Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
interview: claudia fromme
undkatharina riehl

Franz Josef Wagner: Fragen Sie mich, was
Sie wollen. Ihre Meinung haben Sie ja so-
wieso schon.
SZ: Wir sind da nicht so festgelegt, Herr
Wagner. Wir stellen uns bei Ihrer „Post“
inBildvielmehr die Frage: Ist das genial
oder einfach nur durchgeknallt?
Aha.
Wie lautet Ihre eigene Diagnose?
Der Mensch hat mehrere Ichs. Ich bin nicht
mehr der Junge, der Priester werden woll-
te. Nicht mehr der Mann, der mit Andreas
Baader durch München zog. Und auch
nicht mehr der Aschenbecher werfende
Chefredakteur.
Waren Sie das alles?
Mit Aschenbechern habe ich nie geworfen.
Es ist, als würden Sie zu einem Jäger sagen:
Schmeiß dein Gewehr weg. Ein Raucher
wirft nicht mit seinem Equipment, Aschen-
becher, Feuerzeug.
Und womit haben Sie geworfen, wenn
nicht mit Aschenbechern?
Pfffff. Mit Manuskripten, Wasserflaschen.
Waren Sie ein netter Chef?
Ich war jedenfalls einer, der am nächsten
Morgen alles vergessen hatte.
Ihre Mitarbeiter auch?
Das ist das Problem. Wenn du zu einem Re-
dakteur „Scheiße“ sagst, weil sein Text dir
nicht gefällt, dann triffst du einen natür-
lich tief in seiner Persönlichkeit. Das war
mir damals nicht klar, ich habe immer ver-
sucht, mein Produkt zu sehen.


