Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
FOTO: REUTERS

Weißes Tischtuch, Blumenschmuck, im
Hintergrund die blaue Fahne der Verein-
ten Nationen. Den Tisch hatte die UN-Son-
dergesandte für Zypern, Elizabeth Spe-
har, am Freitag decken lassen für zwei
Männer, auf denen viele Hoffnungen ru-
hen: für Nikos Anastasiadis, Präsident der
Republik Zypern, der für die Inselgrie-
chen spricht, und für Mustafa Akıncı, den
Präsidenten der Zyperntürken. Seit 45
Jahren ist die Mittelmeerinsel geteilt. Es
gab so viele vergebliche Wiedervereini-
gungsversuche, so viele gescheiterte Gip-
feltreffen, verworfene Friedenspläne,
dass man sie gar nicht mehr zählen kann.
Jetzt sollen es die zwei noch einmal probie-
ren, und man kann sagen: Sie könnten
das beste Team sein, das es je gab. Aber
das ist leider keine Garantie für einen Er-
folg. Es kommt vor allem auf Akıncı an.
Auch wenn beide als Befürworter eines
Friedens gelten, ist die Lage Akıncıs doch
deutlich schwieriger. Anastasiadis ver-
tritt ein EU-Land, sein Gegenüber aber ei-
nen Staat, den es eigentlich gar nicht gibt,
denn er wird nur von der Türkei aner-
kannt. Daraus leitet die Regierung in An-
kara einen Mitbestimmungsanspruch im
türkischen Inselteil ab, der nach dem al-
ten Grundsatz funktioniert: Wer zahlt,
schafft an. Unterstrichen wird dies durch
mindestens 30000 türkische Soldaten,
die im Inselnorden stationiert sind.
Mustafa Akıncı ist 71 Jahre alt. Den Ruf
eines Versöhners hat er sich schon mit 28
erworben, da wurde er Bürgermeister des
türkischen Teils der geteilten Hauptstadt
Nikosia. Damals gab es nicht einmal Tele-
fonverbindungen auf die andere Seite,
über den Stacheldraht hinweg. Akıncı, ein
Architekt, schaffte es, mit seinem griechi-
schen Kollegen die Abwasserkanäle der

geteilten Stadt zu einem Netz zu verbin-
den. Dafür bekamen die beiden internatio-
nale Preise. 14 Jahre lang blieb der Sozial-
demokrat Bürgermeister. 1999 wurde er
Vizepremier, aber schon 2001 wieder aus
dem Amt gedrängt. Er hatte kritisiert,
dass die Türkei selbst Feuerwehr und Poli-
zei kontrolliere; der Türkischen Republik
Nordzypern fehlten damit die Merkmale
eines unabhängigen Staates. Von einem
türkischen General musste er sich darauf-
hin sagen lassen, er sei eine Bedrohung
für das türkische Zypern.
Akıncı aber gab nicht auf. 2003 gründe-
te er seine eigene politische „Bewegung

