Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
von dominik hutter

D


ie Schüssel wirkt immer noch
futuristisch: Die mit Sitzen in
verschiedenen Grüntönen auf-
steigende Haupttribüne. Dar-
über das kühn geschwungene
Zeltdach mit seinen Plexiglaselementen,
die schrägen Pylone, an denen die ganze
Konstruktion aufgehängt ist. Nur der grün-
braun gesprenkelte „Rasen“ und die ausge-
blichenen Laufbahnen zeigen, dass das Sta-
dion aus sportlicher Perspektive schon bes-
sere Tage gesehen hat.
Hier wurde Bayern München im Juni
1972 deutscher Meister – noch vor jenem
denkwürdigen Augusttag, an dem mehr
als 7000Sportler der internationalen Olym-
piamannschaften in das Oval einzogen.
Darunter auch die Mannschaft des Staates
Israel. Die Schale, in der das olympische
Feuer entzündet wurde, ist noch zu sehen.
Nur wenige Tage später war dies auch der
Schauplatz der Gedenkstunde an das Atten-
tat, bei dem elf israelische Athleten und ein
deutscher Polizist zu Tode kamen. Und spä-
ter die Schlussfeier. Zwei Jahre später,
1974, wurde Deutschland im Olympiastadi-
on Fußball-Weltmeister.
Inzwischen ist es ruhiger geworden in
der Arena, in der seit 2005 keine Fußball-
spiele mehr stattfinden. Sehr viel ruhiger.
Gelegentlich ein Open-Air-Konzert, eine
Veranstaltung, ansonsten verströmen die
leeren Ränge eine eigentümliche Atmo-
sphäre. Es finden Touren über das Zelt-
dach statt und Führungen durch das seit
seiner Eröffnung meistgenutzte deutsche
Stadion. Ein Mann mit gelbem Helm seilt
sich von oben ab. Abenteuerspielplatz
Olympiastadion.


Von hier sind es nur wenige Hundert Me-
ter bis zum Willi-Daume-Platz, an dem ein
Schild die heutigen Besucher des Olympia-
parks willkommen heißt. Daume war der
Mann, der einst bei Oberbürgermeister
Hans-Jochen Vogel vorstellig wurde und
als Präsident des Nationalen Olympischen
Komitees vorschlug, München möge sich
doch als Austragungsort für die Sommer-
spiele 1972 bewerben. Im Oktober 1965
war das, und dort, wo heute die weltbe-
rühmte Olympia-Architektur zu sehen ist,
befand sich damals eine weitgehend unge-
nutzte, ebene Fläche, durch die der Nym-
phenburg-Biedersteiner Kanal floss. Dar-


auf: der nur noch von Privatfliegern genutz-
te Flughafen Oberwiesenfeld, ein gut
50Meter hoher Berg aus Kriegstrümmern,
dazu eine Menge Arbeiter und Bagger:
Denn der Fernsehturm, der erst später
zum Olympiaturm wurde, und das Eisstadi-
on waren bereits im Bau.
Vogel hatte nicht viel Zeit zum Überle-
gen, zwei Monate blieben bis zum Bewer-
bungsschluss. Danach ging alles sehr
schnell. Der Oberbürgermeister sagte be-
kanntlich ja, obwohl es in München keine
geeigneten Sportanlagen und auch keine
Pläne dafür gab. Bund, Freistaat, NOK und
Stadtrat stimmten in Windeseile zu, und so
reisten Vogel und Daume im April 1966 zur
entscheidenden IOC-Sitzung nach Rom.
Und brachten die Zusage mit nach Hause.
Das, was damals noch das Oberwiesen-
feld war, der frühere Exerzierplatz der bay-
erischen Armee, Münchner Flughafen aus
der Vor-Riem-Ära, später Flugfeld der US-
Army, sollte innerhalb von sechs Jahren zu
einem vorzeigbaren Olympiagelände wer-
den. Im Sommer 1969, vor 50 Jahren also,
begannen die Bauarbeiten für die Sportan-
lagen, die mit ihrem ikonischen Zeltdach
zu einem der herausragendsten Ensem-
bles der Nachkriegszeit wurden.
Am Coubertinplatz, aktuell verdeckt
von der Konstruktion der fürs Sommerfest
aufgestellten Wildwasserbahn, prangen
noch heute die schon stark ausgeblichenen
Tafeln mit den Medaillengewinnern von


