Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
In Schwarzenbach an der Saale gibt es ein
Museum, das ausschließlich
Comics gewidmet ist  Kultur, Seite R18

Ein großes Stück München: Was die
olympischen Sportstätten der Stadt alles gebracht
haben  Thema des Tages, Seiten R2 und R3 In Ettal erleben 200 junge Menschen mit Behinderung
eineWoche lang Dinge, die ihnen im Alltag sonst
unmöglich sind  Bayern, Seite R15

25 °/16°


von rudolf neumaier

D


ie Jugend der Wasserwacht Pe-
rach ist durch einen Baumwipfel-
pfad gekraxelt. Außerdem er-
klomm sie in Unterammergau den Pür-
schling. Auch die Wasserwachtler von Rei-
schach waren rege: Sie nahmen im Fa-
sching beim örtlichen Gaudiwurm teil –
als Fußgruppe, wie es heißt. Die 22. Aus-
gabe des MagazinsDer Pfützensani, des
Organs der Kreiswasserwacht Altötting,
bildet wieder mal das pralle Wasserwacht-
ler-Leben auf dem Lande ab. Als Histori-
ker stellt man sich oft vor, was man in
drei-, vierhundert Jahren alles damit an-
fangen könnte, fiele einem solches
Schrifttum aus unserer Zeit in die Hand.
Der Pfützensaniwürde anno 2419 locker
eine Bachelor-Arbeit hergeben, Arbeitsti-
tel: „Zwischen Baumwipfel und Maskera-
de – bayerische Wasserwachten zu Be-
ginn des Klimawandels“. So könnten der
Respekt vor unseren Wasserrettern und
der Begriff Gaudiwurm überdauern.
Publikationen wieDer Pfützensaniha-
ben nun erst mal ein paar Monate auf ei-
nem Stapel im Homeoffice überdauert.
Der ist so hoch geworden, dass er bei ei-
nem Einsturz leicht ein Kind begraben
hätte. Eine Katze hätte der Turm glatt er-
schlagen, was bizarr gewesen wäre, weil
er auch Periodika des Tierschutzvereins
enthielt. Beim Aufräumen stand direkt
vorm Bürofenster die blaue Altpapierton-
ne. Jedes Heft, das hineinflog in diesen
Zeitschriftensarg, war eine Historikerträ-
ne wert. Auf CD liefen Orlando di Lassos
Bußpsalmen. Fahrt dahin, ihr wunderba-
ren Schriftquellen unserer Zeit!
Nun kam aber auch ein Magazin der
Bayerischen Staatsbibliothek zum Vor-
schein, das bei seinem Flug aus dem Fens-
ter eine Idee weckte. Haben sie bei der Sta-
bi nicht eine Sammelstelle? Da gibt es
doch dieses Pflichtstückegesetz, das vor-
schreibt, dass Exemplare „von allen mit-
tels eines Vervielfältigungsverfahrens
hergestellten und zur Verbreitung be-
stimmten Texten“ bei der Stabi abgelie-
fert werden müssen! Wenn die Stabi eine
gescheite Universalbibliothek ist und ein
„Schatzhaus des kulturellen Erbes“, wie
sie von sich sagt, dann wird sie als „For-
schungsstelle von Weltrang“ neben den
Prachtcodices von Lassos Bußpsalmen,
Psaltern und Evangeliaren doch auch die
Schätze aus dem Homeoffice-Papier-
turm hüten. Das war’s. Eine Win-win-Lö-
sung. Das Paket kostete sieben Euro.
Es enthielt unter anderem Feuerwehr-
Festschriften sowie einige Exemplare
des sagenhaften StadionheftesDa Brun-
nenmillerder 1860-Fans. Dieses Drucker-
zeugnis wäre dereinst gerade für lokale
Kulturhistoriker von größter Bedeutung,
wenn sie das Phänomen „Einmal Löwe,
immer Löwe – unheilbarer Massenmaso-
chismus“ erforschen. Allein die Freude in
der Pflichtstelle der Staatsbibliothek
hielt sich in Grenzen. Sie schickte die
meisten Hefte ohne Dank zurück. Offen-
sichtlich gelten Texte in Stadion- und
Wasserwachtzeitungen bei der Stabi
nicht als „vervielfältigte Texte“. Man
sammle solche Hefte nicht, stand im übel-
launig verfassten Begleitbrief. Jetzt ist
die Frage: Darf sich eine Bibliothek uni-
versal nennen, wenn sie denPfützensani
verschmäht? Und was versteht sie von
Kultur, wenn sie ignoriert, dassDa Brun-
nenmillermal mindestens so bedeutend
werden kann wie Lassos Bußpsalmen?