für Frieden und Demokratie“, sie setzt
sich für die Wiedervereinigung ein. 2004
schien schon wieder alle Hoffnung dahin.
In einer Volksabstimmung lehnten da-
mals drei Viertel der Zyperngriechen ei-
nen UN-Vereinigungsplan ab, den zwei
Drittel der Inseltürken billigten. Danach
nahm die Abhängigkeit des türkischen
Nordens von Ankara noch weiter zu, und
im Süden feierten sie den EU-Beitritt.
Akıncı blieb unbeirrbar, und 2015 wur-
de er Präsident, in einer Stichwahl schlug
er einen Nationalisten. Sofort bekam er es
mit dem starken Mann der Türkei, mit Re-
cep Tayyip Erdoğan, zu tun. Akıncı sagte,
die Türkei sollte ein „brüderliches Verhält-
nis“ zu den Zyperntürken entwickeln und
sie nicht behandeln wie „eine Mutter ihr
Baby“. Erdoğan ließ ausrichten: Akıncı sol-
le aufpassen, was er sagt.
Derzeit macht Ankara es ihm wieder
nicht leicht. Die Türkei lässt vor Zypern
nach Gas suchen. Das machen auch die Zy-
perngriechen, sie fühlen sich im Recht
und wollen darüber mit der anderen Seite
nicht einmal reden. Auch die EU sieht den
Provokateur in der Türkei. Akıncı ver-
sucht aus seiner Sandwich-Position das
Beste zu machen. Er hat ein gemeinsames
Komitee vorgeschlagen, das sich der kom-
plexen Gasfrage annehmen soll. Die grie-
chische Seite hat sofort abgelehnt.
Akıncı wurde 1947 in Limassol gebo-
ren, das liegt heute auf der griechischen
Seite der 186 Kilometer langen Demarkati-
onslinie. Er ist mit einer Psychologin ver-
heiratet, die beiden haben drei Töchter
und zwei Enkel. Nach dem Treffen am
Freitag forderte sein griechischer Ge-
sprächspartner von der Türkei „guten Wil-
len“. Akıncı musste er darum nicht bitten.
Der hat ihn. christiane schlötzer

E


s kennzeichnet die Skrupellosig-
keit der neuen Populisten und Nati-
onalisten, dass sie Regeln brechen,
gerade wenn sie nicht sofort juristisch
bestraft werden: Regeln des Anstands,
Selbstverständlichkeiten des politischen
Benehmens. Der britische Premier Boris
Johnson scheint nun gewillt zu sein, eine
solche Grenze einzureißen. Er würde
nach einem Misstrauensvotum einfach
weiterregieren oder durch Finassieren
den Wahltermin auf den Tag nach dem
EU-Austritt legen. Das mag in einer Grau-
zone möglich sein. Politisch ist es eine
Frechheit und zeugt von der Verachtung,
die der Mann der demokratischen Wil-
lensbildung entgegenbringt.
Der Brexit hat Großbritannien paraly-
siert. Die Lähmung hält nun schon zwei
Jahre an, und die wirtschaftlichen Folgen
eines ungeregelten Austritts wären katas-
trophal. Angesichts unklarer Mehrheiten
im Parlament und der Spaltung der Par-
teien lautet die ebenso zwingende wie bil-
lige Lösung, die Wähler um ihre Stimme
zu bitten und so das Parlament neu zu-
sammenzusetzen. Das alte Parlament hat-
te nur noch die Kraft, den unkontrollier-
ten Austritt zu verbieten. Immerhin die-
ses Votum sollte gelten.
Ein parlamentarisches Misstrauensvo-
tum gegen einen Premier bedeutet, dass
er das Land nicht mehr führen darf. Es be-
deutet vor allem, dass eine so dramati-
sche Zäsur wie der Brexit nicht in einem
politischen Vakuum entstehen darf. We-
nigstens darüber sollte sich das Unter-
haus mit großer Mehrheit einig sein,
wenn es die letzte Glaubwürdigkeit nicht
verlieren will. stefan kornelius


