Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
von uwe ritzer

S


ie ahnten früher als andere, dass
ihnen bald die Leute ausgehen
werden. Also sammelten sie Da-
ten über ihre Stadt, analysierten
Prognosen über deren wirtschaft-
liche und demografische Entwicklung,
rechneten ihren künftigen Personalbedarf
hoch und kamen zu einem klaren Ergeb-
nis: Sie werden einiges tun müssen. Jedes
Jahr wächst das oberbayerische Ingolstadt
um 1200 Einwohner, aktuell leben hier
137400 Menschen, die Zahl der Arbeits-
plätze liegt nur knapp darunter. „Für uns
bedeutet dieses Wachstum Straßen und
Schulen planen und bauen, neue Wohn-
und Gewerbegebiete erschließen, die Ver-
kehrsentwicklung lenken und insgesamt
für eine leistungsfähige Infrastruktur sor-
gen“, sagt Christian Siebendritt, Personal-
chef im Ingolstädter Rathaus. Die Sache
ist nur: Für all das braucht es genug Leute.
Genau die fehlen immer mehr Gemein-
den, Städten und Landkreisen in Deutsch-
land. Und zwar nicht nur in wirtschaft-
lichen Boom-Regionen wie dem Audi-
Standort Ingolstadt, wo der Arbeitsmarkt
seit Jahren leer und das allgemeine
Lohnniveau hoch ist.

In der freien Wirtschaft klagt man seit
Jahren über den Fachkräftemangel. Min-
destens genauso dringend suchen aber
auch die deutschen Kommunen nach gut
ausgebildetem Personal – und vor allem
nach Auszubildenden. Ob klassische Ver-
waltung, Bauamt, IT-Administration,
Friedhofswesen, Müllabfuhr, Jobcenter,
Stadtreinigung, Wasserwerke oder Kläran-
lagen – in nahezu allen Sparten fehlen Leu-
te. Selbst attraktive Führungsposten sind
immer schwerer zu besetzen.
Wie dramatisch sich die Lage zuspitzt,
das zeigen Zahlen, die der Deutsche Städ-
te- und Gemeindebund (DStGB) im Juli
veröffentlicht hat. Gemeinsam mit der Un-
ternehmensberatung Publecon fragte er
die personelle Lage in fast 500 Rathäusern
ab und verglich die Ergebnisse mit denen

einer ähnlichen Erhebung aus dem Jahr


  1. Das Ergebnis ist alarmierend. „Vor al-
    lem bei IT-Fachkräften, Absolventen von
    Ingenieurstudiengängen, Erziehern, Tech-
    nikern sowie Meistern in technischen Be-
    rufen wird ein Rückgang der Bewerberzah-
    len beklagt“, fasst Publecon-Unterneh-
    mensberater Thomas Helmke die Lage zu-
    sammen.
    Mehr als 800 000 Stellen in den Kom-
    munen könnten in absehbarer Zeit unbe-
    setzt sein, schreibt die DStGB-Fachzeit-
    schriftKommunalund warnt vor einem
    „Kollaps der Kommunalverwaltungen“. In
    den kommenden zehn Jahren geht etwa
    ein Drittel der Beschäftigten in Gemein-
    den, Städten und Landkreisen in den Ruhe-
    stand. Gleichzeitig bewerben sich immer
    weniger junge Leute um eine Ausbildung.
    „Für die zweite und dritte Qualifikations-
    ebene bekommen wir kaum noch Leute“,
    klagte Münchens Personalreferent Alexan-
    der Dietrich bereits 2018 auf einer SZ-Ver-
    anstaltung. „Zunehmend schwierig“ wer-
    de es auch, gute Juristen zu bekommen.
    Die würden von großen Kanzleien aufgeso-
    gen, „bei denen die Bezahlung höher ist“.
    Die Juristerei spielt aber naturgemäß ei-
    ne zentrale Rolle in Behörden, die Gesetze
    vollziehen und anwenden sollen. Fehlen
    die Experten, verzögern sich die Verfah-
    ren. Bürgerinnen und Bürger bekommen
    den Personalmangel aber auch immer häu-
    figer in ihrem unmittelbareren Lebensum-
    feld zu spüren. So offenbarten die zurück-
    liegenden heißen Wochen das Fehlen von
    Bademeistern; mancherorts müssen Frei-
    bäder deshalb geschlossen bleiben.
    Trinkwasser kommt zwar allenthalben
    aus den Hähnen, doch gibt es immer weni-
    ger Fachkräfte, die in den kommunalen
    Wasserwerken für eine reibungslose und
    hygienisch einwandfreie öffentliche Ver-
    sorgung da sind. So schlug beim diesjähri-
    gen „Tag des Wassers“ der Deutsche Ver-
    ein des Gas- und Wasserfachs Alarm: 2018
    hätten in Bayern lediglich 60 Lehrlinge ih-
    ren Abschluss als Wasserversorgungstech-
    niker absolviert, was viel zu wenig sei ange-
    sichts von 3300 Wasserversorgern allein
    im Freistaat.
    Auch bei manchen Berufsfeuerwehren,
    auf Recyclinghöfen und bei der Müllab-
    fuhr fehlen Leute. Und während Kommu-
    nen den politischen Forderungen nach-


