meint: unange-
passt, stolz, kapriziös, extremistisch, per-
fektionistisch, eigenständig. Sie gräbt sich
in die Materie eines jeden Stückes hinein,
besorgt sich Sekundärliteratur, hat eine
eigene Assistentin, die für sie „forscht“. Zu
jedem Stück legt sie ein dickes Buch mit Ge-
danken und Notizen an. Sie schreibt Ge-
dichte, zeichnet, in der Kantine sitzt sie oft
allein. Sie lebt auch allein, in Berlin, ist Sin-
gle, die Männer faszinierend, aber viele
mit ihrer Art auch abschreckend. Erst neu-
lich musste sie sich wieder anhören:
„Boah, Wahnsinnsfrau, aber die möchte
man nicht zu Hause haben.“

Frank Castorf wusste ihren freien Geist
zu schätzen und einzusetzen. Von ihm, den
sie als ihren wahren Künstlerseelenverbün-
deten erkannt hat, den „tollsten aller Regis-
seure“, gönnt sie sich gerade eine „Pause“.
Oder vielleicht auch er sich von ihr. Die bei-
den scheinen sich gefunden, aber auch
nichts geschenkt zu haben. Castorf be-
scheinigte Tscheplanowa einmal die „ge-
ballte Kraft eines russischenT-34-Pan-
zers“ und die „zähe Disziplin einer Bol-
schoi-Ballerina“. Er sprach aber auch von
der „typischen Verlogenheit einer Russin“.
Darüber grübelt sie noch immer nach. Sie
würde Castorf gerne überraschen. Sie
glaubt, das kann sie nur im Film.
Wir sitzen inzwischen im Stiftskulinari-
um St. Peter, dem angeblich ältesten Res-
taurant Europas, in dem sie sofort als Buhl-
schaft erkannt und hofiert wird. Am Ende
müssen wir nicht einmal bezahlen, der
Ober fühlt sich durch den Besuch geehrt.
Tscheplanowa sagt, sie finde es großar-
tig, älter zu werden. Und je älter sie werde,
desto weniger sei sie bereit, im Stadtthea-
ter noch Kompromisse zu machen. „Des-
halb wird’s für mich nun dünne.“ Sie be-
zeichnet sich als „eine Spielerin von altem
Gemüt“. Der Trend hin zur bildenden
Kunst im Theater sei zum Beispiel über-
haupt nicht ihr Ding. Sie brauche Ensem-
ble, Textarbeit, „jemanden, der ein Stück
liest, der eingreift, vor dem ich Angst ha-
ben kann“. Wenn Arbeiten sie unterfor-
dern, kann sie aasig sein. Es gab Regisseu-
re, mit denen sie nicht geredet oder bei de-
nen sie sich in den Proben allen Ernstes
den Augenkontakt verbeten hat. Andere
wären geflogen. Aber sie hat so eine Unbe-
dingtheit, die Respekt gebietet.
Selbst Resi-Intendant Martin Kušej hat
es ihr durchgehen lassen, dass sie aus sei-
ner „Faust“-Inszenierung ausgestiegen
ist. Das muss man sich beim Chef erst mal
trauen. Tscheplanowa hätte das Gretchen
spielen sollen, konnte aber mit Kušejs Zu-
griff nichts anfangen. „Er ist so ein In-
stinktler, ich schätze ihn, aber er ist nun
wirklich nicht mein Regisseur.“ Dass er sie
hat gewähren und später bei Castorf hat ar-
beiten lassen, rechnet sie ihm hoch an.
Aber sie habe auch bezahlt: „Mit Arbeit.“
Tscheplanowa schaut jetzt mal, was
kommt. Sie hat in Kasan, wo sie von ihrer
Großmutter eine kleine Wohnung vererbt
bekam, einen Schamanen aufgesucht. Der
gab ihr Ameisensäure zum Schlucken und
befand: „Etwas Neues fängt an. Nur Ge-
duld, es wird sich alles fügen.“

Der Weltklimarat hat gerade ein-
dringlich vor den Folgen der Erder-
wärmung gewarnt. Viel Zeit bleibt
nicht mehr, um den Schaden we-
nigstens zu begrenzen. Eigentlich
müsste sofort gehandelt werden.
Vielleicht ist auch wegen dieser
globalen Dringlichkeit, die langsam
in die Köpfe sickert, das Computer-
spiel „Outer Wilds“ (für PC und
Xbox One, 22-25 Euro) so überra-
schend erfolgreich. Denn hier sind
es nur noch genau 22 Minuten bis
zur Katastrophe, und gerettet wer-
den muss nicht nur ein Planet,
sondern ein ganzes Sonnensystem,
bevor es von der sich ausdehnen-
den Sonne verschlungen wird. End-
lich mal eine klare Ansage.
Der Spieler steuert einen netten
Außerirdischen mit vier Augen und
spitzen Ohren, der mit einem ver-
dächtig selbstgebaut aussehenden
Raumschiff völlig frei dieses Son-
nensystem erkundet. Dabei gelten
physikalische Gesetz: Die Planeten
bewegen sich auf vorgegebenen
Bahnen um die Sonnen und haben
eine Anziehungskraft. Das Raum-
schiff kann mit Schubdüsen in
sechs Richtungen bewegt werden
und bis man es schafft, ohne größe-
re Unfälle auf einem der Himmels-
körper zu landen, vergeht eine
Weile. Manche Partie kann noch
kürzer als 22 Minuten sein. Das
Spiel ist auch eine praktische Lekti-
on in Schwerkraft und Trägheit.
Das schwierige Antriebssystem
in den Griff zu bekommen lohnt
sich aber, denn es gibt in diesem