G


emessen an der Tonlage könnte
man meinen, Richard Grenell
leite mindestens den innersten
Machtzirkel des US-Präsidenten. Ob
der Botschafter tatsächlich so nahe an
Donald Trump dran ist, wie er sugge-
riert, ist völlig offen. Manchmal unter-
nehmen die in den hinteren Reihen be-
sonders viel, um gehört zu werden.
Das freilich sollte nicht dazu verlei-
ten, Grenells Warnung vor einem Trup-
penabzug aus Deutschland als leere Dro-
hung abzutun. Der US-Botschafter wie-
derholt nur, was Trump seit seinem
Amtsantritt sagt: Ihr leistet nicht mehr
bei der Verteidigung? Dann ziehen wir
unsere Soldaten ab. Noch hat Trump so
ziemlich alles gemacht, was er mal an-
kündigte. Deshalb wäre es naiv, in die-
sem Fall anderes zu erwarten. Berlin
muss sich und die beteiligten Regionen
auf dieses Szenario vorbereiten.
Dazu aber gehört auch, die Debatte
vom Kopf auf die Füße zu stellen. Geht
es nach Trump, dann sind die US-Solda-
ten ein längst unverdientes Geschenk
an die Deutschen. Genau das sind sie
nicht und auch nie gewesen. Sie stan-
den und stehen in der Bundesrepublik,
weil es stets ein gemeinsames Interesse
daran gab. Und nicht nur das: Über die
Jahrzehnte wurde Deutschland für die
Amerikaner ein bequemer und günsti-
ger Brückenkopf für manchmal alles an-
dere als unumstrittene Nahost-Einsät-
ze. US-Soldaten in Deutschland – das
war nach dem Krieg wichtig. Aber es ist
kein Almosen. Und es wäre kein Scha-
den, das dem US-Präsidenten deutlich
zu machen. stefan braun

von stefan ulrich

M


atteo Salvini ist ein gefährlicher
Mann. Für Italien. Für Europa.
Der Lega-Chef hat es in wenigen
Jahren geschafft, aus einer herunterge-
wirtschafteten Regionalpartei die in Um-
fragen klar führende Kraft des Landes zu
formen. Und er hat es vermocht, vom
einst kommunistisch ausgerichteten
Apparatschik zum Parteichef, Vizepremi-
er und starken Mann in Rom aufzustei-
gen. Nun hält er die Zeit für gekommen,
die Koalition mit den populistischen Cin-
que Stelle platzen zu lassen und nach der
ganzen Macht zu greifen. Für die Lega.
Für sich selbst. Den Italienern steht ein
unheimliches Abenteuer ins Haus.
Seine verblüffende Karriere verdankt
Salvini seinem Machtinstinkt und seiner
Gerissenheit. Er erkannte das Vakuum,
das durch den Absturz des 2011 letztmals
als Premier gescheiterten Silvio Berlusco-
ni und dessen rechtsliberaler Partei For-
za Italia entstanden war. Und er füllte es
aus. Salvini legte die Lega auf strammen
Rechtskurs fest, der nun schon präfa-
schistische Züge angenommen hat. Er
schob Berlusconi aus dem Weg und be-
nutzte die unbedarften Cinque Stelle, um
2018 als Innenminister und Vizepremier
an die Regierung zu kommen.
Dabei gelangen ihm zwei Schurkenstü-
cke. Er inszenierte ausgerechnet seine
Partei, die als Lega Nord bereits 1994 und
später mehrmals wieder mit an der Regie-
rung war, als Anti-System-Partei. Und er
schuf eine doppelte Lega: Im Norden tritt
sie, wie früher, als Partei der Besitzstands-
wahrer in den reichen Provinzen auf, die
Steuersenkungen und Autonomie ver-
spricht. Im Süden geriert sich die Lega da-
gegen als Stimme der Abgehängten, die
es „denen da oben“ so richtig zeigt. So
gelingt es Salvini, aus unterschiedlichs-
ten Wählerreservoirs zu schöpfen.

Und noch etwas kommt hinzu: Italien
ist ein gekränktes Land. Einst ein Kraft-
zentrum Europas, darbt es wirtschaftlich
schon lange. Viele Alte zehren ihre Erspar-
nisse auf, die Jungen wurschteln sich
durch oder gehen ins Ausland. Politisch
hat Italien in der EU massiv an Bedeu-
tung verloren. In der Flüchtlingskrise
fühlte es sich allein gelassen. Da kam Sal-
vini, schürte den Nationalismus und ge-
brauchte ihn als Balsam für die verletzte
italienische Seele. Er gab die Schuld an
allen Problemen Einwanderern, der EU
und auch Deutschland, versprach eine
nationale Renaissance, flirtete mit der
faschistischen Vergangenheit. Und er
nahm sich Wladimir Putin zum Paten.

