Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
Auf dieser Seite
zeigenwir jede
Woche neue,
unbekannte oder
verschollene
Werke von Künst-
lern, Autoren,
Architekten,
Komponisten,
Regisseuren und
Designern. Sie
sprechen für sich
selbst, wir erzählen
die Geschichte
ihrer Entstehung.

Anna Seghers prägte mit Romanen wie


„Das siebte Kreuz“ den antifaschistischen Kanon


wie kaum jemand sonst. In den Zwanzigerjahren aber


bastelte sie Pop-up-Kinderbücher


wie dieses für „Ali Baba und die 40 Räuber“


Als Anna Seghers noch Netty Reiling hieß, ihre Flucht aus Na-
zi-Deutschland und das Exil in Mexiko gleichermaßen Zu-
kunft waren wie ihr Aufstieg zur gefeierten Dichterin der
DDR, bastelte sie Kinderbücher. Es war die Zeit nach ihrem
Studium und vor der Heirat mit dem ungarischen Soziologen
László Radványi, als sie Mitte der Zwanzigerjahre für ein paar
Monate wieder bei ihren Eltern in Mainz einzog. Längst war
sie Kommunistin, kritisch gegenüber allem Bürgerlichen,
wollte „ungestüm an meine eigene Arbeit“ gehen, voll Hoff-
nungen auf eine „baldige bessere Zukunft“, wie sie in kurzen
Einträgen in ihr Tagebuch schrieb. In den Vierzigern wird sie
mit Werken wie „Das siebte Kreuz“ und „Transit“ den Kanon
antifaschistischer Literatur prägen wie kaum jemand sonst.
Mit Mitte zwanzig aber widmete sich die angehende
Schriftstellerin – sie hatte gerade ihre erste Erzählung in der
Weihnachtsausgabe derFrankfurter Zeitungunter dem Pseu-
donym Antje Seghers veröffentlicht – ein Märchen aus „1001
Nacht“: „Ali Baba“. Mit Schere und Büroklammern fertigte sie
dafür vier aus- und einklappbare Papierskulpturen, welche

die Geschichte des Holzsammlers Ali Baba und der 40 Räuber
mit einem Schatz im Berg Sesam illustrierten. Anna Seghers
schrieb den offiziös klingenden Titel „Die Tiffelbücher – Fol-
ge I“ auf den Einband. Tiffel war ihr Spitzname in der Familie.
Ob sich die junge Frau ablenken oder nur andere Ausdrucks-
formen als die Literatur ausprobieren wollte oder womöglich
beides, lässt sich nicht mehr klären, denn Seghers geizte mit
Selbstaussagen.
Sehr wohl aber ist der Weg des „Tiffelbuchs“ rekonstruier-
bar: Ihre Eltern schickten ihr ihre gesamte Bibliothek ins Exil
nach Paris, darunter ihre Märchenbücher mit einer schönen
Insel-Ausgabe von „1001 Nacht“ – und das selbstgemachte
Ali-Baba-Tiffelbuch. Als Seghers weiterfloh nach Mexiko,
überdauerten die Werke den deutschen Einmarsch nach
Frankreich in einem Keller. Ihr Sohn Pierre fand die Bände
nach dem Krieg und schickte sie nach Ostberlin, wo Anna Se-
ghers inzwischen zu Ruhm und Ehre gekommen war. Heute
liegen die Dioramen im Anna-Seghers-Archiv der Akademie
der Künste in Berlin. sonja zekri

22 FEUILLETON GROSSFORMAT Samstag/Sonntag,10./11. August 2019, Nr. 184 DEFGH


FOTO: ROMAN MÄRZ, AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN, ANNA-SEGHERS-ARCHIV; © PIERRE RADVANYI
Free download pdf