Süddeutsche Zeitung - 19.08.2019

(Ron) #1
von philipp selldorf

D


er 1. FC Köln hat zum Saisonstart
eine Niederlage erlitten, die ihm
seine Freunde nicht übelnehmen
werden. Er hat in Wolfsburg 1:2 verloren,
bei einer Mannschaft, der Kenner eine
bessere Platzierung als im Vorjahr zutrau-
en – im Sommer hatte der VfL als Sechs-
ter abgeschlossen. Am nächsten Spieltag
dürfen die Kölner erneut gegen einen Eu-
ropacupteilnehmer spielen, gegen Dort-
mund, am vierten Spieltag kommt der
Vorjahresfünfte aus Mönchengladbach,
und am fünften Spieltag reist der FC zum
FC Bayern, der bis dahin außer Mario
Mandzukic, Gareth Bale und Marco Reus
wahrscheinlich auch noch Neymar ver-
pflichtet hat (günstig gegen Leihgebühr).
Entweder stammt also der Spielplaner
der Deutschen Fußball-Liga aus Düssel-
dorf oder er ist ein Saboteur im Auftrag
des Erzrivalen aus Mönchengladbach
oder er hat, was noch verwerflicher wäre,
dem Aufsteiger bedenkenlos ein Pro-
gramm hingelegt, mit dem nach fünf
Spieltagen ein Null-Punkte-Start nicht
allzu unwahrscheinlich ist. Zwischen-
durch müssen die Kölner ja auch noch bei
den rätselhaften Freiburgern vorbei-
schauen, die nicht nur ein bewährter
Angstgegner sind, sondern auch die Ei-
genschaft besitzen, Heimspiele wie jenes
am Samstag gegen Mainz 3:0 zu gewin-
nen, die nach ihrem Verlauf prädestiniert
waren, genau andersrum auszugehen.
Es ist erstaunlich, dass die Kölner Fans
nach Bekanntgabe dieser Zumutung von
Spielplan nicht nach Frankfurt gezogen
sind und die Scheiben der DFL-Zentrale
eingeworfen haben, denn diese Komposi-
tion von Terminen gleicht einem Attentat
auf den Vereinsfrieden. Eine Mann-
schaft, die aus der zweiten Liga kommt,
einem solchen Härtetest auszusetzen, ist
nicht fair. Der Einwand, dass die Begeg-
nung mit Dortmund oder Bayern zu den
Pflichten eines jeden noch so gering be-
mittelten Angehörigen der ersten Bun-
desliga zählt, ist zwar nicht verkehrt,
doch wie immer kommt es dabei auf die
Dosierung an. Die Dosierung, die den Köl-
nern von der DFL verabreicht wurde,
birgt eine erhöhte Gefahr von Risiken
und Nebenwirkungen, denn der Fehl-
start, der ihnen droht, kann einen beson-
deren Tatbestand schaffen. Nicht nur des-
halb, weil Punkte fehlen, sondern weil
ein Fehlstart Stress erzeugt. Er stempelt
ein Team von Anfang an zum Problemfall
und stellt eine psychische Belastung her,
die den Betroffenen womöglich daran hin-
dert, seine Fähigkeiten zu verwirklichen.
Natürlich liegen auch Chancen im Köl-
ner Terminkalender. Vielleicht sind die
vielen neuen Bayern-Stars am fünften
Spieltag schon heillos zerstritten. Und
vielleicht wähnt sich Dortmund nach der
Übernahme der Tabellenführung schon
übermütig dem Titel nahe. Vielleicht.
Aber nicht wahrscheinlich.


von freddie röckenhaus

Dortmund– Andie Euphorie von Auftakt-
spielen erinnert man sich am Ende einer
Saison oft wehmütig und ungläubig: So
viel Aufbruch am Anfang – und dann doch
wieder in die alten Furchen gerutscht, vom
Verletzungspech geplagt, abgeschmiert
ins Mittelmaß ... Das 5:1 von Borussia Dort-
mund gegen den FC Augsburg allerdings
war zu deutlich für skeptische Saisonpro-
gnosen. Julian Weigl, neuerdings im Mittel-
feld des BVB wieder gefragt, traute sich,
die Dortmunder Zuversicht fast schon auf-
reizend klar zu formulieren: „Natürlich ha-
ben wir wahrgenommen, dass die Bayern
am Freitag nicht gewonnen haben. Um so
mehr hat uns das angestachelt, gleich ein
Signal nach München zu senden!“
Weigls Trainer Lucien Favre wird schlau
genug sein, die ziemlich große Klappe des
23-Jährigen mit seinem typischen Augen-
rollen zu kommentieren. Denn trotz des be-
eindruckenden Startsieges, trotz der Ziel-
vorgaben der Klubführung und trotz der
Erwartungshaltung beim Anhang: Favre
mag sich auch weiterhin nicht am Ankündi-
gungs-Wettbewerb um den Meistertitel be-
teiligen. Er „nehme das an als Ziel“, beton-
te Favre zwar auch nach dem starken 5:1
eher grummelig, aber seine Aufgabe sei es,
immer nur das nächste Spiel zu betrachten