Sie schreiben an den Liverpool-Trainer:
„Wäre ich eingeschlossen in einem bren-
nenden Haus, dann wünschte ich mir,
dass Jürgen Klopp ein Feuerwehrmann
ist.“ Den Juso-Vorsitzenden Kevin Küh-
nert blöken Sie an: „Quatschen ist nicht ar-
beiten.“ Sie nennen ihn „Universitäts-Lu-
sche“. Sind Extreme gut fürs Geschäft?
Zur Beurteilung von Kevin Kühnert fiel
mir das Wort „Universitäts-Lusche“ ein.
Ein ewiger Student, der über Eigentum
und Kapitalismus redet, aber noch nie in
seinem Leben richtiges Geld verdient hat.
Es ist halt schwierig, wenn das einer
schreibt, der durchs Abitur geflogen ist.
Ja, das kam auch gleich von irgendwelchen
Bloggern: Wagner, eine Gymnasiasten-Lu-
sche. Im Gegensatz zu Kühnert hatte ich
mit 30 einen Bestseller geschrieben, der
verfilmt wurde. Mit 30 war ich Kriegsrepor-
ter in Vietnam und Israel.
Finden Sie die Wortwahl deshalb okay?
Ich finde sie gelungen. Vor 100 Jahren hät-
te ich vielleicht „ewiger Knabe“ geschrie-
ben.
Sie schreiben „Liebes Mobbing-Mäd-
chen“ an eine Schülerin, die sich getötet
hat, weil sie den Druck ihrer Mitschüler
nicht mehr ertragen hat. Sie benutzen sie
für Ihre schwülstigen Zeilen.
Sind Sie von der SZ oder von der Sprachpo-
lizei? Ich habe mich in das Mädchen hinein-
gefühlt, sie hat von einer Welt ohne Mob-
bing geträumt. Und dann hat sie diesen
schlimmen Ausweg gewählt. Es hat mich
zu Tränen gerührt. Ich habe vom Paradies
geschrieben, in dem es kein Mobbing gibt.
Man kann sagen, das ist Kitsch. Sind Trä-
nen am Grab Kitsch?
Sie verherrlichen einen Suizid.
Quatsch. Ich sage doch nicht zu Selbstmör-
dern: Wunderbar, du wirst bei den Engeln
landen! Ich fühle in den Fingern, was ich
schreibe, ich war sehr traurig dabei.
Schämen Sie sich für Artikel, die Sie ge-
schrieben haben?
Schämen nützt nichts, geschrieben ist ge-
schrieben. Ich bin kein begeisterter Leser
meiner Kolumne. Ich weiß, dass ich an die
Grenze gehe. Ich mag dieses auf der Rasier-
klinge Schreiben.
Ist schon mal etwas gestoppt worden?
In den 18 Jahren sind vielleicht drei Kolum-
nen nicht erschienen. Welche das waren,
weiß ich nicht mehr.
Kriegen Sie Antworten auf Ihre Briefe?
Es sind Tausende, aber weniger von de-
nen, an die ich schreibe.
Wer schreibt zurück? Die Kanzlerin, die
Sie häufig betexten, oder Joachim Löw?
Die schreiben nicht. Aber wenn ich die tref-
fe, sagen sie mir was dazu. Wenn Jogi Löw
in meinem Lieblingsrestaurant Adnan isst,
ruft Adnan mich an und sagt: Jogi würde
gern ein Glas Wein mit dir trinken. Dann re-
den wir über Fußball. In meinem Herzen
bin ich nämlich Fußballreporter.
Wenn man Ihre Kolumnen liest, entgeht
einem das nicht.
Ja, ich war bei allen Weltmeisterschaften
als Reporter dabei. Das erste Mal 1974, und
dann habe ich jeden Tag eine Folge ge-
schrieben. Die leidenschaftlichsten Ge-
schichten gehen von diesem Sport aus. Da
kannst du Heldengeschichten erzählen
und Verlierergeschichten.
Und später schreiben Sie dann Sachen
wie: „Lieber Reinhard Grindel, Sie waren
wie eine Schüssel kalter Haferschleim.“
Sieht er nicht so aus? Und was der sich
geleistet hat, prahlt mit der goldenen Uhr
eines Oligarchen. Der macht den Fußball
kaputt.
Fühlen Sie sich unterschätzt?
Ich kann meine Miete bezahlen. Jeder
Mensch, der seine Miete bezahlen kann,
kann stolz auf sich sein.
Zur Stimme der Ex-SPD-Chefin Andrea
Nahles schrieben Sie, dass ein erhöhtes Ge-
sundheitsrisiko droht, „Sie haben ein Or-
gan wie eine Kreissäge“. Vorher fanden
Sie: „Frau Nahles braucht einen Mann.“
Sind Sie zu Frauen härter als zu Männern?
Ich bin ein Frauenmann. Ich bin von drei
Frauen großgezogen worden. Meiner Mut-
ter, meiner Großmutter, die dritte Frau
war eine Tante. Es war ein Haushalt ohne
Männer.
Die Verherrlichung der Mutter zieht sich


durch Ihre Kolumne. Sie monieren, dass
Karrierefrauen keine Kinder kriegen und
Hosenanzüge tragen. Gefallen Ihnen
emanzipierte Frauen nicht?
Ich glaube, eine Frau ist erst dann total per-
fekt, wenn sie eine Mutter ist. Irgendwie
gehört das zu ihrer Evolution.
Das klingt nach altem weißen Mann.
Na ja, es stimmt ja alles, ich bin alt, ich bin
weiß, ich bin ein Mann. Gehen Sie doch
mal auf die Straße und fragen die Leute,
wie die das so finden.
Ist Ihre „Post“ gedruckte Straße?
Schön wär’s, wenn ich den Sound der Stra-
ße treffe. Was die Menschen denken und
fühlen, was ihnen auf dem Herzen liegt
und wie sie die Welt verstehen und verste-
hen wollen, klar, das will ich treffen. Vor
allem muss ein Text ein Gefühl transportie-
ren.

