Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1

M


enschenskinder, was für
ein verrückter Sommer. An
manchen Tagen war es
draußen überhaupt nicht
mehr auszuhalten. Da konn-
te man mit dem Auto durch Dießen fahren,
und der Ort war fast wie ausgestorben. Die
Cafés verrammelten ihre Türen, die Bier-
gärten waren geschlossen. Und wenn sich
Leute doch auf die Straße wagten, dann
fuchtelten sie wie verrückt mit den Hän-
den vorm Gesicht herum. Mücken können
einen in den Wahnsinn treiben.
Dießen am Ammersee gehört zu den
Postkarten-Motiven, die München umge-
ben. Oben eine schöne alte Klosterkirche,
unten der See und dazwischen ein Dorf,
das in seinem Kern immer noch ein paar
schöne alte Häuschen hat. Für Oberbayern-
Touristen gilt der Ort als Geheimtipp, wie
überhaupt der ganze Ammersee eher von
denen angesteuert wird, die sich nicht auf
die plattgelatschten König-Ludwig-Rou-
ten zum Chiemsee oder zum Starnberger
See locken lassen. Die Wittelsbacher, sagt
ein Dießener, wären nicht im Traum
darauf gekommen, hierherzufahren. Der
Starnberger See war immer der Bonzen-
see, der Ammersee der Bauernsee. Mit die-
sem Image konnten die Dießener leben,
denn wer sich mitten im Paradies befindet,
dem ist es vollkommen wurscht, wie ande-
re es nennen.
Wenn nun aber eine fürchterliche Mü-
ckenplage über die Gegend kommt und
auch noch darüber berichtet wird, dann
kann das schon lästiger werden – fast so
lästig wie die Mücken selbst. Es fing im
Juni an. Von da an kamen Reporter und
Fernsehteams.
Der Fußballer Tobias Handelshauser
vom FC Eichenau hatte mit seiner Mann-
schaft ein verhängnisvolles Auswärtsspiel
beim MTV Dießen. Alte Herren spielen in
dieser Liga öfter am Freitagabend. Nun
liegt aber der Sportplatz an der Dießener
Jahnstraße gleich neben dem Epizentrum
der Mückenplage, dem Moor- und Brut-
gebiet. Der Eichenauer Kicker gab danach
mehrere Interviews.


Er sagte, er sei an diesem Abend viel
mehr gelaufen als in anderen Fußballspie-
len. Wegen der Mücken natürlich. Aber hin
und wieder musste er doch stehen bleiben,
um Luft zu holen. Und bei Eckbällen und
Freistößen kann man auch nicht wild um-
hersausen, da muss man warten, bis die
Flanke kommt. Solche Standardsituatio-
nen nutzen Stechmücken eiskalt aus. Am
Ende hatte Handelshauser an die 500 Mü-
ckenstiche. Bei 460 habe er mit dem Zäh-
len aufgehört, sagte er. Atemnot stellte
sich ein. Sein ganzer Körper war so ge-
schwollen, dass ihn der Krankenwagen hol-
te und er zur Beobachtung die Nacht im
Krankenhaus verbringen musste.
500 Mückenstiche, das sind Attacken,
wie sie seit dem Alten Testament nicht
mehr aktenkundig wurden, nicht einmal
Hollywood könnte sich so etwas ausden-
ken. Die Dießener kamen mit ihren Mü-
ckenschwärmen besser zurecht als die
Eichenauer und gewannen 3:1. Ihr nächs-
tes Heimspiel eine Woche später gegen die
Spielgemeinschaft Olching-Gernlinden
wurde aber abgesetzt.
Dießener Lehrerinnen berichteten, in
den Klassenzimmern sehe es aus wie in ei-
nem Blattern-Lazarett. Die Kinder juckte
es, sie kratzten sich ihre Arme und Beine
auf. Eine Marter.
Ein wahres Drama spielte sich beim
traditionellen Bittgang der Pfarrei nach
Andechs ab. Die Prozession startete am
Pfingstmontag um fünf Uhr früh. Beobach-
ter erzählen, wie verzweifelt sich der Pfar-
rer und die Ministranten der Mückenatta-
cken erwehrten. Man kann ja nicht betend
die Hände falten oder ein Kreuz tragen und
gleichzeitig Mücken erschlagen. Die Unge-
zieferwolke begleitete die Pilger über den
See hinüber nach Herrsching.
Es wäre übertrieben, die Unterbräu-
Wirtsleute als Insektenopfer zu bezeich-
nen. Aber Martin Brink und seine Frau An-
na, die Chefin, haben die Mücken schon
auch gespürt. Ziemlich deutlich sogar. An
manchen Sonnentagen mussten sie ihren
wunderbar schattigen Biergarten geschlos-
sen lassen. Nun ist ihre ewige Biergarten-
Chronik ein wenig verfälscht.
Wirte waren schon immer die besten
Seismografen für die ganz großen Entwick-
lungen und Krisen. Ist der Bierkonsum
überliefert, können Wirtschaftshistoriker
den Wohlstand der Bevölkerung daran
ablesen. Der Unterbräu kann nun eine
Statistik zum Klimawandel vorweisen. An-
gefangen hat mit dieser Chronik der alte
Unterbräu-Wirt, Martin Brinks Schwieger-
vater, im Jahr 1994. Er machte an jedem
Tag, an dem der Biergarten geöffnet war, ei-
nen Strich in den Kalender. Eigentlich war
das Finanzamt die Ursache, es kamen im-
mer wieder kritische Nachfragen. Dann
zählte er eben die Schönwettertage mit.
Im ersten Jahr kam er auf 62. Fünf Jahre
später hatte er nur 46 Striche – ein verreg-
neter Sommer. Dann das Ausreißerjahr
2003 mit 104 Biergartentagen. Bis 2013
war das aber der einzige Eintrag mit mehr
als hundert Strichen. In den Jahren seit
2014 hingegen liegt nur ein Jahr unter hun-
dert. Sollte wirklich noch jemand am Kli-
mawandel zweifeln, muss er nur mal den
Unterbräu von Dießen fragen.
Mücken hin, Mücken her, Martin Brink
wird auch dieses Jahr locker über die hun-
dert kommen. Vor zwei Jahren wollten sie
ihm eine Fußgängerzone vors Wirtshaus
pflanzen. Was für eine absurde Idee für
ihn. Das kostete ihn definitiv mehr Umsatz
als die Mücken.
Jetzt aber hat ihm die Sonne schon im
Februar die erste Außenkundschaft be-
schert. Der April ist in den letzten Jahren
zuverlässig ein Bombenbiergartenmonat
gewesen. Wenn dann der eine oder andere