  • „auch wenn das etwas langweilig klingt“.
    Dabei muss Favre ohnehin nicht befürch-
    ten, als unterhaltsam zu gelten.


Ein anderer wichtiger Protagonist beim
Dortmunder Saisonstart wollte nach dem
Sieg noch weniger sagen – so gut wie
nichts: BVB-Rückkehrer Mats Hummels
wimmelte nach seinem ersten schwarzgel-
ben Heimspiel seit Mai 2016 (damals gegen
Köln) alle Frageversuche ab: „in zwei, drei
Wochen vielleicht“, sagte er nur. Zuvor hat-
te er einige Minuten vor dem Abpfiff von
Marco Reus die Kapitänsbinde übernom-
men – und nach dem Abpfiff auf der Osttri-
büne einem Fan sein Trikot überlassen,
der ihn mit einem unermüdlich in die Stadi-
on-Luft gereckten Plakat begrüßt hatte:
„Willkommen zu Hause, Mats!“
Hummels tat gut daran, seine an sich ge-
wohnte Rolle des eloquenten Mannschafts-
sprechers vorerst zu verweigern. Auf dem
Rasen hatte der Verteidiger gegen die stre-
ckenweise überfordert wirkenden Augs-
burger 95,3 Prozent Pässe an den eigenen
Mann gebracht, und dabei eine ganze Rei-
he seiner Spieleröffnungen gezeigt, die
man nur von wenigen gelernten Innenver-
teidigern geboten bekommt. Dass er sich
auch ein, zwei seiner in Dortmund als
„Hummels-Bolzen“ bekannten Fehler leis-
tete, passte zu seinem Heimkommen: Man-
che Dinge ändern sich eben nie.

Intern hatte Trainer Favre den National-
spieler außer Dienst bereits zu einer Art
drittem Spielführer ernannt, hinter Marco
Reus und Lukasz Piszczek. Als beide nicht
mehr auf dem Feld waren, durfte Hum-
mels die Armbinde übernehmen, die
selbst im modernen Profifußball ein Sym-
bol für einen besonderen Rang ist. Trotz
vieler Versuche bei quasi jedem Dortmun-
der Eckball (Eckenverhältnis: 10:0), blieb
Hummels der Bonbon-Geschmack eines
Tores zur Rückkehr versagt. Und das Spiel
hatte sogar nach 31 Sekunden mit dem ers-
ten Gegentreffer der zweiten Hummels-
Ära begonnen, als die halbe BVB-Elf, inklu-
sive Hummels, dem simplen Augsburger
1:0 durch Sturm-Zugang Florian Nieder-
lechner nur zuschaute. Dieser erste Tor-
schuss blieb allerdings der einzige des
FCA, der aufs Dortmunder Tor kam.
Stattdessen trafen für Dortmund da-
nach die üblichen Verdächtigen: Zweimal
Paco Alcacer, den Favre im dritten Saison-
Pflichtspiel zum dritten Mal Mario Götze

vorzog, je einmal Marco Reus und Jadon
Sancho. Also jene drei Borussen, die auch
in der Vorsaison die meisten Tore erzielt
hatten. Das 5:1, sein Premieren-Tor, steuer-
te der spät eingewechselte Zugang Julian
Brandt bei – direkt vor der Südtribüne. Der
noch später eingewechselte Götze verpass-
te ein weiteres Tor bei einem vertrackten
Schuss. Sein 200. Bundesliga-Spiel hätte
sich Götze wohl etwas glamouröser vorge-
stellt als mit einem Kurzeinsatz.
Das eigentliche, ziemlich neue Dilemma
des BVB kennen sie bei Bayern München
schon länger. Gegen Augsburg, das seinen
gerade erst verpflichteten Torwart Tomas
Koubek durch passives Defensivverhalten
ständig in die Bredouille brachte und des-
sen Fehler heraufbeschwor, konnte Dort-
munds Ensemble in jeder Besetzung mit
seiner fast spielerischen Ballsicherheit auf-
trumpfen. 72 Prozent Ballbesitz dokumen-
tierten dies. Auf Lucien Favre kommt nun
wohl erstmals in seiner Karriere das kom-
plizierte Management eines brillant über-