Das alles ist gefährlich genug. Darüber
hinaus bedient der Lega-Führer im Land
schlummernde Sehnsüchte nach einem
starken Mann, der in Italien aufräumt
und es der bösen Außenwelt zeigt. Ge-
lingt es Salvini jetzt, Neuwahlen durchzu-
setzen und Premier einer von der Lega to-
tal dominierten Regierung zu werden,
könnte nach Polen und Ungarn auch Itali-
en ins Autoritäre abgleiten.
Wer kann Salvini noch stoppen? Die
Cinque Stelle? Viele ihrer Politiker haben
sich als postmoderne Schwätzer erwie-
sen, die unterschiedlichste im Volk popu-
läre Forderungen vermischten und oft
schnell wieder aufgaben, wenn Salvini an-
ders entschied. Berlusconi? Seine Zeit ist,
die Prognose sei gewagt, nun wirklich vor-
bei. Die Sozialdemokraten? Sie haben Sal-
vini zur Macht verholfen, indem sie ihren
eigenen Premier Matteo Renzi demontier-
ten. So bleibt nur eine vage Hoffnung: die
Wähler. Das italienische Volk.

von detlef esslinger

Z


wei Repräsentanten der SPD brin-
gen ein „rot-rot-grünes“ Bündnis
ins Spiel; das ist nötig, rührend und
etwas albern zugleich. Malu Dreyer, die
rheinland-pfälzische Ministerpräsiden-
tin und derzeitige ⅓-Vorsitzende der Par-
tei, sagt, sollte es nach einer Wahl eine
Mehrheit links von der Union geben,
„müssen wir das Gemeinsame suchen
und das Trennende analysieren“. Lars
Klingbeil, der vielleicht für den halben
oder den ganzen Vorsitz antretende Gene-
ralsekretär, erklärt, es stünden sicher De-
batten über Mehrheiten jenseits der Gro-
ko an. „Dazu gehört auch Rot-Rot-Grün.“
Nötig sind die Äußerungen, weil die
SPD auch deshalb weiter abstürzt, weil sie
schon so abgestürzt ist. Zwischen knapp
zwölf und knapp 15 Prozent wird sie nun
gehandelt. Sämtliche bisherigen Machtop-
tionen sind ihr allein schon arithmetisch
ausgegangen – und Parteien, die in Debat-
ten über mögliche Koalitionen gar nicht
erst vorkommen, verschwinden tendenzi-
ell auch aus den Erwägungen der Wähler
(außer Protestparteien). Die SPD ist also
darauf angewiesen, an Koalitionsdebat-
ten irgendwie teilzuhaben, will sie nicht
bald im einstelligen Bereich landen.
Rührend an dem Gedankenspiel ist,
dass die erwogene Koalition bei ihr weiter-
hin „Rot-Rot-Grün“ genannt wird – wo
doch jeder zusammenzählen kann, dass
sie, wenn überhaupt, nur als Grün-Rot-
Rot zustande käme. Nach der nächsten
Wahl dürfte die SPD kaum der stärkste
welcher Partner auch immer sein; und
folglich auch nicht derjenige, der zu Koali-
tionsverhandlungen einlüde. Sie muss
hoffen, eingeladen zu werden.
Und dies von den Grünen, zusammen
mit der Linken? In Bremen nimmt nächs-
te Woche ein tatsächlich noch von der SPD
geführter Senat mit Grünen und Linken

die Arbeit auf. Aber Bremen ist ein linkes
Biotop, und aus einem Scheitern des Bünd-
nisses („Selbst dort“!) ließe sich mehr ab-
leiten als aus einem Gelingen („Ist halt Bre-
men“). Doch müssten die Grünen ver-
rückt sein, würden sie nun Spekulationen
über ein Linksbündnis in Berlin nähren.
Ihr Boom beruht ja darauf, dass sie beim
Menschheitsthema Klimaschutz Vertrau-
en erhalten – und dass sie es keinesfalls
als Lagerthema führen. Würden sie den
Anschein erwecken, das Klima sei nur ihr
Vehikel, um eine linke Republik zu etablie-
ren: Sie würden schneller abstürzen, als
sie emporgekommen sind.

