Süddeutsche Zeitung - 10.08.2019

(avery) #1
Man könnte eine Art Schnitzeljagd veran-
stalten:Wie viele verschiedene Typen von
Treppen und Rampen gibt es im Olympi-
schen Dorf? Lange Stufen, kurze Stufen,
mehrfach gedrehte Wendeltreppen, gelb,
rot oder grau gepflastert. Oder die Brun-
nen. Die Spielplätze, auf denen Kinder
durch Rohre kriechen oder kleine Ziegel-
bauten besteigen können. Die unter-
schiedlichen Zuschnitte der oftmals zwei-
oder dreistöckigen Wohnungen und Rei-
henhäuser – etwa 70 Grundrisse gibt es
insgesamt. Obwohl das Ganze wie aus ei-
nem Guss wirkt. Abweisend nach außen,
mit glatten Hochhausfronten zu den gro-
ßen Straßen. Innen hingegen, in der mit
Wällen modellierten Parklandschaft, stei-
gen die Häuser mit ihren begrünten Balko-
nen terrassenförmig an. Dadurch wirkt
die Anlage nicht so mächtig, wie sie eigent-
lich ist.
Als vor 50 Jahren die Bagger auch im
nördlichen Teil des Oberwiesenfelds auf-
fuhren, entstand dort nicht nur eine Unter-
kunft für die Athleten der 20. Olympi-
schen Sommerspiele. Das „Dorf“, das heu-
te von rund 8000 Menschen bewohnt
wird, war ein städtebauliches Experiment


  • eines, das trotz seiner Dimension und
    Betonlastigkeit bis heute als geglückt gel-
    ten kann. Auch wenn es anfangs ganz an-
    ders aussah. Als die Sportler abgezogen
    waren, standen die Wohnungen mit ihren
    charakteristischen Durchreichen und
    Wendeltreppen erst einmal weitgehend
    leer. In den Zeitungen war von einer Geis-
    terstadt die Rede. Und es sah ja auch ganz
    anders aus als heute: der gleißend helle Be-
    ton, die noch recht kleinen Bäume und
    Sträucher, die unbepflanzten und daher
    sehr kahl wirkenden Balkonkästen. Und
    gähnende Leere ist ja auch kein Positivar-
    gument. Dann, so etwa 1974, 1975, sprang
    der Funke plötzlich auf die Münchner
    über. Wenige Jahre später war alles be-
    legt.
    Bei einem Spaziergang durch die fin-
    gerartig ins Grüne ragenden Wohnstra-
    ßen mit ihren verschiedenen Fußgänger-
    ebenen fallen sehr viele Details auf, die
    die Wohnutopien der Siebzigerjahre wi-
    derspiegeln. Die augenfälligsten sind das
    Prinzip „Stadt in der Stadt“, das durch La-
    denzentrum, Kirche, Schule und Kinder-
    garten symbolisiert wird, sowie das Ver-
    bannen jeglichen Autoverkehrs in ein Tief-
    garagenlabyrinth, durch das Ortskundige
    bei Regen problemlos und trocken die
    U-Bahn oder eben den Supermarkt errei-
    chen können. Wer im Olympiadorf zusam-
    men mit den Nachbarn feiern will, findet
    auch außerhalb des eigenen Gartens zahl-
    reiche geeignete Freiflächen dafür. Sie
    wurden in den frühen Jahren äußerst rege
    genutzt. Ein großer Grill, Tische und Bän-
    ke. Wer vorbeikommt, setzt sich einfach
    mit dazu. Und wenn ein wildfremdes Kind
    des Weges kam, hatte es schnell ein Würst-
    chen und eine Semmel in der Hand.
    Dass das so ablief, liegt wahrscheinlich
    nicht nur am Gesellschaftsbild der Siebzi-
    gerjahre. Die ersten Bewohner des Olym-
    piadorfs waren allesamt eher jung, hatten