besetzten Kaders zu. Gegen Augsburg
wechselte er Brandt, Götze und den Real-
Madrid-Leihspieler Achraf Hakimi ein –
drei Topspieler. Natürlich braucht Dort-
mund, wie jeder ähnlich hoch ambitionier-
te Klub, auch solche Kaliber auf der Bank.
Und natürlich wird man spätestens im
Herbst merken, dass alle zu ihren begehr-
ten Spielanteilen kommen. Aber Favre und
Lizenzspieler-Leiter Sebastian Kehl wer-
den bald viel zu moderieren haben.
Für einen wie Götze, dessen fußballeri-
sche Klasse bei fast jedem Ballkontakt auf-
scheint, dürfte das Bankdrücken beson-
ders schmerzhaft sein. Götze hat nur noch
einen Vertrag für elf Monate; dass er kürz-
lich mit Werder Bremen in Verbindung ge-
bracht wurde, dementierte man an der We-
ser eilig. Aber dem Weltmeister Götze
muss es auch weh tun, dass man ihn nicht
mehr mit den ganz großen Klubs von Man-
chester bis London in Verbindung bringt,
sondern ihm Bremen zutraut. Die beiden
BVB-Macher Hans-Joachim Watzke und

Michael Zorc wollen Götze unbedingt hal-
ten, wenn auch nicht um jeden Preis. Aber
für Spieler wie ihn oder den ebenfalls nur
noch bis Sommer 2020 gebundenen portu-
giesischen Europameister Raphael Guer-
reiro scheint es besonders schwierig zu
sein, sich mit der neuen Klasse des BVB-Ka-
ders zu arrangieren.
Julian Weigl scheint das gerade hinter
sich gebracht zu haben. „Großartig, was
für einen Schwung die Jungs bringen, die
bei uns von der Bank kommen“, betonte er.
Weigl selbst war voriges Jahr kurz vor dem
Absprung aus Dortmund, weil er kaum
noch zu Einsätzen kam. Auch seine Eupho-
rie könnte bald schon wieder Dämpfer be-
kommen, wenn Favre ihm einen echten, of-
fensiveren, schnelleren „Achter“ im Mittel-
feld vorziehen sollte, etwa die relativ viel-
seitigen Brandt oder Götze oder den robus-
teren Dänen Thomas Delaney. Wer so viel
Spannung in der eigenen Aufstellung hat,
muss sich wohl tatsächlich nicht an Debat-
ten um Meistertitel beteiligen.

Mönchengladbach– Während am Sams-
tag auf der Schalker Ersatzbank mehrere
Plätze leer blieben, weil das nötige Perso-
nal aus gesundheitlichen Gründen von den
Rängen aus zuschaute, versammelten sich
auf Gladbacher Seite die Vertreter der
alten Borussia auf den Sitzen der Aushilfs-
kräfte. Vorneweg der langjährige Offensiv-
chef Raffael, dazu die altbekannten Flügel-
stürmer Patrick Herrmann und Ibrahima
Traoré sowie der Außenbahnspezialist Fa-
bian Johnson, der in den fünf Jahren am
Niederrhein schon bessere Zeiten hatte als
zuletzt, aber mit 100 Bundesligaeinsätzen
seinen Teil beigetragen hat zum positiven
Ansehen des Klubs. Die Langzeit-Verletz-
ten Lars Stindl, Christoph Kramer und Jo-
nas Hofmann komplettierten als Tribünen-
gäste das Aufgebot der Traditionsborus-
sen im aktuellen Kader. Sie sahen auf ihren
Vorzugsplätzen ein 0:0, das sie vermutlich
im gleichen Zustand zurückließ wie den
Verteidiger Matthias Ginter, der am Hauen
und Stechen der zwei westdeutschen Grö-
ßen 90 Minuten mitgewirkt hatte.
Er sei „zwiegespalten“, wie er die Partie
bewerten sollte, erklärte der Nationalspie-
ler Ginter mehrmals. Im Dilemma befand
er sich nicht nur wegen des dürftigen Re-
sultats, sondern auch wegen der Spielwei-
se seines Teams, das nach dem Willen des
neuen Trainers Marco Rose eine heftige
Umerziehung erfährt. Es sei „schwierig“,
den Stand des Wandels „in Prozent auszu-
drücken“, meinte Ginter vorsichtig abwä-
gend: „Die hektische Arbeit gegen den Ball



