Nach seiner Wahl sprach Nitzan Horowitz
es selbstan: Er sei der erste bekennende
Homosexuelle, der in Israel eine Partei
führe. „Ich hoffe, dass das bald keiner be-
sonderen Erwähnung mehr wert ist, son-
dern in allen Parteien möglich sein wird.“
Aber bisher hätten nur bei der linkslibera-
len Meretz Homosexuelle keine „Feigen-
blattfunktion“, fügte er hinzu. Dies war
ein Seitenhieb auf Justizminister Amir
Ohana, den ersten Politiker im rechtsnati-
onalen Likud, der sich zu seiner Homose-
xualität bekannt hatte.
Horowitz hatte sich im Juni bei der Ab-
stimmung unter den rund tausend Mit-
gliedern der Meretz-Partei knapp gegen
die bisherige Vorsitzende Tamar Zand-
berg durchgesetzt. Das kam für viele über-
raschend, denn eigentlich war der 54-Jäh-
rige vor vier Jahren aus der Politik ausge-
stiegen und schrieb wieder Kolumnen in
der ZeitungHaaretz. Er gewann die partei-
internen Vorwahlen mit seiner Forde-
rung, Meretz müsse sich vor der Parla-
mentswahl im September 2017 mit ande-
ren linken Parteien zu einer Wahlallianz
verbünden. Denn bei der Wahl im April
hatte Meretz die 3,25-Prozent-Hürde für
den Einzug in die Knesset nur ganz knapp
übersprungen.
Im Juli wurde dann ein Bündnis ge-
schmiedet: Meretz ist Teil der Demokrati-
schen Union, der auch die neue Partei des
ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud
Barak und die bisherige Abgeordnete der
Arbeitspartei, Stav Shaffir, angehören. Ho-
rowitz, der Spitzenkandidat des Bündnis-
ses, sieht sich dieser Tage in seiner Partei
mit Kritik konfrontiert. Ein Teil der Me-
retz-Anhänger befürchtet, dass das Profil
der 1992 gegründeten Partei, die in der
Knesset am weitesten links steht, in die-
ser Allianz verwaschen wird. Andere mei-
nen, der eher zurückhaltend auftretende
Horowitz könne sich gegen den Polit-Pro-
fi Barak und die lautstarke, bekannte Poli-
tikerin Shaffir nicht durchsetzen.
Horowitz versucht nun, mit einer Mi-
schung aus jungenhaftem Charme und
klaren Ansagen nicht nur bisherige An-
hänger von Meretz hinter sich zu sam-
meln, sondern darüber hinaus Wähler zu
gewinnen. Mit dem Thema soziale Gerech-
tigkeit will er punkten und hofft auf Stim-
men junger Wähler, für die leistbare Woh-
nungen ein Thema sind. Als einzige Partei
in Israel tritt Meretz lautstark für eine
Zweistaatenlösung und Friedensverhand-
lungen mit den Palästinensern ein. Da-
nach gefragt, warum die Linke in Israel so
schwach ist und mit Ehud Barak zuletzt
vor 18 Jahren einen Ministerpräsidenten
stellte, antwortete Horowitz: Weil die Lin-
ke sich zu wenig als Alternative zu der von
Benjamin Netanjahu geführten Rechtsre-
gierung präsentiert hat. Meretz ist Mit-
glied der Sozialistischen Internationalen;
zur SPD und zu den Grünen in Deutsch-
land hat die Partei enge Verbindungen.
Bevor Horowitz 2009 in die Politik ein-
stieg und sechs Jahre lang Abgeordneter
war, machte der studierte Jurist als Jour-
nalist Karriere. Während seines Militär-
dienstes begann er für das Armeeradio zu
arbeiten. Danach schrieb er 13 Jahre lang
für die linksliberale TageszeitungHaar-
etzund berichtete als Korrespondent aus
Paris und Washington. Dann wechselte er
zu Channel 10, wo er TV-Dokumentatio-
nen rund um den Globus drehte.
Während seiner Zeit in der Knesset wur-
de er vom israelischen Demokratie-Insti-
tut mit der Auszeichnung für „herausra-
gende parlamentarische Arbeit“ gewür-
digt. Vor allem Umweltthemen, die in Isra-
el keinen großen Stellenwert haben, wa-
ren ihm ein Anliegen.
