Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,19.AUGUST2019 WISSEN 25


tung überwiesen werden soll-
ten“. Eine Schlussfolgerung, die
heikle Punkte berührt. Denn
wie können Ärzte vorab erken-
nen, welche Therapien wann
keinen Sinn mehr haben? Wel-
che Faktoren sollten eine Be-
handlungsentscheidung be-
stimmen? Und wann ist es ge-
rechtfertigt von einem „zu viel“
an Therapie, also einer „Über-
therapie“ zu sprechen?
„Die Studie wirft natürlich
mehr Fragen auf, als sie Ant-
worten gibt“, sagt Bernd Oliver
Maier, von der Klinik für Pallia-
tivmedizin und interdisziplinä-
re Onkologie am St. Josefs-
Hospital Wiesbaden. Grund-
sätzlich stelle sich die Frage, ob
man die Menschen erkenne, die
kurz vor dem Lebensende stün-
den: „Gerade bei Erstdiagno-
sen, wie sie in der Studie unter-
sucht wurden, behaupte ich,
dass dem nicht so ist“, sagt
Maier. Und selbst, wenn die
Schwere der Erkrankung be-
stimmt sei, folge daraus noch
keine zwangsläufige Entschei-
dung: „Biologische Empfehlun-
gen werden von vielen als Ur-
teil missverstanden, dabei bil-
den sie erst einmal die Grundla-
ge für eine individuelle Bera-
tung.“
Eine Tatsache, die auch
Bernd Alt-Epping vom Palliativ-
zentrum der Uniklinik Göttin-
gen betont: „Therapieentschei-
dungen sind Abwägungsprozes-
se auf Basis von Wertevorstel-
lungen – und diese Werte kön-
nen bei jedem Patienten anders
sein.“ Therapieversuche seien
zunächst nicht das Problem.
„Problematisch wird es erst,
wenn Therapieversuche, die
sich als aussichtslos erweisen,
nicht abgebrochen werden.“ Er
würde sich in der Ärzteschaft
mehr Konsens darüber wün-
schen, wann keine Tumorthera-
pie mehr angeboten wird. Die
Arbeitsgruppe Palliativmedizin
der Deutschen Krebsgesell-

D


ie Diagnose Krebs
ist für die Betroffe-
nen ein Schock –
umso mehr, wenn
sie erfahren, dass die Krankheit
schon weit fortgeschritten und
womöglich unheilbar ist. Wel-
che Therapien sind dann noch
möglich? Welche haben viel-
leicht keinen Sinn mehr und
verstärken das Leiden
schlimmstenfalls? In einer Un-
tersuchung fanden Forscher
der American Cancer Society,
dass einige Krebspatienten, die
innerhalb eines Monats nach
der ersten Diagnose verstarben,
in dieser kurzen Zeit noch ag-
gressive Behandlungen wie
Operationen, Hormon- und
Chemotherapien sowie Be-
strahlungen erhalten hatten.


VON ALICE LANZKE

Der Studie, deren Ergebnisse
im Fachmagazin „JNCI Cancer
Spectrum“ veröffentlicht wur-
de, liegen Daten aus einem na-
tionalen Krebsregister aus den
Jahren 2004 bis 2014 zugrunde.
Das Register erfasst etwa 70
Prozent der neu diagnostizier-
ten Krebspatienten in den USA.
Insgesamt wurden so 100.848
Fälle analysiert, bei denen erst-
malig ein fortgeschrittener
Lungen-, Brust-, Bauchspei-
cheldrüsen- oder Darmkrebs
festgestellt wurde, an dem die
Betroffenen innerhalb nur ei-
nes Monats verstarben.
Die Art der Behandlung un-
terschied sich je nach Krebsart,
Alter und Versicherungsstatus
des Patienten sowie Behand-
lungsort erheblich. Aus den Un-
terschieden schließen die Auto-
ren der Studie: „Weitere For-
schung ist nötig, um Patienten
mit zeitnah tödlich verlaufen-
der Krebserkrankung zu identi-
fizieren, die von dem Versuch
einer lebensverlängernden Be-
handlung nicht profitieren und
stattdessen zur Sterbebeglei-


schaft, deren Sprecher Alt-Ep-
ping ist, soll diesen Findungs-
prozess nun anstoßen. Der Me-
diziner verweist zudem auf die
Leitlinie Palliativmedizin für
Patienten mit einer nicht heil-
baren Krebserkrankung, die
auch ein Kapitel zur Therapie-
begrenzung enthalte.
Eben jene Therapiebegren-
zung findet zu selten statt, sagt
Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzen-
der der Arzneimittelkommissi-
on der Deutschen Ärzteschaft:
„Ein viel zu großer Prozentsatz
an vorbehandelten Patienten in
fortgeschrittenem Stadium be-