Aber Abstiegsgeschichten laufen immer
am besten, oder?
Sie meinen den tiefen Fall vom hohen
Ross? Kein Boulevardreporter stellt einem
Prominenten ein Bein oder schiebt ihm
eine Kokainnutte unter. Der Reporter be-
schreibt nur den tiefen Fall. Der tiefe Fall
ist deshalb so emotional, weil wir alle
Angst vor dem tiefen Fall haben.
Aber wenn etwas Blödes passiert, interes-
siert es schon mehr Leser.
Was meinen Sie mit blöd? Meinen Sie mit
blöd, dass etwas Normales geschieht? Da
war die Hochzeit von Michael Schuma-
cher. Wir vonBuntehatten die Exklusiv-
rechte für Fotos erworben. Als wir die Bil-
der ansahen, waren wir alle unglücklich.
Auf der Hochzeit waren null Prominente.
Nur die Familie, Kfz-Mechaniker mit
schlecht sitzenden Anzügen, Leute vom
Niederrhein. Wir haben die schlichte Hoch-
zeit zum Titel gemacht. Am Ende war es
die höchstverkaufte Auflage, dieBunteje
hatte, über eine Million.
Geläutert hat der Schumi-Effekt Sie bei
derBuntennicht. Im Kopf bleiben Sie für
„Franzi van Speck – Als Molch holt man
kein Gold“. Eine Zeile aus Ihrer folgenden
Zeit alsB.Z.-Chefredakteur.
Also, wie jede Geschichte hat auch diese
Geschichte eine Vorgeschichte.

Erzählen Sie mal.
Hier um die Ecke in Charlottenburg gab es
mein Lieblingslokal, das „La Cantina“. Es
war wenige Wochen vor den Olympischen
Spielen in Sydney. Plötzlich kam die Alm-
sick herein mit ein paar Werbemädchen,
die hatten grad einen Werbefilm gedreht.
Zum Schluss gab es Dolce in riesigen Schüs-
seln, Tiramisu, Crema Catalana, so etwas.
Die Werbemädchen nippten mit einem Löf-
fel und ließen das stehen. Dann löffelte
sich Franzi das ganze Zeug rein. Da habe
ich hinübergerufen: „Du willst doch noch
Gold schwimmen. Hör auf zu fressen.“
Oder so ähnlich.
Nicht sehr nett. Sie mussten wegen der
Molch-Zeile bei derB.Z.gehen, oder?
Quatsch. Ich hatte mich verkracht mit dem
Verlagsleiter, mit der Redaktion und auch
mit Berlin. Die Stadt, von der ich träumte,
war noch nicht da. Aber es gab meine Insel
des Glücks, die „Paris Bar“. Zu Fuß brauche
ich nüchtern zehn Minuten dahin, betrun-
ken 20 Minuten zurück.
Gehört der Rausch zum Erfolg dazu?
Ein Rausch ist ein bisschen wie Urlaub.
Kann man betrunken schreiben?
Du kannst natürlich betrunken schreiben


  • wenn du ein Buch schreibst. Am nächs-
    ten Morgen schmeißt du 95 Prozent weg.
    Auf den Flow zu warten, darauf, dass zwei
    Flaschen Rotwein beim Denken helfen,
    das ist Quatsch. Ich schreibe in der Regel
    nüchtern. Früher gehörte zu einer guten
    Reportage eine Flasche Whiskey dazu.