Sommertag wegen der Mücken ohne
Strich in die Klimawandelgeschichte des
Unterbräu eingeht, kann der Wirt das
verschmerzen. „Sommer ist relativ“, sagt
Brink. Er war dann mit der Familie zwei Ta-
ge am Kochelsee beim Zelten. Warum soll-
te er sich das antun? Die Mückenschwärme
erinnerten an dichtes Schneegestöber, sie
hätten sich in riesigen Schwaden durch
den Ort bewegt. Wer vergessen hatte, seine
Fenster zu schließen, hatte ein unbewohn-
bares Haus.
Der Unterbräu liegt nah am Dampfer-
steg, wo die großen Schiffe anlegen. Aber
die Mücken blieben nicht unten am See, im
Wirtsgarten oder auf dem Fußballplatz,
sie flogen durch die Gassen und Straßen
bis hinauf zum Kloster. Auf halber Strecke,
gegenüber dem Rathaus, liegt das Ristoran-
te von Mario Abria, die Pizzeria La Gondola


  • auch ein Mücken-Hotspot.


Der Chef bedient selbst. Dießener, die re-
gelmäßig bei ihm verkehren, loben nicht
nur seine Pasta, sondern auch seinen raum-
füllenden Bassbariton. Er singt italieni-
sche Weisen, wenn der Anlass passt,
Geburtstage, Ehejubiläen. „Bei Liedern
von Adriano Celentano meinen die Leute
manchmal, dass die CD läuft“, sagt er. Aber
es ist kein Playback, er singt wirklich so
schön. In den Tagen der Mückenplage hat
er allerdings kaum gesungen. Es war nicht
mehr feierlich.
Von sieben Touristenfamilien bekam er
mit, dass sie wegen der Mücken vorzeitig
abreisten. Das habe ihm für den ganzen
Ort sehr leidgetan, sagt Mario Abria, 50.
Vor seinem Lokal hat er siebzig schattige
Freisitze. Sie blieben leer. Die Tische im
Lokal waren dann rammelvoll, ständig
musste er Leute wegschicken. An diesen
Tagen seien 40 Prozent Umsatzverlust
zusammengekommen.
Abria stammt aus Basilikata, Apulien.
Dort ist es zu heiß für Mücken. Zwölf Jahre
ist er jetzt in Dießen, davor war er in Augs-
burg. Ganz mückenfrei blieb kein Sommer.
„Aber dieses Jahr war es schlimm. Es wa-
ren Milliarden. Und sie waren so aggres-
siv.“ Ein Stammgast, Chefarzt als Kardiolo-
ge, habe ihm dann den Mosquito Magnet
empfohlen. Ein technisches Wundergerät,
das Propangas in einen Geruch verwan-
delt, der Mücken lockt. Die Tiere fliegen
dann in die Maschine und verenden. Das
Gerät läuft immer noch, obwohl die Plage
Mitte Juli allmählich nachließ.
Drei Fernsehteams waren da und ließen
sich die Mückenmaschine zeigen. RTL, Sat
1 und BR. „Das Bayerische Fernsehen hat
mich dann aber nicht gebracht“, sagt er,