kommen und immer mehr Kindertages-
stätten bauen, finden sie nach deren Fertig-
stellung nicht genügend Erzieherinnen
und Erzieher. Trotz voller Kassen in rei-
chen Regionen geraten Investitionen ins
Stocken, weil Bauämter chronisch unterbe-
setzt sind. Auch Stadtbaumeister sind ein
rares Gut: Die Stadt Köln suchte länger als
ein Jahr nach einem Baudezernenten.

Die Personalnot spitzt sich vor allem in
Ballungsräumen zu. Gesucht wird vom Be-
stattungsordner bis zum hochqualifizier-
ten Akademiker alles, was die kommunale
Job-Palette hergibt. Damit einhergeht
auch ein verschärfter Konkurrenzkampf
unter den Kommunen. Selbst Kleinstadt-
Bürgermeister beklagen hinter vorgehalte-
ner Hand, nicht nur Firmen, sondern auch
Nachbarkommunen würden ihnen Fach-
kräfte abwerben. Dabei, sagen sie, wäre
das früher allein im Sinne des nachbar-
schaftlichen Friedens ein Tabu gewesen.

„Früher“, sagt Daniel Hachay aus der
Leitung des Nürnberger Personalamtes,
„hat es auch gereicht, wenn wir in der Lo-
kalzeitung Stellenanzeigen geschaltet ha-
ben. Dann kamen genug Bewerbungen,
wir fischten einige Bewerber raus, luden
sie zum Vorstellungsgespräch ein und be-
setzten die Stelle.“ Und heute? „Müssen
wir viel mehr tun und vor allem dorthin ge-
hen, wo die möglichen Bewerber sind.“
Die beiden größten Nachteile der Kom-
munen im Duell mit der freien Wirtschaft:
Geld und Image. Jobs im öffentlichen
Dienst gelten vielen jungen Leuten gene-
rell als langweilig, verschnarcht, bürokra-
tisch und starr, was Tätigkeitsfelder, Ar-
beitsumfeld und Karrierechancen angeht.
Ein Vorurteil, sagen Hachay und andere
Rathaus-Personaler, aber auch ein An-
sporn, um beispielsweise über flexiblere
Arbeitsformen auch in Kommunalbehör-
den und -betrieben nachzudenken. Zumal
das Argument, Jobs dort seien krisenresis-
tent und sicherer als in der freien Wirt-
schaft, in Zeiten des allgemeinen Fachkräf-
temangels nicht wirklich weiterhilft.
Stattdessen erweisen sich die starren
Regeln und das Gehaltsniveau im öffentli-
chen Dienst immer mehr als Problem.
Ingolstadt zahlt Ingenieuren freiwillig
übertarifliche Zulagen, „weil wir sonst un-
sere Ingenieure nicht halten könnten und
keine neuen bekommen würden“, sagt Per-
sonalreferent Siebendritt. Ärmere Kom-
munen können sich solche Bonus-Zahlun-
gen hingegen nicht leisten. Auch der von
Politikern und Bürgern latent eingeforder-
te Spardruck setzt Grenzen. Experten wie
Klaus Geiger, Organisationsreferent beim
bayerischen Landkreistag, sehen auch den
Gesetzgeber gefordert. Um den Einstieg
zu erleichtern und attraktiver zu machen,
müssten „die Vorschriften für die Personal-
einstellung und -auswahl dringend auf
den Prüfstand und an die neuen Gegeben-
heiten des Arbeitsmarktes angepasst wer-
den“, sagt er.
Einige Kommunen wollen darauf nicht
warten und nehmen zum Teil viel Geld in
die Hand, um das Problem systematisch
anzugehen. Sie warten nicht einfach wie
früher auf Bewerbungen, sondern rekru-
tierten ihre Nachwuchskräfte aktiv in
Schulen und bei Job-Messen, im Internet
und dort vor allem über soziale Medien. Da

werden schon mal „Wuppertalente“ (in
Wuppertal) gesucht oder besondere Wer-
bekampagnen ausgerollt. Wie in Bonn.
200000 Euro investierte die Stadt in die
Aktion „Bonn macht Karriere“, bei der et-
wa der Klärwart als „Klarspüler“, der Forst-
amtsmitarbeiter als „Waldmeister“ und
die angehende Verwaltungswirtin als „Da-
tenträgerin“ auftreten. Motto von alle-
dem: Schaut her, so fad ist unsere Arbeit
nicht, wir sind flexibel und modern. Was
Daniel Hachay vom Nürnberger Personal-
amt auffällt: „Viele Jugendliche suchen
Sinnhaftigkeit in dem, was sie tun.“ Für die
Kommunen sei das eine Chance, schließ-
lich würden sie Menschen in ihrem Alltag
auf vielfache Weise unterstützen.