Aber da gab es auch noch einen Gunter
Sachs, der aus einem Hubschrauber über
dem Anwesen von Brigitte Bardot Rosen
abwarf.
Lange her.
Die reichen Jungs mit ihren Yachten und
Wohnungen in New York waren für uns,
die jeden Tag aufstanden, um zu arbeiten,
wie Götter. Die Kennedys waren Götter.
Sind sie glücklicher als wir? Oder kriegen
sie auch Krebs? Welche Tränen weinen sie,
wenn sie sich scheiden lassen? Unsere bun-
ten Blätter verdienten Millionen damit.
Als Chef eines Boulevardblatts entschei-
den Sie, ob Sie die Leute durchs Schlüssel-
loch gucken lassen wollen. Sie haben un-
vorteilhafte Bilder von Marlene Dietrich
gekauft und ihr zurückgegeben. Heute wä-
re das sicher anders. Wenn Sie sie nicht
drucken, stellt sie ein anderer ins Netz.
Das kann man heute noch genauso ma-
chen. Ich wollte unbedingt Bilder von ihr.
Es interessierte mich, wie eine Dietrich
altert. Es gab keine Fotos von Greta Garbo,
der schönsten Frau der Welt, im Alter. Eine
Frau zu sehen, wie sie mit dem Schicksal
Alter umgeht, war mein Motiv, Fotografen
loszuschicken. Die Dietrich lebte damals
sehr zurückgezogen in Paris. Ein Paparaz-
zo-Fotograf sprach ihren Fußpfleger an,
ob er sich mit Fotos etwas dazuverdienen
will. Dieser Fußpfleger fotografierte Marle-
ne Dietrich.
Aha.
Als mir die Fotos gezeigt wurden, sah ich
eine hilflose Frau, die in Panik ein Hand-
tuch über sich wirft. Und dann hat der Fuß-
pfleger noch 30 Tagebücher geklaut. Auch
die hat er uns angeboten.
Für wie viel zusammen?
150 000 Mark, keine Ahnung. Wir haben
alles gekauft – und dann haben wir die Leu-
te angezeigt.
Sie wollten private Bilder von Marlene
Dietrich. Und dass Sie im Boulevard mit
Paparazzi arbeiten, die nicht höflich fra-
gen, ob sie fotografieren dürfen, war doch
klar.
Vielleicht bin ich ein moralisierender Im-
moralist. Ja, ich wollte die Bilder, aber ich
wollte sie nicht so. Ich habe die Bilder ge-
kauft, weil niemand Marlene Dietrich in
diesem Zustand sehen sollte. Ich habe Ma-
ria Riva in New York angerufen. Sie ist die
Tochter von Marlene Dietrich. Und ihren
Sohn Peter. Die beiden kamen, haben die
Sachen nach Paris gebracht und sie im Bei-
sein von Marlene Dietrich in einer Schale
verbrannt.

Und dann?
Kamen Briefe von Marlene Dietrich.(Holt
einen Brief)
„Sie sind wohl der einzige Mann auf der
Welt, der erstklassige Prinzipien und Sit-
ten hat“, schreibt sie. Dass es ursprüng-
lich Ihre Idee war, sie zu fotografieren,
haben Sie ihr vorsorglich verschwiegen?
Ja, es ist alles gut ausgegangen. Ihr
Wunsch, im Alter nicht gesehen zu wer-
den, ist von mir erfüllt worden. Deshalb
schrieb sie mir diesen Brief. Wir telefonier-
ten auch öfter miteinander. Ich habe sicher
20, 30 Gespräche mit Marlene Dietrich ge-
führt. Sie war eine mutterseelenalleine
Frau. Und sie war eine Klatschtante. Sie
wollte wissen: Was machen die Stars? Was
habt ihr auf dem nächsten Titel? Marlene
Dietrich lebte damals 24 Stunden vor dem
Fernseher im Rollstuhl.
Zur Glanzzeit des Boulevards waren Sie
weltweit unterwegs. Wo hängt Ihr Herz?
Letztlich hier in Berlin. Weder in München,
Paris, Saigon, Tel Aviv noch in Franken. In
Franken war ich viel zu klein. Dahin kam
ich nach der Flucht mit meiner Mutter aus
dem Nazi-Sudetenland. Dann kam ich ins
Internat der Regensburger Domspatzen.
War es in den Fünfzigern bei den Domspat-
zen so schrecklich wie beschrieben?
Ob es schrecklich war? Sie haben keine
Ahnung, was schrecklich ist. Ich wurde
geschlagen, aber das war damals normal.
Ich hatte das Glück, dass ich nicht sexuell
missbraucht wurde.