Schöne Abwechslung


Ihr Lokalteil auf Tablet und Smart-
phone:sz.de/zeitungsapp

Alle paar Monate räumt
Rudolf Neumaier sein Büro
auf – schon allein wegen
des Tierschutzes.

von laura kaufmann

S


onja schläft nicht. Ihre Truppe
hat sich schon in die Kojen zurück-
gezogen, aber sie hat etwas Unge-
wöhnliches beobachtet. Jetzt
steht sie vor der Panzerglasschei-
be und blickt die Besucher skeptisch an. Au-
ge in Auge mit einem Gorillaweibchen.
Massige Schultern und durchdringender
Blick. Vielleicht fragt sie sich, was die Besu-
cher hier noch wollen. Jetzt ist ihre Zeit.

Nachts gehört der Zoo den Tieren. Um
18 Uhr schließen Hellabrunns Tore. Der
Nachtwächter, der seine erste Runde
dreht, bittet die letzten Besucher hinaus. Ei-
ne letzte Fütterung. Sonja und die anderen
Menschenaffen bekommen hauptsächlich
Gemüse zu essen, vielleicht noch ein Le-
ckerli zum Abschluss des Tages. Mit Medi-
kamenten, falls das Tier sie braucht; die
ein oder andere Schimpansendame nimmt
die Pille. Eine Tierpflegerfamilie mit Klein-
kind picknickt an warmen Nächten wie die-
ser gerne noch draußen, bei den Giraffen
zum Beispiel. Ein paar Mitarbeiter des
Zoos wohnen in Betriebswohnungen auf
dem Gelände. „Wenn geschlossen ist,
kehrt Ruhe ein, wir stören die Tiere dann
nicht weiter“, sagt Robert Müller, Chef der
Tierpflege. „Da fährt keine Kehrmaschine
durch oder so.“ Hochbetrieb herrscht zwi-
schen 5 und 9 Uhr morgens, vor dem Ein-
lass. Da werden die Tiere gefüttert, da wird
geputzt. Aber abends haben auch die Tiere
Feierabend von ihrem Job als Botschafter
ihrer Art.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Wenn ei-
ne große Geburt ansteht, zum Beispiel,
sind Tierpfleger und -ärzte vor Ort. Oder
wenn Alarm ausgelöst wird, weil das Aqua-
system in einem Aquarium droht, aus dem
Gleichgewicht zu geraten, etwa wenn nach
einem Stromausfall eine Pumpe nicht an-
springt. Dann wird ein Aquaristiker aus
dem Schlaf gerissen und muss innerhalb ei-
ner halben Stunde da sein, denn die Koral-
len sind so hochsensibel, dass sie selbst bei