Gute PR-Aktionen allein reichen aller-
dings nicht. Immer mehr Kommunen lo-
ckern eigenmächtig die starren Regeln und
bieten beispielsweise Betriebswirtschafts-
studenten ganz unkonventionell eine Zu-
satzqualifikation an, um sie quasi im
Schnellkurs für Verwaltungsjobs fit zu ma-
chen. Um auch in Zukunft Fachingenieure
zu bekommen, kooperiert Ingolstadt mit ei-
ner Hochschule und stellt Studenten be-
reits während ihres Studiums gegen Festge-
halt an. Dank einer anderen Kooperation
mit einer Fachakademie können sich Abitu-
rienten unter bestimmten Bedingungen
statt in fünf in nur drei Jahren zur Erziehe-
rin oder zum Erzieher ausbilden lassen.
„Wir verfolgen eine Drei-Säulen-Strate-
gie“, sagt Ingolstadts oberster Personaler
Siebendritt: Eigenes Personal halten, neu-
es rekrutieren – und die Digitalisierung
ausbauen. Letzteres ist ein guter Vorsatz,
denn andere Länder sind weiter, was die
Online-Abwicklung einfacher Behörden-
vorgänge angeht. Dabei ließe sich so Perso-
nal einsparen, das an anderer Stelle einge-
setzt werden könnte. Digitalisierung kann
Personalnot lindern, ein Allheilmittel dage-
gen ist sie aber nicht. Manches bespricht
man als Bürgerin oder Bürger nämlich lie-
ber mit einem leibhaftigen Menschen im
Rathaus oder in der Kreisverwaltung. So-
fern sie denn noch da sind.

Früher“, sagt Daniel Hachay

aus der Leitung des

Nürnberger Personalamtes,

„hat es auch gereicht,

wenn wir in der Lokalzeitung

Stellenanzeigen geschaltet haben.

Dann kamen genug

Bewerbungen, wir fischten einige

Bewerber raus, luden sie zum

Vorstellungsgespräch ein und

besetzten die Stelle.“ Und heute?

„Müssen wir viel mehr tun und

vor allem dorthin gehen, wo

die möglichen Bewerber sind.“

von benedikt müller

W


irtschaftsforscher haben in die-
ser Woche vor einem Teufels-
kreis gewarnt: Während Städte
wie München stark wachsen und immer
teurer werden, drohen andere Regionen
dauerhaft zu schrumpfen – auch wirt-
schaftlich. Es geht nicht per se um West
gegen Ost oder Stadt gegen Land: Gerade
im dicht besiedelten Ruhrgebiet seien die
Wirtschaftschancen gering. Die Forscher
sehen akuten Handlungsbedarf, was jene
„gleichwertigen Lebensverhältnisse“ an-
geht, von denen das Grundgesetz spricht.
Da passt es gut, dass gerade eine küh-
ne Idee kursiert: Rheinland und Ruhrge-
biet könnten sich, über Stadtgrenzen hin-
weg, auf Olympische Sommerspiele be-
werben. Erste Firmen und Politiker unter-
stützen eine Initiative namens Rhein
Ruhr City 2032. Und man kann sie dazu
nur ermutigen.
Freilich wäre eine Bewerbung noch lan-
ge keine Zusage. Es gibt zu Recht Kritik
am Großereignis Olympia, in Hamburg et-
wa sind entsprechende Pläne gescheitert.
Deutschland hat sich schon mit anderen
Großprojekten in Berlin oder Stuttgart
blamiert. Und ja, in Städten wie Athen lie-
gen heute Stadien brach, die für sehr viel
Geld entstanden sind. Das sind abschre-
ckende Beispiele, gar keine Frage.