  1. Daneben ist der Grundstein zu sehen,
    mit dem Datum 14. Juli 1969. Tatsächlich
    hatte der Bau des Olympiastadions schon


ein paar Wochen früher begonnen. Mit
dem für 80 000 Zuschauer konzipierten
Stadion entstanden unter anderem auch
die Olympiahalle, die Schwimmhalle, das
Olympia-Radstadion, das Olympische
Dorf und – an anderer Adresse – die für Bas-
ketball konzipierte Rudi-Sedlmayer-Halle,
die Regattastrecke in Oberschleißheim, die
Schießanlage in Hochbrück sowie die
Olympia-Reitanlage in Riem. Hoch oben
im Norden, in Kiel-Schilksee, wurde ein
Olympiazentrum für die Segelwettbewer-
be errichtet.
Die Gesamtkonzeption der Anlagen auf
dem Oberwiesenfeld wurde dem Büro des
Architekten Günter Behnisch übertragen,
das 1967 einen Ideenwettbewerb gewon-
nen hatte. Bis heute legendär ist das be-
rühmte „Strumpfhosenmodell“, mit dem
Behnisch der Jury die damals utopisch an-
mutende Zeltdachkonstruktion demons-
trierte. Es war wirklich aus einer Damen-
strumpfhose gefertigt. Vorbild für die Kons-
truktion war das von dem Architekten Frei
Otto entworfene Zeltdach für den Deut-
schen Pavillon bei der Weltausstellung in
Montreal 1967. Otto wurde mit ins Boot ge-
holt, die Statik des 74 800 Quadratmeter
großen Olympiadachs galt als knifflig. Pes-
simisten prophezeiten dem Plexiglas-Zelt
ein unrühmliches Ende im ersten schnee-
reichen Winter.
Das Dach mit seinen geschwungenen
Flächen war ein stimmiger Bestandteil des
Olympia-Konzepts, das gleichzeitig ein An-
ti-Konzept war. Als in jenen Sommertagen
die ersten Bagger auf das Oberwiesenfeld

rollten, lag das Kriegsende erst knapp
25 Jahre zurück, entsprechend sensibili-
siert waren die damals Verantwortlichen
für alles, was an die Nazi-Vergangenheit er-
innern könnte. Und damit auch an Olympia
1936 in Berlin – München, das demokrati-
sche Deutschland, wollte ganz bewusst ein
Gegenmodell liefern. Spiele im Grünen,
sanft geschwungene Hügel, Sportanlagen
ohne Anklänge an klassizistische Monu-
mentalbauten, demokratische Offenheit.

Die Olympiastätten, selbst die Olympiahal-
le und das Olympiastadion, schmiegen
sich in die Landschaft und wirken daher
kleiner, als sie es tatsächlich sind. Welche
Ausmaße das Olympiastadion in Wahrheit
hat, kann man von Westen aus sehen, wo
die Haupttribüne mit ihren Betonstufen
hoch über die Werner-von-Linde-Halle,
die frühere Auswärmhalle, aufragt. Ein