Ganz abgesehen davon, dass es eh nicht
passt: In der Außenpolitik denkt der Grü-
nen-Vorsitzende über einen Militärein-
satz am Golf nach, während eine Vizeche-
fin der Linksfraktion im Bundestag zu Ma-
duro nach Venezuela reist. Hinzu kommt
noch der kommissarische und nun blei-
ben wollende Fraktionschef der SPD, der
den Einsatz gegen den IS beenden will: Da
ist das Trennende schnell analysiert. Die
Sache ist so, als sollte Franz Müntefering
einen Yogakurs leiten, am Ballermann.
Doch das Problem der SPD ist ohnehin
nicht Arithmetik; es ist umgekehrt: Diese
ist nur der Ausdruck all ihrer Probleme.
Die Partei ist nicht mit sich im Reinen, sie
will lieber über die Groko jammern, statt
über ihre Erfolge dort zu erzählen; ihr
brandenburgischer Ministerpräsident
Dietmar Woidke hat es soeben beklagt.
Deshalb findet sich ja auch niemand von
Rang, der oder die sich den Parteivorsitz
antun mag. Und in dieser Lage über „Rot-
Rot-Grün“, also übers Kanzleramt, nach-
denken? Wie gesagt: etwas albern.

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R


ichie Havens wäre an jenem
Freitag im August 1969 eigent-
lich noch gar nicht dran gewe-
sen. Da aber niemand außer
ihm da war, der sich imstande
sah, das Festival zu eröffnen, ging er auf
die Bühne. „3 Days of Peace & Music“ wa-
ren angekündigt, Ungeduld vor, Unge-
duld hinter der Bühne. Also eröffnete Ha-
vens kurzerhand Woodstock, eröffnete
das koordinierte Chaos, in dem eine halbe
Million Ichs zu einem Wir werden sollten.
Ob Havens nun drei Stunden durch-
spielte, daSweetwaterwegen des Staus
eingeflogen werden mussten, oder es
doch 45 Minuten waren, darüber existie-
ren einige Mythen. Wie ja ganz Woodstock
ein Metamythos ist. 50 Jahre später sind
diese wilden Tage im August 1969 noch im-
mer Teil des kollektiven Rebellions- und
Musikgedächtnisses. Woodstock und die
Hippiebewegung, die Studentenproteste
und die Kämpfe der 68er erscheinen um-
so aktueller, je entschiedener die Klima-
kinder von 2019 ihre Gegenwelt einfor-
dern. Havens gingen damals jedenfalls
langsam die Songs aus. So
entstand aus Not und Im-
provisation „Freedom“ –
und der Untertitel für die-
se Flower-Power-Welt-
flucht-Veranstaltung.
Was diese Menschen
wollten, war natürlich Mu-
sik.The Who, Janis Joplin.
Marihuana, LSD, befreite
Sexualität und Entgren-
zung gehörten auch dazu.
Wäre das aber alles gewe-
sen, dass Menschen unter
dreißig sich zum gemein-
schaftlichen Abtöten von
Gehirnzellen treffen, wäre
Woodstock nicht zu die-
sem Symbol von Wider-
stand geworden. Umfree-
domging es dann auch;
die Hippies wollten raus
aus der normativen Enge,
in die ihre Eltern sie hin-
eingeboren hatten. Raus
aus autoritären Struktu-
ren und Fremdbestim-
mung, raus aus dem Vietnamkrieg, der
nicht ihrer und doch ihrer war.
In den Tagen vom 15. bis 18. August
1969 – nur sechs Tage nach den Morden
der Manson-Sekte, die sich auch irgend-
wie als Hippie-Kommune verstand – war
jene bunte Zeit fast schon wieder vorbei.
Gerade noch rechtzeitig traf man sich in
Woodstock zu einem sozialen Experi-
ment, bei dem sich eine halbe Million Indi-
viduen vergewisserten, dass das möglich
war: Frieden und Freiheit unter Fremden.
Ein halbes Jahrhundert später hat nun
eine neue Jugendbewegung die Weltbüh-
ne betreten. Faktisch ist sie im Frieden
aufgewachsen, nicht minder faktisch
glaubt sie nicht, dass dieser halten wird,
wenn demnächst die ersten Staaten unter-
gehen. „Fridays for Future“ hat gute Chan-
cen, anders als Protestgruppen wie „Occu-
py“ oder „March for Our Lives“ langfristig
mediale Aufmerksamkeit zu erhalten und
Bilder zu kreieren, die es in ihrer Vehe-
menz mit dem Woodstock-Schlamm auf-
nehmen können. Es passt gut und ungut
in diese Zeit, in der ein Politiker wie Do-
nald Trump über die Größe seines Atom-
knopfes sinniert, dass eine Bewegung nur
dann in ihrer Relevanz erkannt wird,
wenn sie mit Apokalypse argumentiert.
Seitdem die große Greta-Erzählung am