kleinen Temperaturschwankungen abster-
ben können.
Sonja sieht sich immer noch die späten
Besucher hinter der Scheibe an. Sie ist von
Tierpflegern aufgezogen worden und nicht
menschenscheu. Nach Einbruch der Däm-
merung scheinen sich die Machtverhältnis-
se umzukehren. Der Affe beobachtet den
Menschen. Die Orang-Utans hingegen sind
schon eingenickt. Einer von ihnen in der
Hängematte. Menschenaffen schlafen
nachts, wenn auch nicht so lange und tief
wie ihre Verwandten auf der anderen Seite
der Scheibe. Einem Menschen würde es
auch nicht gelingen, auf einer hohen Astga-
bel abgelegt einzuschlafen, wie es der Sia-
mang, eine Gibbon-Art, draußen im Gehe-
ge gerade versucht. Nurmehr seine Silhou-
ette ist erkennbar, blaue Stunde, der Mond
ist aufgegangen und taucht den menschen-
leeren Tierpark in silbriges Licht. Der Gib-
bon gähnt.
Gajendra taucht vor dem Elefantenhaus
seinen Rüssel ins Wasser. Seine Stoßzähne
schimmern hell. Asiatische Elefanten lie-
ben das Wasser, deswegen haben sie ein tie-
fes Becken zur Verfügung, „das sind vier
Tonnen schwere Tiere, und sie genießen
die Schwerelosigkeit genauso wie wir Men-
schen“, sagt Chef-Tierpfleger Müller. Was
sie nicht genauso genießen wie Menschen,
ist stundenlanges Liegen. Eine, eineinhalb
Stunden, länger bleibt ein Elefant in der Re-
gel nicht auf dem Boden, das machen ihre
Organe nicht mit, dafür sind sie zu schwer.
Sie dösen oft im Stehen. Einen richtigen
Tag-Nacht-Rhythmus haben sie ohnehin
nicht. Drinnen schmeißt sich Elefanten-
kuh Panang Dreck über den Rücken. Man-
gala, die Gajendra anhimmelt, hat wie so
oft einen Ast im Mundwinkel stecken, ei-
nen selbst gebastelten Stoßzahn. Gajendra
schaut kurz vorbei, um dann wieder nach
draußen in die Nacht zu entschwinden.
Wenn sich nicht gerade ein Gewitter an-
gekündigt hat, können die Tiere ein- und
ausgehen wie sie wollen, um zum Beispiel
die Nachtkühle auszunutzen, statt im sti-
ckigen Gebäude zu schlafen. „So gewinnen
sie deutlich an Lebensqualität. Früher, als
ich gelernt habe, war das noch anders“,
sagt Tierpfleger Müller, der seit 40 Jahren
auf dem Gelände lebt. „Wenn die Tiere
über Nacht eingesperrt sind, lassen sie sich
besser kontrollieren, etwa, ob sie gefressen
haben.“
Der Himmel über Hellabrunn hat sich
tintenblau verfärbt. Das dumpfe Brüllen ei-
nes Löwen hallt durch die Nacht. Frösche
quaken, Grillen zirpen. 740 verschiedene
Tierarten werden im Zoo gehalten, aber

nicht nur die Tiere, wegen denen die Besu-
cher kommen, die Elefanten, die Löwen,
die Eisbären, leben hier. Auf dem 40 Hekt-
ar großen Gelände bei der Isar mit seinen
verschlungenen Wegen, dem alten Baum-
bestand und den Teichen haben sich unzäh-
lige heimische Tiere angesiedelt. Immer
wieder kommt es auch vor, dass ein Fuchs
ein Zootier reißt.
Über viele Jahre ist ein eigener Lebens-
raum gewachsen, der nachts, wenn der
Mensch sich zurückgezogen hat, erst rich-
tig erwacht. Einer, in dem es nach Isarauen

riecht und nach Steppe klingt. Einer, in
dem Zebras das Brüllen der Löwen hören
können, aber nicht mehr davor erschre-
cken – anders übrigens als vor den Böllern
bei Grillpartys. Einer, in dem der Zaun der
Humboldt-Pinguine nachts unter Strom
steht, damit kein Fuchs ein Massaker im
Gehege veranstaltet. In dem ein nachtakti-
ver Roter Panda in der Baumkrone sitzt
und sich putzt, während in einem Baum un-
weit davon ein Pfau schläft. Isarauen, Step-
pe, Dschungel, ewiges Eis verschwimmen
in der Dunkelheit zu einem Ganzen.