liebevoll gestalteten Sonnensystem
jede Menge zu entdecken, zum
Beispiel einen Planeten, der lang-
sam in sich zusammenstürzt, weil
in seinem Inneren ein schwarzes
Loch rumort (in das man auch nicht
fallen sollte), oder zwei kleinere
Trabanten, die so nah beieinander
die Sonne umkreisen, dass langsam
der Sand von dem einen auf den
anderen herüberrieselt und rätsel-
hafte Strukturen freilegt.
„Outer Wilds“ erfindet das be-
liebte Konzept einer frei erkundba-
ren Computerspielwelt neu: Das
Zeitelement, die Physik in Kombina-
tion mit den einfallsreichen Plane-
ten machen es zu einem der innova-
tivsten Spiele der letzten Jahre. Und
wenn die Rettung nach 22 Minuten
nicht gelingt, bekommt man, an-
ders als in der Wirklichkeit, auch
noch beliebig viele weitere Versu-
che. nicolas freund

„Neuzeitliche Wohnkultur“ ver-
sprach 1928 ein Werbeprospekt für
das Appartementhaus Kaiserdamm


  1. Hans Scharoun hatte es für
    „den alleinstehenden Menschen“
    entworfen. Neben Warmwasser,
    Zentralheizung und beheizten Trep-
    penhäusern standen Fahrstühle,
    „luftige Dachliegeterrassen“, eine
    Garage im Haus und ein Atelier für
    einen Künstler zur Verfügung. 1937
    zog die Fotografin Gerda Schimpf
    in das Haus am Kaiserdamm. Sie
    hatte am Bauhaus studieren wol-
    len, was die Machtübernahme der
    Nazis verhinderte. Die selbstbe-
    wusste Junggesellin wurde als Por-
    trätfotografin prominenter Frauen
    bekannt und wohnte 77 Jahre lang,
    bis zu ihrem Tod 2014, in Scha-
    rouns Appartementhaus.
    Gerda Schimpf hat einen promi-
    nenten Auftritt in der kleinen Aus-
    stellung des Museums Charlotten-
    burg-Wilmersdorf, das zehn „Orte
    der Moderne“ vorstellt und als
    Auftakt einer individuellen Stadter-
    kundung konzipiert ist. Man
    nimmt eine Karte mit und macht
    sich auf den Weg in ein nicht ganz
    so bekanntes Berlin. Gewiss, jeder
    kennt Hans Poelzigs „Haus des
    Rundfunks“ oder das Ufa-Premie-
    renkino „Universum“, heute Spiel-
    stätte der Schaubühne. Aber nur
    wenige waren schon einmal im
    Ladengeschäft der Schokoladenma-
    nufaktur Erich Hamann in der Bran-
    denburgischen Straße (Foto). Gestal-
    tet hat es 1928 Johannes Itten, der
    in den ersten Jahren am Weimarer


Bauhaus lehrte. Seine private
Kunstschule bezog 1929 eine mo-
dernen Neubau in der Konstanzer
Straße, das Gebäude ist heute ein
Wohnhaus. Wie wichtig es ist, auf
die architektonischen Kleinode in
der Großstadt zu achten, beweist
das Schicksal der Kant-Garagen.
Den sechsgeschossigen Automobil-
Aufbewahrungs-Palast mit einer
Vorhangfassade, wie auch das Des-
sauer Bauhaus eine hat, und einer
Wendelrampe wie in einem königli-
chen Palast, wollte der Eigentümer
2013 abreißen – und Berlin damit
um eines der schönsten Beispiele
des Amerikanismus aus der Weima-
rer Republik bringen. Nach Protes-
ten, Gutachten, Diskussionen fand
man schließlich eine Lösung, das
Gebäude zu erhalten und anderwei-
tig zu nutzen. Auch darüber infor-
miert die Ausstellung in der schö-
nen Neorenaissance-Villa Oppen-
heim. (Orte der Moderne, Villa
Oppenheim, Berlin, bis 10. Novem-
ber, http://www.villa-oppenheim-ber-
lin.de)jens bisky