  1. August 2018 vor dem Parlament in


Stockholm begann, geht es aber – anders
als bei den Hippies – nicht mehr um Ent-
grenzung, Freiheit und Distanz zu den El-
tern. Es geht um neue Grenzen. Fridays
for Future fordert die Begrenzung der Erd-
erwärmung auf 1,5 Grad Celsius, die radi-
kale Veränderung eigentlich jedes Lebens-
bereichs und damit das Ende eines vogel-
freien Verständnisses von Individualität.
In diesem Punkt unterscheiden sich die
Klimakinder von 2019 auch sehr von der
Generation Y, deren Ruf so schlecht ist wie
ihr Name. Zwischen den frühen Achtzi-
ger- und den späten Neunzigerjahren ge-
boren, schauen sie nun den Jüngeren da-
bei zu, wie die die Arbeit machen. Nach
dem Schock von 9/11 und unter dem Ein-
druck von Angst und Unsicherheit wurde
Freiheit für diese Generation eher zum Im-
perativ des biografischen Funktionierens.
Der vermeintliche Ausbau von Individuali-
tät wurde zum einzig logischen Lebensent-
wurf einer auch lähmenden Leistungsge-
sellschaft. Dennoch wusste auch diese Da-
zwischen-Generation (wobei der Begriff
Generation eine Verallgemeinerung ist
und nur Strömungen wie-
dergeben kann) um die
Probleme der Welt, doch
die Scham des Nichtstuns
fühlte sich bleiern an. Nun
rufen die sehr Jungen ihr
entgegen: nicht fliegen,
obwohl es billig ist. Nicht
verdrängen, obwohl man
das so gelernt hat. An die
Arktis denken, und nicht
nur an die eigene Woh-
nung. An ein Wir denken,
nicht nur an das Ich.
Die neue Bewegung
tritt auch anders auf als
die Hippies. Sie knüpft
zwar an den Geist der
Sechziger an, an das Ge-
wahrwerden der Heimat
Erde in ihrer Schutzbe-
dürftigkeit und den Aus-
bruch aus gewachsenen
Strukturen. Indem sie
Frauen an ihre Spitze
stellt und dafür keinen Di-
versity-Preis haben will,
folgt sie Forderungen nach einer bunten
Gesellschaft. Aber man kann sich demons-
trativen LSD-Konsum und die Ekstase
über Jimi Hendrix’ Anti-Nationalhymne
bei den Klima-Aktivisten von heute so gut
vorstellen wie Hippies mit Dating-Algo-
rithmus und Excel-Tabelle. Hier treten
Menschen auf, die ihre Argumentation
auf Daten stützen und nicht auf Sturm-
und-Drang-Gefühle.
Gemein dürfte allen Jugendbewegun-
gen das große Gefühl von Zusammengehö-
rigkeit sein. Ein wenn auch nur kleiner
Teil des Ganzen zu sein: Das war Wood-
stock; dieser beinah familiäre Zusammen-
halt ist auch bei Fridays for Future spür-
bar – während große Teile der Gesell-
schaft im politischen Diskurs auseinan-
derdriften. Gerade weil die Akteure heute
so jung sind, stehen die Chancen auf eine
Versöhnung der Generationen und die
Überwindung des übergroßen Egoismus
nicht schlecht. Die Generation Thunberg
sucht eher den Schulterschluss mit den El-
tern als deren Verdammung, sie sucht den
Austausch mit Obrigkeiten und Industrie.
Wenn nun auch die Y-Leute den Schulter-
schluss mit den Klimakindern suchten
und den Status als Einzelwesen aufgäben,
wäre das fast ein bisschen Woodstock.
Zusammen für etwas zu sein. Oder auch
dagegen.