„denen war ich wohl zu lustig, weil ich
mich nicht aufgeregt habe.“
Die Einzigen, die von den Mücken profi-
tierten, waren der Apotheker und Christi-
an Loh. Herr Loh betreibt mit seiner Tante
und seinem Cousin an einer der Dießener
Hauptverkehrsachsen, der Herrenstraße
zum Kloster hinauf, einen außergewöhnli-
chen Laden. Dort gibt es so gut wie alles.
Strohhüte, Artischocken, Zeitungen, Kar-
toffelchips, Ameisensäure, Brühpech zum
Rupfen von Gänsen, Seife, Reformhaus-
Kekse, Waschmittel, Salzsäure, Nähgarn,
Zahnbürsten, frische Erd- und Heidelbee-
ren. Und eben auch Mückenschutzmittel.
Fast noch außergewöhnlicher als das
Sortiment ist die Gelassenheit von Christi-

an Loh und seinem Cousin, der hinter der
Kasse sitzt, wie die Ahnen der Familie
schon vor 60 Jahren hinter der Kasse
saßen. Mit dieser unfassbaren Gelassen-
heit sperren sie mittags von 13 bis 15 Uhr
ihren Laden zu, Pause muss sein. Donners-
tags ist neuerdings Ruhetag. Und in den
zwei Mittagsstunden lassen sie die
Außentische mit den Waren vor dem Ge-
schäft stehen.
Keine Angst, dass was gestohlen wird?
„Nein“, sagt Christian Loh, „da stiehlt kei-
ner. Diebe brauchen den Nervenkitzel, sie
kommen rein. Was meinen Sie, was wir
hier schon für Leute erwischt haben.“ Wer
schnell einen Strohhut brauche und nicht
bis 15 Uhr warten könne, der zahle eben in

einem Nachbarladen. Seine Mückenmittel
hat Herr Loh dann aber doch nicht vor die
Tür gestellt. Die waren zu begehrt.
Und das war sein großer Coup in diesem
Sommer. Die Discounter und Billigketten
müssen ihre Waren viele Monate im Vor-
aus ordern, einzelne Artikel nachzubestel-
len, ist meistens unmöglich. Während also
ihre Mückenmittel-Regale nach wenigen
Tagen leer waren und blieben, ließ sich der
gelassene Herr Loh Nachschub schicken.
Auch in den übelsten Mückenangriffs-
tagen hatte er noch 14 verschiedene Präpa-
rate im Regal hinter der Kasse.
Was für ein Geschäft! Loh rechnete zwi-
schendurch mal hoch und kam auf ein Plus
von 300 Prozent mehr Umsatz im Mücken-
schutz-Segment. „Da kamen Leute in den
Laden, die ich schon seit zehn Jahren nicht
mehr gesehen habe.“ Das sei ein schönes
Gefühl, wenn man wieder gebraucht wer-
de. Christian Loh schimpft aber nicht, er
weiß ja, wie es ist. Woanders bekommen
die Kunden eine Flasche Pril nun mal für
1,19 Euro. Er muss im Einkauf 1,60 Euro in-
klusive Steuer bezahlen und 2,49 Euro ver-
langen, wenn was herausspringen soll. Hin
und wieder geht trotzdem eine Flasche
weg. Beim frischen Obst und Gemüse ist es
kaum anders mit dem Preisunterschied.
Und trotzdem fährt er jeden Morgen um
vier Uhr in die Münchner Großmarkthalle
und holt Ware. Aber die Ameisensäure, die
hat er exklusiv. In Dießen müsste einiges
unter Denkmalschutz gestellt werden, zu-
allererst aber wäre dieser Laden zu konser-
vieren, wie er ist.