kommt eine Chemotherapie.“
Der Onkologe beschäftigt sich
seit zehn Jahren mit der The-
matik, da er bemerkt habe, dass
zu viele Patienten überthera-
piert würden: „Am schlimms-
ten ist es, wenn diese während
einer laufenden Chemothera-
pie sterben, also einer Thera-
pie, die ihnen eigentlich helfen
sollte.“ Für die Übertherapien
gibt es laut Ludwig mehrere
Gründe: Neben dem Patienten-
wunsch könne die Unerfahren-
heit mancher Ärzte mit solchen
Fällen eine Rolle spielen, eben-
so wie ökonomische Gründe,
aber auch der Machbarkeits-
glaube einiger Mediziner: „Uns
wird suggeriert, dass die vielen
neuen Medikamente Krebs heil-
bar machen.“ Tatsächlich beste-

he eine Diskrepanz zwischen
dem, was die Pharmaindustrie
verspreche, und dem, was tat-
sächlich erreichbar sei. Ziel
müsse es sein, die Lebensquali-
tät von Patienten zu verbessern


  • intensive, nebenwirkungsrei-
    che Therapien würden diese al-
    lerdings oft eher verschlech-
    tern.
    Anne Letsch, Onkologin an
    der Berliner Charité, ergänzt,
    dass es zwar in den vergange-
    nen fünf Jahren durchaus be-
    merkenswerte Fortschritte ge-
    geben habe, etwa in Form von
    gezielten Immuntherapien, die-


se aber auch eine neue prognos-
tische Breite bedeuteten: „Die
möglichen Wirkungen lassen
sich schwerer abschätzen, was
mehr prognostische Unsicher-
heit bedeutet.“ Grundsätzlich
sei es immer wichtig, mit Pa-
tienten über Chancen, aber
eben auch über Risiken einer
Therapie zu sprechen und es
auch aushalten zu können,
wenn eine tumorspezifische
Behandlung keinen Sinn mehr
habe: „Dieser Verzicht auf eine
Therapie fällt manchen
schwer.“
Letsch plädiert für eine sys-
tematische Datenerfassung, um
auf deren Grundlage Indikato-
ren für maßgeschneiderte The-
rapiekonzepte entwickeln zu
können: „Solche Faktoren sind

neben Alter, Geschlecht, weite-
ren Erkrankungen und Medika-
menten auch der Ernährungs-
und Funktionsstatus der Pa-
tienten sowie deren kognitive
Fähigkeiten“, führt die Onkolo-
gin aus,. Ziel müsse es sein, so-
wohl Unter- als auch Überthe-
rapien zu vermeiden: „Indika-
toren können dabei allerdings
nur ein Stoppschild sein.“ Wol-
le man darüber hinweggehen,
müsse man gute Argumente ha-
ben. „Wir brauchen bestimmte
Hürden, die sich am Nutzen,
den möglichen Toxizitäten und
Nebenwirkungen einer Thera-
pie orientieren“, unterstreicht
sie. Nicht zuletzt müsse auch
gefragt werden, wie eine Be-
handlung zur Lebenssituation
der Patienten passe: Was sei
beispielsweise mit denjenigen,
die allein lebten und Unterstüt-
zung benötigten?
Bernd Oliver Maier erzählt,
dass Patienten sich oft zwei An-
sprechpartner wünschten: „Sie
wollen nicht vom Onkologen
hören, wie es am Lebensende
sein könnte, aber vielleicht eine
halbe Stunde später vom Pallia-
tivmediziner.“ Er empfiehlt für
eine angemessene Behandlung
solcher Patienten ein auf vier
Säulen beruhendes systemati-
sches Vorgehen: Zum einen
sollte geklärt werden, ob Vor-
kehrungen getroffen wurden,
mit erwartbaren Verschlechte-
rungen umzugehen. „Diese In-
formationen sollten sowohl im
Team als auch mit den Betroffe-
nen geteilt werden“, so Maier.
Zweitens sollten die biologi-
schen Faktoren solcher Fälle in-
terdisziplinär, also auch mit
Palliativmedizinern diskutiert
werden. „Drittens sollte die Le-
benssituation dieser schwer-
kranken Patienten abgefragt
werden“, sagt der Mediziner.
„Und schließlich muss man zu-
hören können, deren Lebens-
ziele und die biologische Diag-
nose kennen.“ dpa

Wenn Therapie


am Ende ist


Wann ergibt eine Behandlung keinen


Sinn mehr? Ärzten und Patienten fällt


es schwer, eine Antwort zu finden


Wespen sind in diesem Som-
mer in vielen Regionen
Deutschlands nicht so häufig
zu sehen wie im vergangenen
Jahr. Das bestätigt Melanie
von Orlow von der Bundes-
arbeitsgruppe Hymenoptera
beim Naturschutzbund Na-
bu. In diesem Jahr habe ihr
Team bisher ungefähr halb so
viele Beratungen und Um-
siedlungen von Hornissen,
Hummeln, Wildbienen und
Wespen absolviert wie im
gleichen Zeitraum des ver-
gangenen Jahres, so die Bio-
login. Grund zur Sorge sieht
sie nicht. Und: Die beste
Wespenzeit stehe eigentlich
erst bevor. „Von Mitte Au-
gust bis Mitte September
werden die zudringlich und
nervig.“

Ssssssssssssseltenersssssssssssseltener


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