Der passionierte Radfahrer lebt seit
rund dreißig Jahren in Tel Aviv. 2013 ver-
suchte Horowitz, Bürgermeister in dieser
Stadt zu werden, unterlag aber dem popu-
lären Ron Huldai von der Arbeitspartei. In
der Nähe des Rathauses hat Horowitz sei-
ne Wohnung, wo er mit seinem langjähri-
gen Partner, dem Theaterregisseur Ido
Ricklin, lebt. „Und wir haben einen Hund,
um ein weiteres Klischee für Homosexuel-
le zu erfüllen“, ergänzt er selbstironisch.
alexandra föderl-schmid
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von stefan braun
K
anzlerin Angela Merkel hat vor ei-
nigen Monaten öffentlich darüber
nachgedacht, was die Menschen
in hundert Jahren wohl über Deutsch-
land im Jahr 2019 denken werden. Sie be-
zog sich auf die Frage, wie es Gesellschaft
und Politik zulassen konnten, dass rechts-
radikale Kräfte in diesem Land wieder so
stark wurden. Erweitert man die Perspek-
tive ein wenig, dann könnte man die Fra-
ge hinzufügen: Wie konnte es passieren,
dass CDU und SPD trotz der neuen Bedro-
hung nicht mehr zur Vernunft finden?
Auf den ersten Blick mag das überspitzt
klingen. Auf den zweiten drängt sich kei-
ne Frage so sehr auf wie diese.
In zwei Wochen stehen Landtagswah-
len in Ostdeutschland an, die für CDU
und SPD aller Voraussicht nach schwere
Niederlagen bringen werden. Es würde al-
so sehr viel bis alles dafür sprechen, sich
in diesen zwei Wochen besonders klug,
vernünftig und am besten auch geschlos-
sen zu präsentieren. Als Partei auf alle Fäl-
le, und als Koalition vielleicht auch, wenn
das Bild des Streits nicht dauernd alles
Gute überlagern soll. Offenkundig aber
sind Union und SPD dazu selbst in einem
historischen Moment wie diesem kaum
mehr in der Lage. Sie sollten sich nicht be-
schweren, wenn der von ihren Gegnern
angestimmte Abgesang auf die Volkspar-
teien tatsächlich in ihrem Absturz endet.
Da ist zunächst und leider gar nicht
mehr überraschend die SPD. Kaum hat
ihr Vizekanzler Olaf Scholz angekündigt,
er werde sich nun also doch ins Ringen
um den SPD-Vorsitz stürzen, da nährt der
Niedersachse Stephan Weil massive Zwei-
fel am gesamten Verfahren der Sozialde-
mokraten. Zu lange dauere es und über-
haupt werde es mittlerweile über die Ma-
ßen belastet von der Tatsache, dass am
Anfang so gut wie alle nur Nein gerufen
hätten. Ausgerechnet Weil beklagt das,
der selbst gehandelt wurde und so oft
Nein rief, dass man sich fragen muss, wel-
ches Spiel er treiben wollte. Erst will kei-
ner, dann rafft sich einer auf, und dann
findet sich einer, der wieder querschießt
- so gewinnt man keine Wähler mehr; so
schickt man sich selbst in die Wüste.
Beim Blick auf die CDU wird es nicht
besser. Deren Parteichefin Annegret
Kramp-Karrenbauer hat es geschafft,
dass allmählich viele an ihrer Befähigung
zweifeln. Bis zur entscheidenden Abstim-
mung auf dem Parteitag in Hamburg hat
sie so gut wie alles richtig gemacht; da-
nach hat sie so gut wie alles in den Sand
gesetzt. Bis zu ihrer Wahl war es ihr gelun-
gen, sich als Kämpferin für die Erneue-
rung der CDU zu präsentieren. Seither
aber torkelt sie von einer Panne zur nächs-
ten. Erst kam das Rezo-Video und die ver-
maleidete Reaktion darauf; dann folgte
der Einzug ins Kabinett, obwohl sie das
nicht nur stets abgelehnt hatte, sondern
es auch ihr Kernziel – die programmati-
sche Erneuerung der CDU – nahezu un-
möglich macht. Und am Wochenende
stieß sie – absichtlich oder nicht – auch
noch eine Debatte über einen Parteiaus-
schluss von Ex-Verfassungsschutzpräsi-
dent Hans-Georg Maaßen an. Ohne Ab-
sprache mit den Wahlkämpfern im Os-
ten; ohne Verständnis dafür, dass so et-
was Wasser auf die Mühlen derer sein
würde, die sich als Opfer stilisieren; und
also ohne Vorbereitung darauf, dass der
Angegriffene erst mal nachlegen würde.