Angefangen hat der Dießener Schnaken-
schlamassel mit den Regentagen im Mai.
Im Moor sammelte sich das Wasser. Der
See war einen Dreiviertelmeter höher als
sonst im Frühling.
Für die Mückenbrut, die seit Jahren im
Boden geschlummert hatte, war die Zeit ge-
kommen. In der Marktgemeinde diskutier-
ten sie kurz, ob sie etwas dagegen unter-
nehmen sollen. „Da ging ein Riesenriss
durch die Bevölkerung“, sagt der Gemein-
derat Michael Hofmann. Vor allem Ge-
schäftsleute hätten eine chemische Keule
gefordert. Der Bürgermeister habe sich
dann aber doch schnell durchgesetzt, er ha-
be auf einen Grundsatzbeschluss verwie-
sen, wonach das Dorf keine Mückenpräven-
tion betreibe. Außerdem hatte knapp ein
Drittel der 8100 Wahlberechtigten wenige
Wochen zuvor für das Bienen-Volksbegeh-
ren und gegen das Insektensterben unter-
schrieben – wie sollte man dann großflächi-
ges Mückenlarvenkillen rechtfertigen?
Auch Michael Hofmann, 67, den sie im

Dorf Hofmann Miche nennen, hat beim Bie-
nenbegehren unterschrieben. Er trägt ei-
nen prächtigen Vollbart und dezenten Män-
nerschmuck, Goldkettchen, Ring, Knopf
im Ohrläppchen. Im Herzen ist er doch ein
Weltverbesserer geblieben, obwohl er sich
von den Grünen abgewandt hat. Für sie
saß er früher im Marktgemeinderat. Als
sie forderten, bei Handwerkern das
Betriebsgebäude bei der Steuer zum Be-
triebsvolumen dazuzurechnen, ging er zur
Bayernpartei und wurde auch dort wieder-
gewählt. Hofmann ist Handwerker. Als Res-
taurateur für die guten alten Schulwand-
karten ist er sogar einer der weltweit Letz-
ten seines Fachs.
Zur Bayernpartei ging er vor sechs Jah-
ren, weil ihm Personal und Programm zu-
sagten. „Lauter anständige Leut’. Und man
glaubt gar nicht, wie pazifistisch die sind.“
Beim Thema Mücken hat der Pazifismus je-
doch ein Ende. Da gilt Pragmatismus: Als
Geschäftsmann hat der Lokalpolitiker
durchaus Verständnis für die Dießener
Geschäftsleute, denen die Mücken das Ge-
schäft vermiest haben.