  • und dann (mit Ball) ruhig zu bleiben und
    sauber zu spielen, das ist nicht ganz ein-
    fach. Das wird noch Zeit brauchen.“


Für langjährige Besucher des Borussia-
Parks bot vor allem die erste Halbzeit ei-
nen ungewohnten Anblick: Sie sahen eine
Fohlen-Elf, die sich von den Vorjahres-
modellen so grundlegend unterschied wie
das Pferd von der Kuh. Die geschätzten
Merkmale des Borussia-Stils – zielstrebi-
ges Flügelspiel, leichtfüßige Kombinatio-
nen und schnelle Konter – blieben in einer
Weise abwesend, als hätte sie jemand aus
dem Programm gestrichen. Wo früher Tech-
niker, Kleinkünstler und Steilpass-Spieler
wie Thorgan Hazard, Stindl, Raffael, Trao-
ré oder Herrmann die Offensive prägten,
bestimmten nun kraftvolle Männer na-
mens Breel Embolo, Marcus Thuram und
Alassane Pléa das Geschehen im Angriff.
Auch die großräumigen Grätschen und
die vehementen Siebenmeilen-Vorstöße
des Rückraum-Strategen Denis Zakaria
passten ins Bild des Gladbacher Kraftmei-
erfußballs. Der einzige Engländer auf dem
Platz gehörte zwar der Gegenseite an – der
Rechtsverteidiger Jonjoe Kenny, den Schal-
ke vom FC Everton geliehen hat –, aber es
herrschte der Eindruck, dass der erste Bo-
russen-Auftritt unter der Aufsicht des neu-
en Choreografen Rose eine mehr als nur de-
zente britische Note an sich hatte.
Die Schalker waren dazu die geeigneten
Partner: Auch ihr Spiel stand im Zeichen
der Lehrmeinung ihres neuen Trainers,
auch David Wagner möchte, dass seine
Spieler durch intensives Pressing Bälle er-
obern und danach zügig in den Gegen-
angriff übergehen. Eine knappe Stunde ge-
lang ihnen das dank disziplinierter Zusam-
menarbeit und dem Beitrag der Vorarbei-
ter Omar Mascarell und Weston McKennie

ziemlich gut. Dem Führungstreffer kamen
sie näher als die Gastgeber, dann traten sie
allmählich den Rückzug an, bis sie sich ge-
gen Ende gegen längst überlegene Borus-
sen mit allerlei Befreiungsschlägen ins Ziel
retteten. Bei den ständigen Attacken des
Gladbacher Aufbauspiels seien „viele Kör-
ner draufgegangen“, hatte Alexander Nü-
bel erkannt, aber insgesamt sei das doch
„ein sehr ordentliches Spiel“ gewesen, be-
fand fröhlich der 22 Jahre alte Torwart,
den der Trainer Wagner im Sommer zum
Kapitän ernannt und den der Klub zur kö-
nigsblauen Galionsfigur erhoben hat, um
ihn auf die emotionale Tour zur Vertrags-
verlängerung zu bewegen. Nübel gab nicht
zu erkennen, dass ihn die exponierte Rolle
aus der für ihn typischen Ruhe bringt. Gele-
gentliche Flüchtigkeitsfehler beruhten
eher auf seinen offensiven Interventionen
als auf Unsicherheit. Wenn es gefährlich
wurde, wusste er damit umzugehen.