Aber Sie wussten von anderen?
Ich habe gemerkt, dass manche Jungs Lieb-
linge des Präfekten waren. Sie durften frü-
her nach Hause, schrieben bessere Noten.
Wir waren ja alle einsame Kinder. Ich ver-
steckte mich oft in Schränken. Einmal ka-
men wir mit dreckigen Fußballschuhen in
die Aula, und der Präfekt gab jedem mit sei-
nem Finger einen Schlag auf den Hintern.
Ich habe ihn dann mit meinem Fußballstie-
fel getreten, und er brach sich den Zeigefin-
ger. Nichtbeachtung war die Folge, was
mein Glück war.
Sie wollten Priester werden.
Bevor ich zu den Domspatzen kam. Die Kir-
che war der Höhepunkt meiner Kindheits-
woche. Ich gehe heute noch in diesem gott-
losen Berlin in die katholische Kirche, eine
ist hier um die Ecke, in Charlottenburg. Da
bin ich dann zehn Minuten, wie auf einen
Espresso.
Beichten Sie?
Nee, das mache ich in meiner „Post“.
In Ihren Erinnerungen „Briefe an Deutsch-
land“ beschreiben Sie Ihre Flucht aus dem
Sudetenland. Wie sehr prägt das einen
Menschen?
Ich empfand es nicht als schlimm, ich war
auch noch klein. Aber am Leben meiner El-
tern habe ich gemerkt, was es bedeutet, die
Heimat zu verlieren. Es gab keinen Famili-
enabend, keine Feier, bei der nicht weh-
mutsvoll über die grünen Wiesen und die
gelben Kornfelder der Heimat geredet wur-
de. Es ging mir furchtbar auf die Nerven.
Fasziniert Sie der Boulevard auch so, weil
Sie eine Zeit lang sehr arm waren?