Ihm selbst haben die Tiere die Taufe sei-
ner jüngsten Enkelin gesprengt. Am Vor-
mittag schon. Sie verteilten noch Blase-
bälge, wie auch Imker sie verwenden. Es
brachte nichts. „Nach drei Stunden war die
Feier vorbei, eine absolute Zumutung.“
Wenn Hofmann könnte, würde er eini-
ges verändern in Dießen: Die Mücken
schon im Larvenstadium töten, wie sie es
an anderen großen Seen praktizieren, am
Chiemsee zum Beispiel. Und dann vor al-
lem den Bauboom bremsen. Es werde im-
mer teurer, und Dießener können sich
kaum noch Wohnfläche leisten in Dießen,
sagt er. Ein Reihenhaus mit winzigem
Gartenfleck war neulich innerhalb von
24 Stunden verkauft. Für 680 000 Euro.
Die Mücken kommen und verschwin-
den nach ein paar Wochen. Die Zuzügler
bleiben. Bei den Heimatforschern sehen
sie die Entwicklung mit heimatforscherli-
chem Argwohn. Ihr Arbeitskreis trifft sich
jeden ersten Montag im Monat beim Unter-
bräu im Nebenzimmer. Über solche Lokal-
patrioten kann jeder Bürgermeister froh
sein. In letzter Zeit hatten sie einen sehr,
sehr bitteren Krisenfall. Ein altes Bauern-
gelände im Ort wurde von einem reichen
Augsburger aufgekauft. Von einem Por-
schesammler, heißt es im Dorf. Im Unter-
grund des Anwesens befand sich ein beson-
ders schöner alter Bierkeller – einer von
früher zwölf Dießener Brauereien. Die Hei-
matforscher sagen, er war über 400 Jahre
alt, das Landesamt für Denkmalpflege in-
teressierte sich aber nicht.
Nun hat der Porschesammler gericht-
lich durchgefochten, dass er den alten Kel-
ler einreißen und eine Tiefgarage errich-
ten darf. Für seine Porschesammlung. Am
Tag nach dem Richterspruch kam der Bag-
ger und schuf Tatsachen. Seitdem klafft
ein Loch im Ort. Wenn die Heimatforscher
sagen, so schlimm sei es noch nie gewesen,
dann meinen sie zwei Dießener Probleme:
die Mücken dieses Sommers und ungebete-
ne Investoren.
Gott sei Dank ist in diesem Jahr wenigs-
tens die schlimmste Wetterunbill am Dorf
vorbeigezogen. Weiter nördlich in Schon-
dorf und Utting zertrümmerten riesige Ha-
gelkörner die Dächer und Solaranlagen. Es
war katastrophal. In Dießen aber können
sie sich auf die Mechtildis-Glocke verlas-
sen. Mechtild von Dießen war die Tochter
des Grafen Berthold II. von Andechs. Sie
lebte vor ziemlich genau 900 Jahren. Als
ihr Vater seine Dießener Residenz aufgab,
um auf der gegenüberliegenden Seite des
Ammersees, in Andechs, eine Burg zu er-
richten, vermachte er ihr ein Stück Land.
Mechtild, die er schon mit fünf Jahren im
Kloster der Augustiner-Chorfrauen unter-
gebracht hatte, wollte nicht mehr als die-
sen einen Acker. Eines Tages verwüstete
ein schreckliches Hagelunwetter das Land
um den Ammersee. Nur ein Acker blieb un-
versehrt: der von Mechtild. Die Katholiken
würden sie nicht heute noch als Selige ver-
ehren, wenn sie nicht die Feldfrüchte, die
er hervorbrachte, im Volk verteilt hätte.
Die Dießener waren dieser Frau so dank-
bar, dass sie ihr eine Glocke stifteten. Und
wenn sie in der Ferne dunkle Wolken se-
hen, dann läuten sie diese Glocke.
Zuständig für den regelmäßigen Blick
in den Himmel sind Pfarrer Josef Kirchen-
steiner und der Mesner. Vorsorglich schau-
en sie aber auch immer auf ihre Wetter-
App, man geht ja mit der Zeit. Am Pfingst-
montag, als es am Abend in Utting und
Schondorf schepperte, bimmelte die Mech-
tildis-Glocke eine Stunde durch. Es hat ge-
holfen. Wie immer. Vor 16 Jahren war der
Mesner einmal im Urlaub, und der Geistli-
che, einer der Vorgänger von Pfarrer Kir-
chensteiner, bei einem Ausflug unterwegs.
Es war niemand mehr da zum Läuten.
Prompt kam von Norden ein Hagel über
Dießen und richtete den Ort übel zu. In der
Kirche barsten Fenster, der Außenputz brö-
ckelte unter den riesigen Körnern.
So etwas soll nicht wieder vorkommen,
sagt der Pfarrer. Wie er sich die Wirkung
der Mechtildis-Glocke erklärt? Viele Leute,
sagt er, deuten es noch spirituell. Er be-
trachte es technischer. „Ich kann mir vor-
stellen, dass die Schallwellen da durchaus
was ausrichten können.“ Physik und Meta-
physik sind ein Dießener Geschwisterpaar.
Voriges Jahr brauchte der Pfarrer trotz-
dem die Feuerwehr. Ein paar Schwalben
waren hinterm Hagelschutznetz gefangen,
das jetzt zur Sicherheit um die Kirche ge-
spannt ist. Die Feuerwehr befreite sie,
dann konnten sie in den Süden ziehen. Pfar-
rer Kirchensteiner hat ein Herz für Vögel.
Im Pfarrhof haben sie ihre Nester unter der
Dachtraufe. „Heuer gedeihen sie prächtig.
Mücken sind eine gute Nahrung.“ Wäre
schön, wenn sie nächstes Jahr wiederkom-
men. Die Schwalben, nicht die Mücken.

Schwarm drüber


Eshätte so schön werden können:


die Sonne, der See, die Wärme.


Aber dann kam was dazwischen. Über einen


qualvollen Sommer am Ammersee


von rudolf neumaier


DEFGH Nr. 184, Samstag/Sonntag, 10./11. August 2019 HF2 DIE SEITE DREI 3


Den Leuten ist es egal, ob andere den Ammersee als Bauernsee schmähen. Sie wissen, dass sie im Paradies leben – meistens zumindest. FOTOS: ALESSANDRA SCHELLNEGGER

Physik und Metaphysik halfen,
dass das schlimmste
Unwetter an ihnen vorbeizog

Pfarrer Josef Kirchensteiner ist für den Blick
in den Himmel zuständig, dabei hilft ihm auch eine
Wetter-App. Die Familie Brink vom Unterbräu ließ den
Biergarten geschlossen – trotz guten Wetters.

Herr Loh, der Ladenbesitzer,
zählte mal nach: 300 Prozent
Umsatzplus beim Mückenspray

Gerade hatten sie gegen das
Insektensterben unterschrieben.
Und jetzt großflächig killen?

500 Stiche, das sind Attacken,


wie sie seit dem Alten Testament


nicht mehr aktenkundig wurden

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