Doch müssten gerade an Rhein und
Ruhr viele bestehende Sportstätten nur
modernisiert, nicht teuer gebaut werden:
Fußball in Dortmund, Regatta in Duis-
burg, Basketball in Bonn, Reiten in Aa-
chen – alles etabliert. Und nicht nur dem
Sport würde Olympia auf Jahre nützen.
Bereits mit den Sommerspielen 1972
in München hat Deutschland bewiesen,
wie nachhaltig eine Stadt von dem Ereig-
nis profitieren kann: In Olympiastadion
und -Halle finden regelmäßig Veranstal-
tungen statt, der Olympiapark ist eine
grüne Lunge, das olympische Dorf bis
heute bewohnt. Die Spiele legten den
Grundstein für U- und S-Bahn in Mün-
chen – ein Netz, das heute zugegeben an
seine Grenzen stößt. Aber das ist nach
fast fünf Jahrzehnten auch kein Wunder.
Einen solchen Sprung bräuchte jetzt
auch das Ruhrgebiet, gerade weil sich
Städte wie Bochum oder Dortmund be-
reits heute erfolgreicher zu Forschungs-
und Dienstleistungsorten wandeln, als
viele denken. Doch es stimmt, dass viele
Arbeitsplätze weggefallen sind, etwa in
den Zechen. Bald werden weitere Kraft-
werke vom Netz gehen, auch die Stahlhüt-
ten müssen kämpfen. Und schon heute
sind viele Städte an der Ruhr zu hoch ver-
schuldet. Sie sahen sich deshalb auch bei
Bussen und Bahnen zum Sparen gezwun-
gen. Die Eisenbahn ist zu unzuverlässig
unterwegs. Und auch die Autobahnen,
vor allem die Brücken, sind dem Verkehr
nicht mehr gewachsen.
Olympia wäre die Chance für ein Infra-
strukturprogramm, das nicht nur vor-
übergehend Arbeitsplätze schafft. Die vie-
len Besucher Olympischer Spiele bräuch-
ten auch flächendeckend schnellen Mo-
bilfunk. Das olympische Dorf könnte na-
he Düsseldorf oder Köln entstehen – und
müsste so geplant werden, dass es nach
den Spielen den Wohnungsmarkt entlas-
tet: sozial und nachhaltig.
All das wäre eine gute Grundlage für
langfristiges Wachstum in der Zukunft.
Der Pott könnte der Welt ein Beispiel ge-
ben, dass der Wandel weg von der Kohle
hin zu einer innovativen und umwelt-
freundlichen Wirtschaft gelingen kann.
Und ja, all das wäre teuer. Doch die Sta-
tistik zeigt, dass Deutschlands Infrastruk-
tur schon in den vergangenen Jahren
mehr an Wert verloren hat, als der Staat
neu investierte. Es war noch nie so güns-
tig möglich, das zu ändern: Deutschland
kann derzeit Anleihen mit einem Zins-
satz von null Prozent ausgeben.
Olympia im Pott wäre sicher nicht die
einzige, aber eine vielversprechende In-
vestition. Lasst die Spiele also beginnen!
Oder lasst es uns wenigstens versuchen.


Die Natur in ganz Lateinamerika ist
inhöchster Gefahr. Wer sie retten will,
riskiert oft sein Leben  Seite 32

Der Trend geht zu Großraum und
Home-Office. Dabei ist das klassische
Büro oft sinnvoller  Seite 26

DEFGH Nr. 184, Samstag/Sonntag, 10./11. August 2019 HF2 23


WIRTSCHAFT


Benedikt Müller ist von
Berufswegen fast täglich an
Rhein oder Ruhr unterwegs.

Die Politik spricht viel von Digitalisierung und neuen
Technologien. Für den Arbeitsmarkt gibt es dagegen kaum
brauchbare Konzepte. Der Samstagsessay  Seite 24

Was die Ermittler
Ex-Audi-Chef Rupert Stadler
konkret anlasten  Seite 25

Millionenschaden


Zusteigen, bitte: Deutsche Kommunen suchen dringend nach Personal, vom Müllwerker bis zum Baudezernenten. FOTO:STEPHAN RUMPF; SZ-COLLAGE

STRUKTURWANDEL

Holt Olympia


andie Ruhr


Schutzlos
FOTO: TIERRAS DE RESISTENTES

Ruhelos
FOTO: A. SPRATT/UNSPLASH

Planlos


Stadt, Land, sucht


Nichtnur der Wirtschaft, auch vielen deutschen Kommunen fehlen Zigtausende Fachkräfte – Juristen genauso wie Erzieher oder Müllwerker.
Experten warnen bereits vor einem „Kollaps“. Wie ernst die Situation mancherorts ist, bekommen die Bürger schon jetzt zu spüren

Ein Großprojekt wie die Spiele


wäre die Chance, den Pott


fit für die Zukunft zu machen


Inzwischen klauen sich
die Kommunen das Personal
schon untereinander

In Bonn versuchen sie es mit
Imagepolitur: Statt den Klärwart
sucht man „Klarspüler“
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