Womöglich, so sah es am Samstag aus,
wird sich Schalke in der nächsten Zeit mit
dem verordneten Wandel etwas leichter
tun als die Borussia, deren Reformprojekt
an höheren Ansprüchen gemessen wird. In
Gelsenkirchen hatte man schon mit einem
Fehlstart gerechnet – nächste Woche kom-
men die Bayern –, und so nahmen die
Schalker Anhänger die Gelegenheit wahr,
das 0:0 als Erfolgserlebnis zu bejubeln und
die Spieler zu feiern, die sie im Absturzjahr
noch auf den Mond gewünscht hatten.
Auch das Borussia-Publikum zeigte
sich gnädig und applaudierte, Marco Rose
interpretierte das als Zustimmung für sei-
nen Auftrag. Er habe „das Gefühl, dass vie-
le Fans verstehen, was hier gerade pas-
siert“. Mancher Satz in den Ausführungen
des Trainers und des Managers Max Eberl
enthielt die Botschaft, der Anhang möge
bitte Geduld haben mit der stilistischen
Wende. Dass Schalkes Coach Wagner her-
vorhob, die Partie sei von „extremer Inten-
sität und Leidenschaft“ erfüllt gewesen,
nahm sein Gladbacher Kollege gern zum
Anlass, die Veranstaltung als gelungen zu
loben: „Wenn ich die Attribute höre, dann
klingt das für mich nach Fußball.“
Er habe „schon viel Gutes“ gesehen, sag-
te Manager Max Eberl. Am besten hat es al-
lerdings ausgesehen, als Rose die alten Bo-
russen Raffael, Traoré und Johnson einge-
wechselt hatte. philipp selldorf

Leverkusen– KaiHavertz trug grellgelbe
Fußballschuhe, die zu fluoreszieren schie-
nen, als es dunkler wurde; als ob man ihn
hätte übersehen können. Der 20-Jährige
war in der vergangenen Rückrunde an der
Seite von Julian Brandt die überragende
Kraft bei Bayer Leverkusen. Und zum Start
dieser Saison, beim 3:2 (2:2) gegen Pader-
born, machte er einfach so weiter, selbst
wenn Brandt im Frühsommer nach Dort-
mund weitergezogen ist. Es ist eine ausge-
machte Sache, dass auch Havertz den Ver-
ein verlassen wird, nach Absprache mit
Klub-Legende Rudi Völler erst nach dem
Ende dieser Saison, sehr wahrscheinlich
Richtung München, vermutlich für eine Ab-
lösesumme (anderes Wort für Schmerzens-
geld) im neunstelligen Euro-Bereich. Vor
dem Komma. Das klingt nach typisch über-
hitztem Transfermarktirrsinn, ist in die-
sem Fall aber echt angemessen.
Man muss Havertz im Stadion gesehen
habe, um zu ermessen, warum er so gut ist.
Im Fernsehen und in den Statistiken wer-
den Tore und Vorlagen gezeigt bzw. aufge-
führt, so wie Havertz’ fantastisch gelupftes
2:1 gegen Paderborn oder der öffnende
Pass, der das Siegtor zum 3:2 ermöglichte.
Aber was nicht auftaucht, sind die kleinen
Dinge, die unbedingt Teil seines Talentes
sind: der feine Fuß, die Tempoverlagerun-
gen, das Auge, die Präzision, die langen
Wege, die Abwesenheit von Eitelkeit, die
Selbstverständlichkeit, mit der er Abwehr-
aufgaben übernimmt. Gegen Paderborn
klärte er mehrfach per Kopf nach Ecken
des Gegners. Und war meistens sogleich
wieder der Motor der Spektakelmaschine,
die Bayer 04 seit der vergangenen Winter-
pause unter der Führung von Peter Bosz ist.
Nur mit Spielern wie Havertz kann der
Trainer seinen Hochrisiko-Fußball versu-
chen, alles andere wäre Harakiri. Obwohl,
es sieht schon jetzt oft nach Harakiri aus,
was Leverkusen praktiziert. Der niederlän-
dische Übungsleiter kennt nur einen Weg:
den nach vorne. Diese Kompromisslosig-
keit sorgt dafür, dass es keine Geheimnisse
um Leverkusens Ausrichtung gibt, dafür
aber viele gute Ideen von offensiv ausge-
richteten Spielern. Gegen Paderborn wir-
belten vorne Havertz, Bailey, Volland und
Demirbay, aber auch nominelle Defensiv-
akteure, später stieß Bellarabi noch hinzu.
Offensiv sorgt die Werkself für atembe-
raubende Momente; in der Defensive auch,
und das war alles andere als abgesprochen.
Vor allem vor der Pause kam Bayer mit
dem giftigen Ballabluchsfußball der Gäste

und pfeilschnellen Unbekannten wie Ant-
wi-Adjei, Michel, Mamba, Pröger und Vasi-
liadis gerade auch bei Umschaltmomenten
nicht zurecht. „Das war ein offener Schlag-
abtausch – und damit genau das, was wir
nicht wollten“, klagte Bosz, der mitanse-
hen musste, wie Jonathan Tah zweimal ste-
hen gelassen wurde und Julian Baumgart-
linger ein Gegentor einleitete. Paderborns
Coach Steffen Baumgart klang ein wenig