kleine Kinder und pflegten eine Art Pio-
nierstatus in ihren Betonburgen, in denen
vom Ein-Zimmer-Appartement bis zum
großzügigen Bungalow mit Innenhof alles
im Sortiment war. Das verbindet. Allen ge-
meinsam war auch ein gewisser Stolz auf
die nahe gelegenen Olympiaanlagen.
Wenn Pink Floyd im Olympiastadion auf-
trat, war dies kein Grund zur Beschwerde,
sondern Anlass, Stühle nach draußen zu
stellen und „Wish You Were Here“ mit ei-
nem Bier in der warmen Abendluft zu ge-
nießen.
Ganz neu waren die Wohnutopien des
Olympiadorfs nicht. Wer etwa das 1952 er-
öffnete Le-Corbusier-Hochhaus in Mar-
seille, die Cité Radieuse, besichtigt, kann
einige konzeptionelle Parallelen entde-
cken: die zweigeschossigen Wohnungen,
die verschiedenfarbigen Gänge, das klei-
ne Ladenzentrum, die Gemeinschaftsflä-
chen. Auch im Olympiadorf dienen Far-
ben als Wegweiser – in Form der soge-
nannten „Media Lines“, eines auf Stelzen
verlaufenden Rohrsystems, das die Wege
begleitet: orange für die Straßbergerstra-
ße, grün für die Nadistraße und blau für
die Connollystraße. Im zentralen Bereich
am Helene-Mayer-Ring gibt es auch gelb,
rot und weiß. Die Farben tauchen zudem
auf den Schildern mit den Hausnummern
auf. Vermutlich ist das der einzige Grund,
dass Ortsunkundige nicht grundsätzlich
in die Irre laufen: Die Anordnung der
Hausnummern ist wegen ihrer Unüber-
sichtlichkeit legendär.

Inzwischen ist die Bevölkerung ge-
mischter – auch wenn auffallend viele Um-
züge innerhalb des „Dorfes“ stattfinden
und nicht selten Ex-Bewohner wieder zu-
rückkehren. Ein überdurchschnittliches
Gemeinschaftsgefühl gibt es noch immer.
Es galt ja auch, einige Kämpfe zu überste-
hen: Erst gegen die Chemiefabrik Bärlo-
cher und die BMW-Lackieranlage, später
ging es jahrelang darum, ob Anwohner
oder Stadt die Kosten für die Sanierung
der auf einer Stelzenkonstruktion verlau-
fenden Gehwege aufbringen müssen. Seit
einigen Jahren haben sich Bewohner in
der Initiative „Oly-Welt“ zusammenge-
tan, kaufen im Ladenzentrum Geschäfte
auf und versuchen so den gewünschten
Branchen-Mix zu gewährleisten. Diese
Idee hätte wohl auch den Architekten von
1972 gefallen. dominik hutter

Das Olympiagelände macht sich schick für
die Zukunft. Die große Halle steht am En-
de einer aufwendigen Sanierung, das
Olympiastadion startet damit 2021. An
Stelle des Radstadions baut das Unterneh-
men Red Bull eine neue Eishockey- und
Basketballhalle. Aktuell werden Ideen ge-
prüft, wie anschließend das Eissportzen-
trum genutzt wird. Die Schwimmhalle
wird ebenfalls gerade saniert. Marion
Schöne, Geschäftsführerin der Olympia-
park GmbH, gibt einen Ausblick, wie das
Areal seinen Ruf als vorbildlich genutztes
olympisches Erbe erhalten will.


SZ: Den Tiefpunkt hatte das Olympiastadi-
on erreicht, als darin Autorennen stattfan-
den.
Marion Schöne: Um Gottes willen, das ma-
chen wir nicht mehr.
Viel scheint sportlich nicht zu gehen.
Wir haben dieses Jahr Rugby im Angebot
und sind stolz darauf, dass wir damit wie-
der eine olympische Rasensportart haben.
Der Traum ist, dass wir 2022 die Leichtath-
letik-Europameisterschaft im Rahmen
der European Championships veranstal-
ten dürfen. Ansonsten müssen wir uns mit
dem Prüfungsauftrag des Stadtrats aus-
einandersetzen, ob die Sechzger wieder
ins Stadion kommen.
Ist die Rückkehr des Fußballs realistisch?
Der Denkmalschutz wird wahrscheinlich
sagen, dass es die Optik zu extrem verän-
dern würde, wenn man das Spielfeld wie
geplant über die Laufbahn zur Haupttribü-
ne heranzieht. Wenn das möglich ist und
es sich wirtschaftlich für uns gut darstel-
len lässt, würden wir mit Stadt und Verein
Gespräche aufnehmen.