Yaks und Zebras drehen ihre Ohren,
wenn sie ein Geräusch wahrnehmen, und
verharren aufmerksam. Die Saruskraniche
haben sich zum Schlafen ins Wasser ge-
stellt, so könnten sie Angreifer sofort hö-
ren. Zwei Robben schäkern leise miteinan-
der, eine kratzt sich am Kinn.
Alles ist gedämpfter in der Nacht. Und
während sich die beiden Löwenbrüder nun
aneinandergeschmiegt auf einen Felsen
schlafen gelegt haben, bleiben andere Tie-
re immer in einer gewissen Habachtstel-
lung. Aber Raubtiere wie Fluchttiere ge-
wöhnen sich an das sichere Leben im Zoo,
an die Vollpension und den Schutz des Ge-
heges, und werden geruhsamer und ent-
spannter als ihre Artgenossen in der freien
Wildbahn.

Seit die ganze Nacht eine Wache im Zoo
patrouilliert und an sensiblen Punkten Ka-
meras installiert wurden, sind auch Einbrü-
che selten geworden. Als Mutprobe sind Be-
trunkene früher manchmal eingestiegen,
einmal zertrümmerte jemand die Tiefkühl-
truhe am Kiosk, Stühle wurden in Teiche
geschmissen. Das ist nicht nur für Tiere ge-
fährlich, sondern, wenn sie an die falschen
Tiere geraten, auch für die Einbrecher.
Im Nashornhaus frisst Niko, das Nas-
horn, schmatzend vor sich hin. Sein Mitbe-
wohner, das Faultier, hängt an einem Ast,
dreht träge den Kopf und blinzelt mit sei-
nen Knopfaugen. 20 Stunden pro Tag
schläft es in etwa, wann genau, da ist es
nicht wählerisch. Abgesehen von Nikos
Schmatzen ist alles still. Anders im Dschun-
gelhaus: Pfeiffrösche erfüllen es mit ihren
Lauten, winzig kleine, beinahe durchschei-
nende Tiere, deren Bäuche und Wangen
sich abwechselnd aufpusten. Kakerlaken
huschen über den Boden, und der Flug-
hund, der eben noch wie ein Kokon im
Baum hing, spannt seine Flügel und gleitet
durch die tropisch-feuchtwarme Luft. Ein
paar Schritte entfernt vom Dschungelhaus
sind die Frösche noch gedämpft zu hören,
ihr Klangteppich mischt sich mit dem Bel-
len eines Mähnenwolfs, den Rufen des sibi-
rischen Uhus und emsigem Grillenzirpen.
Gegenüber, vor dem Elefantenhaus, taucht
Gajendra wieder seinen Rüssel ins Wasser.
Vielleicht wacht er darüber, dass die
menschlichen Besucher Hellabrunn auch
wirklich verlassen. Und die Nacht wieder
den Tieren gehört.

FOTO: STEPHAN RUMPF

Der Tag startet mit einigen Regengüssen.
Späterlockern die Wolkenfelder auf und
die Sonne zeigt sich öfter.  Seite R14

Schöner Schwung



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NACHTS

NULL ACHT NEUN

Die Stabi und


derPfützensani


Endlich


allein


Nachtsgehört der Zoo


den Tieren. Wenn die letzten


Besucher Hellabrunn verlassen,


ist in den Gehegen Zeit


für Wellness und Romantik.


Manchmal aber bricht auch


der Jagdtrieb durch


FOTO: EHAPA

NACHTGESCHICHTEN


Bitte nicht stören: Im roten Schimmer einer
Speziallampe,deren Licht die meisten Tiere nicht
wahrnehmen können, schauen ein Kronenkranich,
ein Flughund, Zebras und ein Pfeiffrosch
in Hellabrunn in die Kamera.FOTOS: SVEN HOPPE/DPA

Ein Einbruch im Tierpark
kann für Einbrecher
schnell gefährlich werden

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Schön bunt


NR.184, SAMSTAG/SONNTAG, 10./11. AUGUST 2019 PGS


Verschlafenes München?
Von wegen: Im Dunklen
wird es vielerorts
erst so richtig spannend
SZ-Serie · Folge 7

DAS WETTER


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