stolz, als er sagte: „Den offenen Schlagab-
tausch haben wir provoziert. Das werden
wir immer wieder tun und damit hoffent-
lich den einen oder anderen Gegner kna-
cken. Wer uns kennt, der weiß, dass wir die
Eier dazu haben.“ Ähnlich sahen das auch
seine Spieler, etwa Kapitän Christian Stroh-
diek, der etwas weniger drastisch formu-
liert: „Wir haben gezeigt, dass wir nicht das
Kanonenfutter der Liga sind.“
Während Baumgart sich dafür ent-
schied, vor allem das Positive zu sehen
(„Leistungstechnisch haben wir bestan-
den, nur ergebnistechnisch haben wir
Nachholbedarf“), war Bosz auch nach dem
Abpfiff nicht zufrieden. „Das Auftaktspiel
zu gewinnen, ist immer gut“, sagte er.

„Aber wie wir gespielt haben, damit bin ich
nicht zufrieden. Meine Erfahrung ist, dass
man drei-, viermal pro Saison richtig
schlecht spielt. Wenn man dann drei Punk-
te holt, muss man zufrieden sein.“ Es war
ein harsches Resümee, aber manchmal ist
offenbar selbst Bosz der Spektakelgehalt
seines Teams zu hoch. Erst nach dem Wech-
sel hatte der Favorit die Partie besser im
Griff, Leverkusen ließ nur noch eine echte
Chance zu. „Die zweite Halbzeit war, glau-
be ich, ein bisschen besser als die erste“,
sagte Bosz. Trotzdem warte „viel Arbeit
auf uns. Kein Problem, machen wir gerne“.
Baumgart brachte die Dinge anders auf
den Punkt: „Wenn man das Ergebnis weg-
nimmt, kann man zufrieden sein. Wir ha-
ben viel von dem umgesetzt, wie wir uns
unseren Fußball vorstellen. Bei den Toren
hat Leverkusen seine ganze Klasse gezeigt.“
Der wortgewaltige und -gewandte Trainer
nannte keine Namen, aber das musste er
gar nicht. Jeder hatte gesehen: Kai Havertz
war der Spieler, der den Unterschied aus-
machte. Umso unerklärlicher, warum die
Zuschauer in Leverkusen das nicht ange-
messen würdigen; wie so oft in letzter Zeit
blieben Tausende Ränge frei. Werksklub
und Monsanto hin oder her: Für Kai Ha-
vertz lohnt es sich, ins Stadion zu pilgern.
In jedes Stadion. milan pavlovic

Bosz: „Wie wir gespielt haben,
damit binich nicht zufrieden.“

Dortmunder Luxusprobleme


Beim 5:1gegen Augsburg deutet der nochmals verstärkte BVB seine Meister-Tauglichkeit an – Trainer Lucien Favre allerdings ist
nun als Manager eines beinahe überbesetzten Kaders gefragt. Prominente Kräfte wie Götze oder Guerreiro müssen derzeit tapfer sein

Pferd statt Kuh


Gladbachs neuerStil wirkt englisch-kraftmeierisch – Schalke passt sich beim 0:0 an


BUNDESLIGA

Der Spielplan


als Attentat


Motor der Spektakelmaschine


Kai Havertz macht gegen kecke Paderborner den Unterschied für Leverkusen aus


Der neue Trainer Rose sieht den
höflichen Applaus als Bestätigung

Mats Hummels verordnet sich
nach seiner Heimkehr erst mal
ein paar Wochen Schweigen

DEFGH Nr. 190, Montag, 19. August 2019 (^) SPORT HMG 25
Eleganz statt Brachialgewalt: Kai Havertz zeigt bei seinem Treffer zum 2:1 für Lever-
kusen sein Ballgefühl. Rechts Paderborns Keeper Jannik Huth. FOTO: JAN HÜBNER / IMAGO
Premiere zum Schluss: Julian Brandt trifft gleich in seinem ersten Liga-Spiel für Dortmund (zum 5:1), Augsburgs Mads Pedersen kommt zu spät. FOTO: TIMGROOTHUIS / WITTERS
Vergebliche Impulsversuche: Auch die neuen Trainer Marco Rose (Gladbach, rechts)
und David Wagner (Schalke) sahen ein zähes Remis. FOTO: ANKE WÄLISCHMILLER / SVEN SIMON

Free download pdf