Verlage sehen sich oft mit der Auf-
forderung konfrontiert, die Leser
dort abzuholen, wo sie sind, als
handele es sich um Taxi-Unterneh-
men. Am schönsten ist der Versuch,
sich Personen vorzustellen, die im
wirklichen Leben vorkommen, und
denen dann ein Identifikationsange-
bot zu machen, gerade bei der Re-
clam-Reihe „Klassikerinnen neu
entdeckt“ missglückt, wo Romane
von Marie von Ebner-Eschenbach
oder Katherine Mansfield, die sich


um Frauenschicksale drehen, mit
Covern versehen wurden, die auf
ihre eigene Art auch Schicksale
sind. Junge Frauen sind dort zu
sehen, die allesamt wirken, als
wären sie eigentlich lieber woan-
ders, und als würden sie sich in
diesem Moment gerade gewahr,
dass die Existenz als Klassikerin-
nen-Schmuckbild von Anfang an
ein Missverständnis gewesen ist.
felix stephan


Am erstaunlichsten ist die Freude,
dieses dezidiert Nicht-Verbitterte.
Wenn Mahenaz den Baum gießt an
jener Stelle, wo ihre Tochter Sabeen
im Auto erschossen wurde; wenn
sie erwägt, was noch Schlimmeres
hätte passieren können: Sabeen
hätte entführt und gefoltert werden
können, Wochen quälender Unsi-
cherheit: „Was hätten wir gelitten.“
Dann wirkt sie dankbar, ja, glück-
lich. Es dürfte nicht viele Mütter
geben, die dem Mord an ihrer Toch-
ter etwas Positives abgewinnen
können. Mahenaz kann es, aber sie
ist auch eine mindestens so unge-
wöhnliche Frau wie ihre Tochter
Sabeen. Die iranischstämmige
Filmemacherin Schokofeh Kamiz
hat einen Film über die pakistani-
sche Menschenrechtlerin Sabeen
Mahmud gedreht: „After Sabeen“
zeigt ihr Werk, ihr Künstler-Café
T2F, wo sie Menschen zusammen-
brachte, die sich nie begegnet wä-
ren, ein offener Raum in einer Ge-
sellschaft, in der der einzige Aus-
tausch zwischen den sozialen Klas-
sen über den Sklavenhalter ge-
schieht, wie es der Schriftsteller
Mohammed Hanif böse formuliert.
Man ahnt eine überwältigende
Persönlichkeit, Sabeens Klarheit,
ihre Furchtlosigkeit. Sie wusste,
was sie riskierte, als sie eine Veran-
staltung über Menschenrechtsver-
letzungen in der pakistanischen
Provinz Belutschistan machte –
und tat es doch. Aber am Ende
kann man nicht anders, als sich vor
ihrer Mutter Mahenaz (Foto) zu

verneigen – im Film, und bei der
Vorführung in München, zu der sie
aus Karatschi angereist war, auch
in Wirklichkeit. Sie schenkte ihrer
Tochter eine Freiheit, wie sie Frau-
en in Pakistan selten genießen, und
wenn sie festhält, dass eben diese
Freiheit Sabeen das Leben kostete,

dann schwingt kein Bedauern mit:
Sie würde alles noch einmal so
machen. Und doch stellt sich ein
paradoxer Effekt ein. Denn wo das
Motiv des Mordes vage und die
Täter gesichtslos bleiben, das Grup-
penporträt dieser Ausnahmemen-
schen aber umso eindrucksvoller
wirkt, da begreift man irgendwann
gar nicht mehr, wie dieselbe Gesell-
schaft überhaupt Fanatiker und
Mörder hervorbringen kann. An
diesem Sonntag zeigt das Berliner
Rollberg Kino in Zusammenarbeit
mit der Böll-Stiftung den Film (ca-
lendar.boell.de/de/event/after-sa-
been). Mahenaz Mahmud wird da
sein. sonja zekri

Leuchtende Erscheinung: Valery Tscheplanowa als Buhlschaft im Salzburger „Jedermann“. FOTO: IMAGO/MANFRED SIEBINGER

Aus Kušejs „Faust“ stieg sie
aus– bei Castorf ließ sie sich das
Gretchen nicht entgehen

Sie bezeichnet
sich selbst als
„belesene Proletin“

Sie schmeißt sich als


Buhlschaft nicht ran, lieber


gibt sie die „gute Freundin“


16 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag,10./11. August 2019, Nr. 184 DEFGH


Outer Wilds


Frau Grandezza


Harte Arbeit, hohe Literatur: Die erstaunliche Karriere der


fabelhaften Schauspielerin und Sprechgranate Valery Tscheplanowa


FOTO: RECLAM

Schokoladen und Garagen


FOTO: VERLEIH

FOTO: MILA HACKE

FOTO: MOBIUS STUDIO

Junge Menschen „After Sabeen“


VIER FAVORITEN DER WOCHE

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