Eines zieht sich wohl wie ein roter Faden
durch mein Leben: dass ich nicht arm sein
wollte. Nie. Nicht mehr sparen. Meine
Eltern haben ein Reihenhaus gebaut, und
ich weiß noch, wie meine Mutter Backstei-
ne gestohlen hat von anderen Baustellen.
In der Handtasche. Bis heute esse ich lang-
sam, weil ich Hunger erlebt habe.
Fahren Sie auch darum einen Porsche? Ist
er ein Statussymbol für Sie?
Vor allem ist er ein technisches Wunder,
ein Kunstwerk. Es ist perfekt.
Und Sie haben ihn tieferlegen lassen.
Weil es schöner aussieht. Ein Porsche darf
keine Storchenbeine haben, sondern muss
bei den Reifen verbreitert werden. Du sitzt
in so einem Porsche näher an der Straße,
spürst jede Unebenheit am Hintern.
Ist das auch Ihre Maxime: Die Unebenhei-
ten des Lebens besser zu spüren?
Nein, das ist mir zu dichterisch.
Haben Sie eine Schmerzgrenze? Gibt es
etwas, bei dem Sie sagen, das geht gar
nicht?
Ich versuche, den wichtigsten Paragrafen
unserer Verfassung nicht zu verletzen: Die
Würde des Menschen ist unantastbar.
Und wie war das damals bei Tom Cruise?
Ein Kollege hatte ihn interviewt zu irgend-
einem Film, und dann sagt Cruise bei der
Frage nach Kindern, er sei froh über Adop-
tionen, weil ein Mann und eine Frau, die
keine Kinder kriegen können, sich so den
Kinderwunsch erfüllen können.
Die Zeile war „Lenden leer, Kasse voll“.
Ja, das habe ich halt überspitzt daraus gezo-
gen. Es vergeht eine Woche, plötzlich rat-
tert der Fernschreiber los und hört nicht
mehr auf. Los Angeles, sieben Rechtsan-
wälte. Ich denke erst, da macht jemand
einen Witz. Aber da verklagt Tom Cruise
dieBunteauf 80 Millionen Dollar.
Sie haben das ja auch erfunden.
Nein, ein Mitarbeiter hat es erfunden. Ein
Lügner wie beimSpiegel. Wollen Sie den
Chefredakteur desSpiegelsals Lügner be-
zeichnen, weil sein Mitarbeiter lügt? Und
dann passierte das Schrecklichste. Im Ne-
bel krachte das Verlagsflugzeug von Burda
gegen einen Berg. Die vier Insassen star-
ben. Einen Tag später bekam ich ein Fax
von Tom Cruise, von Hand verfasst aus
einem Hotel in Cannes: „Lieber Herr Wag-
ner, ich habe vom Verlust Ihrer Manager
gehört, ich bin Pilot, ich ziehe meine Klage
zurück.“
Schämt man sich da?
Furchtbar. Die Lüge des Redakteurs der
Buntenhatte nichts mit den Toten zu tun.
Ein Jahr später war ich bei der Oscar-Verlei-
hung in Los Angeles. Ich wohnte im Bever-
ly Hills Hotel. Ich wartete auf ein Taxi. Aus
der Hotellobby kam Tom Cruise mit seiner
Frau Nicole Kidman. Sie hatten ihre Kinder
am Arm. Sollte ich Tom Cruise anspre-
chen? Ich traute es mich nicht. So sehr
schämte ich mich.
Sie sind in dieser Woche 76 Jahre alt ge-
worden. Vor ein paar Tagen wurde Ihnen
ein neuer Vertrag für ein weiteres Jahr bei
Bildüberreicht. Werden Sie weiterschrei-
ben, solange man Sie dort lässt?
Ich persönlich bin bereit zu schreiben wie
ein Tiger. Aber natürlich kann es immer
sein, dass der Vertrag nicht mehr verlän-
gert wird.
Befürchten Sie das ernsthaft?
Das kann immer sein. Ich war mein Leben
lang ein Liftboy. Mal fährst du nach oben,
mal fährst du nach unten.

FRANZ JOSEF WAGNER


ÜBER


MORAL


Franz Josef Wagner, geboren am 7. Au-
gust1943 in Olmütz, wächst nach der
Flucht aus dem Sudetenland in Franken
auf. Nach einem Volontariat fängt der
Lehrersohn 1966 bei Springer an. Als
Bild-Reporter ist er im Jom-Kippur-
Krieg und in Vietnam. Er schreibt vier
Romane und ist Ghostwriter für Franz
Beckenbauer und Boris Becker. 1988
wird er Chefredakteur derBunten. Zehn
Jahre später kehrt er als Chef der Boule-
vardzeitungB.Z.zu Springer zurück.
2001 erfindet der Verlag für ihn den Pos-
ten des „Chefkolumnisten“ beiBild. Als
solcher verfasst er seither die „Post von
Wagner“, in der er sich im Briefstil aus
aktuellem Anlass an Politiker, den deut-
schen Wald oder den Notruf 112 richtet.
Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

„Ich bin kein
begeisterter Leser
meiner Kolumne.“

„Ich war mein Leben lang ein
Liftboy. Mal fährst du nach oben,
mal fährst du nach unten.“

FOTO: REGINA SCHMEKEN

Kann man betrunken
schreiben? „Ich schreibe
in der Regel nüchtern.“

56 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag,10./11. August 2019, Nr. 184 DEFGH


Vogelgezwitscher weht in den Altbau in


Berlin-Charlottenburg. Franz Josef Wagner


sitzt rauchend am Tisch, an der Wand


eine Partyszene, die an die wilden Zeiten des


Boulevards erinnert. Als das Gespräch vorbei ist,


sagt der „Bild“-Kolumnist: „Es waren acht


Zigaretten, falls Sie das notieren wollen.“


Zur Person

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