Ansonsten bleiben die Konzerte.
Es zeigt sich immer wieder, dass das Olym-
piastadion einzigartig ist. Bon Jovi hat
gleich gefragt, wann er das nächste Mal
wieder auftreten kann. So war es auch letz-
tes Jahr bei Ed Sheeran, weil es etwas ande-
res ist, in diesem Stadion mit Blick auf den
Berg zu spielen, wo Zigtausende sitzen
und sich das Konzert anhören, als in einer
geschlossenen Schüssel. Alles andere in
der Größenordnung ist schwierig.
Die Olympiahalle ist gerade geschlossen,
aber bald fertig saniert.
Wir werden sie im nächsten Jahr noch ein-
mal zehn Wochen für Nacharbeiten schlie-
ßen, dann haben wir eine Top-Halle auf
dem neusten Stand, gerade was die Tech-
nik oder den Brandschutz anbelangt. Es
war aber keine Modernisierung, es bleibt
die legendäre Olympiahalle, was für uns
passt. Wer in der Musik einen Namen hat,
spielt hier. Wir haben die drei größten
Münchner Dax-Unternehmen mit ihren
Hauptversammlungen bei uns. Und mit
der Handball-WM haben wir gezeigt, dass
sie weiterhin eine tolle Sporthalle ist.
Eine neue Halle wird auf dem Areal des
Olympiaradstadions kommen.
Die wird den modernsten Ansprüchen ge-
recht, für Eishockey und Basketball. Kon-
zerte werden dort nicht stattfinden, es gibt
also keine Konkurrenz. Wir würden die
Halle sogar gerne betreiben und unser Per-
sonal aus dem Eissportzentrum einbrin-
gen. Architektonisch wird sie sich orga-
nisch in den Park einfügen. Trotz Traditi-
on und Vermächtnis ist es wichtig, dass
wir für die Zukunft gerüstet sind.
Was planen Sie im dann verlassenen Eis-
sportzentrum?
Es wird eine Zwischennutzung geben. Die
SoccArena werden wir vorerst belassen.


Dazu werden wir für 2022 eine Ausstel-
lung zu 50 Jahre Olympia konzipieren,
wahrscheinlich in der Trainingshalle. Im
Eisstadion wird es voraussichtlich eine
Nutzung in Richtung Actionsport geben.
Langfristig tendiert man an diesem Platz
zu einer Multi-Funktionshalle für Musik
und Sport und bis zu 6000 Zuschauer,
eventuell mit einem kleinen Kongresszen-
trum.

An der Schwimmhalle wird auch gearbei-
tet, sie wird aber trotzdem nicht tauglich
für internationale Wettkämpfe sein.
Ja, heute braucht man zehn Bahnen, frü-
her haben acht genügt. Die geforderten
5000 Zuschauerplätze hat sie auch nicht,
wir sind bei etwas über 2000. Wenn sie spä-
testens 2021 fertig durchsaniert ist, wird
sie aber weiterhin eines der schönsten und
besten Sportbecken in München sein. Be-

trieben wird die Schwimmhalle von den
Stadtwerken.
Wie soll es für den Park als Ensemble wei-
tergehen?
Es macht irre Spaß zu sehen, wie er in der
Freizeit, aber auch von Touristen ange-
nommen wird. Auch wenn wir viele Veran-
staltungen haben, ist das ein Park für die
Münchnerinnen und Münchner. So soll es
bleiben. interview: heiner effern

Olympiapark-Chefin
Marion SchöneFOTO: ROBERT HAAS

Das Gemeinschaftsgefühl ist
ausgeprägt, es galt ja auch
einige Kämpfe zu überstehen

Das Farbkonzept
und die damals
neuartigen Piktogramme
von Olympia ’72 sind
längst legendär.
Im Olympischen Dorf
helfen Farben bei der
Orientierung – in Form
der „Media Lines“ des
österreichischen
Architekten Hans Hollein.
FOTOS: ALESSANDRA SCHELLNEGGER

Typisch für das
Olympiadorf sind seine
ebenso ungewöhnlichen
wie unterschiedlichen
Treppenaufgänge
und Rampen.
Am Abenteuerspielplatz
an der Straßbergerstraße
können Kinder
durch ein Rohrsystem
kriechen. Und egal,
wo man ist: Der
Olympiaturm kommt
immer wieder ins
Blickfeld.
FOTOS:
ALESSANDRA SCHELLNEGGER (2),
DOMINIK HUTTER

Der Funke


ist übergesprungen


Die Bewohner sind stolz auf ihr buntes Olympiadorf


„Für die Zukunft


gerüstet“


Im Olympiapark wird an vielen
Stellen saniert und gebaut

begannen die Bauarbeiten für den Olympiapark


DEFGH Nr. 184, Samstag/Sonntag, 10./11. August 2019 THEMA DES TAGES R3

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