Ab sofort darf auf den Balea-
reninseln wieder der Mata-
dor in goldbetresster Weste
und Kniebundhose, eine
schwarze Kappe auf dem
Kopf, seinem Handwerk nachgehen:
Nach langem juristischen Streit haben
sich die Verfechter des Stierkampfes ge-
gen die links orientierte Regionalregie-
rung in La Palma de Mallorca durchge-
setzt, die das blutige Spektakel verboten
hatte. Matador ist die höchste Stufe in der
Berufsgruppe der Toreros, der Stier-
kämpfer: Er ist derjenige, der am Ende
der meist in drei Teile gegliederten Corri-
da (wörtlich: Lauf) den Stier mit einem
einzigen Stoß seines Degens von oben
zwischen die Schulterblätter kampfunfä-
hig machen oder gar direkt töten soll. Ma-
tadore heißen bei einer bestimmten
Form der Corrida auch die Reiter, die mit
einer Lanze den tödlichen Stoß verset-
zen. Der Begriff bedeutet wörtlich„Tö-
ter“. Das Verb matar kommt vom Lateini-
schen mactare (ein Schlachtopfer brin-
gen). So bezeichnet heute das spanische
Wort matadero nicht die Stierkampfare-
na, sondern einen Schlachthof. Matadore
müssen eine lange Ausbildung an einer
der Toreroschulen durchlaufen. Nur we-
nige schaffen es zu Starruhm und werden
reich. Ein Vorstoß konservativer Politi-
ker, die „Kunst des Stierkampfes“ zum
Wahlfach an staatlichen Schulen zu ma-
chen, scheiterte vor wenigen Jahren. tu

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag,10./11. August 2019, Nr. 184 DEFGH


BREXIT

Skrupellos


US-TRUPPEN

Kein Almosen


ITALIEN

Kampf um Rom


Derautoritäre Nationalist Salvini
greift nach der ganzen Macht.
Stoppen kann ihn nur das Volk

ROT-ROT-GRÜN

Nötig, rührend, albern


Tandemflug in der Landephase sz-zeichnung:luis murschetz

50 JAHRE WOODSTOCK


Vom Ich zum Wir


von friederike zoe grasshoff


AKTUELLES LEXIKON


Matador


PROFIL


Mustafa


Akıncı


Präsident der
Zyperntürken mit
Friedenswunsch

In Brandenburg hat die SPD
einen Wahlkämpfer, der ihr
wahres Problem benennt

Ein halbes
Jahrhundert nach
dem Festival ist in
„Fridays for Future“
eine neue
Jugendbewegung
entstanden. Beide
eint die Sorge um
die Erde und die
Sehnsucht nach
Zusammenhalt
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