Spaziergang oben auf der Brüstung ähnelt
zumindest auf einer Seite einer Gratwande-
rung – gute Aussicht inklusive.
An einem der Pylone im Olympiastadi-
on ist bis heute eine aufgemalte „Bandero-
le“ mit den Olympiafarben zu sehen. Grün,
gelb, orange, blau – alles, nur nicht das
knallige Rot, kombiniert mit weiß und
schwarz, das für Berlin 1936 stand. In Mün-
chen sollte alles anders sein, und nichts
charakterisiert diesen Gedanken besser als
ein Vergleich der leicht, geradezu schwe-
bend wirkenden Architektur des Münch-
ner Olympiageländes mit der säulenbe-
wehrten Stadion-Trutzburg von Werner
March im Berliner Westen.
Das Münchner Olympia-Farbkonzept
und die von dem Grafiker Otl Aicher ent-
worfenen Piktogramme sind wegen ihres
innovativen Stils berühmt geworden und
gelten als wegweisend. Schon fast verges-
sen ist der knallbunte Olympia-Waldi, der
als Gummifigur mit drehbaren Dackeloh-
ren zum Inventar zahlreicher Haushalte ge-
hörte. Das Olympiagelände zählt zu den we-
nigen olympischen Stätten, die bis heute in-
tensiv genutzt werden – auch wenn der
Sport seit dem Auszug des Fußballs ein we-
nig ins Hintertreffen geraten ist.
So glanzvoll das Ensemble unter dem
Zeltdach bis heute wirkt: Komplett erhal-
ten sind die Wettkampfstätten von 1972 kei-
neswegs. Das teilweise aus Holz gefertigte
Radstadion etwa, in dem in den Siebziger-
und Achtzigerjahren Tennis gespielt wur-
de und das später für kurze Zeit Heimstatt
der Sport-Erlebniswelt „Olympic Spirit“
war, ist seit 2015 Geschichte. An der Stelle,
die eigentlich eine Randlage im Olympia-
park darstellt, soll eine neue Eis- und Bas-
ketballhalle entstehen. Was den Abbruch ei-
ner weiteren Halle realistisch erscheinen
lässt: des alten Olympia-Eisstadions näm-
lich. Und auch die Zukunft der im Ufo-Stil
gestalteten Rudi-Sedlmayer-Halle, die heu-
te Audi Dome heißt, ist damit ungewiss.
Die Haupttribüne des Olympia-Reitstadi-
ons gibt es schon seit Längerem nicht
mehr, gleiches gilt für die Veranstaltungs-
stätten auf dem alten Messegelände an der
Theresienhöhe, in denen Gewichtheben,
Judo, Ringen und Fechten stattfanden.
Aktuell stehen auf dem Coubertinplatz,
der zentralen Fläche des Olympiaparks,
ein Riesenrad, diverse Fahrgeschäfte und
Imbissbuden. Auf dem See, der vor rund
50Jahren durchs Aufstauen des Nymphen-
burg-Biedersteiner-Kanals entstand, kann
man sich beim „Waterball“ oder im Tret-
boot in Schwanenform austoben. Freizeit-
spaß, wo einst die Sportler um Medaillen
kämpften. Die olympischen Anlagen sind
in jüngerer Zeit durch Neubauten ergänzt
worden, die sich ebenfalls bescheiden zwi-
schen die künstlichen Hügel des Parks
„drücken“: das Aquarium „Sea Life“ und
die Kleine Olympiahalle.
Eine zweite Karriere als Olympiastadion
blieb dem Olympiastadion bisher verwehrt


  • aus Winterspielen 2018 oder 2022 wurde
    nichts. Für 2022 wird nun ein Ersatz-Event
    angestrebt: die European Championships,
    für die sich München beworben hat.


hatte München im Jahr 1965
zurVerfügung, um ein
konkurrenzfähiges Konzept für
Olympische Spiele zu entwickeln
und die politische Zustimmung
aller Ebenen einzuholen.
Am Anfang dieser Frist stand
das erste Gespräch zwischen
NOK-Präsident Willi Daume und
Oberbürgermeister
Hans-Jochen Vogel, am Ende
der Bewerbungsschluss.
Drei Jahre nach dem Zuschlag
fuhren auf dem Oberwiesenfeld
die Bagger auf.

In München sollte alles
anders sein als bei den
Spielen 1936 in Berlin

65


Tage


Die Zeltdachkonstruktion
demonstrierte Behnisch mit
einem „Strumpfhosenmodell“

Wo sich ein Flughafen
(Bild von 1931) und eine
weite Ebene befanden,
begann 1969 der Bau der
Olympiaanlagen. Das
Zeltdach wird von einem
Stahlnetz stabilisiert.
FOTOS: SZ-PHOTO

Die kühne Form des Zeltdachs über dem Stadion prägt den Olympiapark, der nach dem Willen der Stadt zum Weltkulturerbe werden soll. FOTO: IMAGO


Der perfekte Schwung


Die Sportstätten für die Olympischen Sommerspiele begeistern bis heute mit ihrer leichten,
geradezu schwebenden Architektur. Nur der große Sport ist dem Park abhandengekommen

Ein Zelt auf dem Oberwiesenfeld Vor 50 Jahren


R2 THEMA DES TAGES Samstag/Sonntag,10./11. August 2019, Nr. 184 DEFGH

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