SPD und Union kämpfen in diesen Mo-
naten um nicht weniger als die Frage, ob
sie als Volksparteien noch eine Zukunft
haben. Dabei handeln sie so, als hätten
sie das noch gar nicht verstanden.
von cathrin kahlweit
B
oris Johnson ist dafür, dass er einen
sehr lauten Wahlkampf gemacht
hat, als er um den Posten des Tory-
Chefs und damit zugleich auch um das
Amt des Premiers kämpfte, zur Zeit ziem-
lich leise. Sein Team füllt Twitter- und
Facebook-Timelines zwar mit vielen hüb-
schen Filmchen mit Johnson-Auftritten
und Johnson-Hausbesuchen, aber die
speichert die Öffentlichkeit vermutlich
als das ab, was sie sind: erste Wahlkampf-
spots. Und ja, der neue Premierminister
verkündet ständig neue Programme, mit
denen er dem Land Gutes tun will. Aber
der Wow-Effekt der Milliardenverspre-
chen nutzt sich ab; die Briten verlieren
den Überblick. Ohnehin dürfte vieles, was
sein Kabinett sich vornimmt, erst nach ei-
nem möglichen Wahlsieg und mit einer si-
cheren Mehrheit umsetzbar sein.
Was Boris Johnson aber nicht mehr tut:
Er redet nicht mehr ständig darüber, wie
großartig die Zukunft Großbritanniens
auch nach einem harten Brexit am 31. Ok-
tober aussehen könnte und wie glorios
das Königreich jede Schwierigkeit nach ei-
nem No Deal abfedern wird. Er kündigt
nicht mehr an, dass die EU demnächst ein-
knicken und einen Deal ohne die Notfalllö-
sung für Nordirland, den berühmten Back-
stop, anbieten werde. Stattdessen teilt er,
empfindlich geworden, gegen Brexit-Re-
bellen in den eigenen Reihen aus: DieDai-
ly Mailzitiert aus einem Brief, in dem der
Premier sich bitter beschwert, konservati-
ve Abgeordnete würden seine Pläne torpe-
dieren und gegen das nationale Interesse
handeln, indem sie versuchten, No Deal
zu verhindern.
Johnson ist in der Defensive. Das war
seine Vorgängerin, Theresa May, auch,
aber sie hatte immerhin einen Deal, den
sie vorzeigen konnte. Und sie war klug ge-
nug, gar nicht erst mit No Deal zu drohen.
Johnson war angetreten, um es allen zu
zeigen und alles anders zu machen. Nun
muss er gegen eine wachsende, berechtig-
te Sorge im Land ankämpfen, dass viel-
mehr er selbst es ist, der gegen das natio-
nale Interesse handelt. Dass er sich mit all-
zu radikalen Beratern umgeben hat. Und
dass er zum Schluss das Land ruiniert. Die
aktuellsten Szenarien von Nahrungsmit-
tel- und Medikamentenengpässen, die
am Wochenende durchsickerten, weisen
einmal mehr darauf hin, was da droht.
Noch ist völlig unklar, wie die wachsen-
de Opposition gegen seinen „EU-Austritt
ohne Wenn und Aber“ ihr Ziel erreichen
will. Labour, die Liberaldemokraten, die
Grünen, die walisische Partei Plaid Cum-
ru, die schottische Nationalpartei und ein
knappes Dutzend Tory-Abgeordnete – sie
alle suchen derzeit, teils miteinander, teils
gegeneinander, einen Ausweg. Für eine
Übergangsregierung der nationalen Ein-
heit stehen die Chancen schlecht; zu viele
Eitelkeiten, zu viel parteipolitische Taktik
sprechen dagegen. Aber ein Gesetz im Par-
lament, die Befassung der Gerichte, Neu-
wahlen plus Referendum, alles ist denk-
bar, über vieles wird verhandelt.
Der Zeitdruck wächst, und auch die Ent-
schlossenheit, diesem Premierminister in
den Arm zu fallen. Johnsons „Ohne Wenn
und Aber“ wollen sich verständlicherwei-
se nämlich auch jene Abgeordneten nicht
bieten lassen, die einen Brexit befürwor-
ten – wenn es bedeutet, dass er das Parla-
ment, und sei es kurzzeitig, ausschalten
würde. Lange vor dem 31. Oktober wird es
ein Showdown geben. Mitten in London.
Regierung gegen politisches Establish-
ment – das ist derzeit die Gefechtslage. Es
könnte um Boris Johnson schon bald sehr
einsam werden.
E
in Selbstmordattentat auf eine
Hochzeitsfeier, das ist infam. Und
doch fällt der Anschlag mit 63 To-
ten in Afghanistan kaum noch aus dem
Rahmen. Ob ein Fest zur Vermählung, das
Freitagsgebet in einer Schiiten-Moschee,
ein Hotel voller westlicher Experten oder
das Büro einer Hilfsorganisation – die Ter-
roristen wählen mit Bedacht sogenannte
„weiche Ziele“. Das Risiko des Scheiterns
ist gering, der Blutzoll hoch.
Insofern verwundert es, wenn der deut-
sche Botschafter in Afghanistan twittert:
„Das ist mehr als Terror, das ist einfach
verrückt!“ Nein, dieses Attentat ist aus
Sicht der Täter keineswegs verrückt. Es ist
kühl kalkuliert. In Afghanistan stehen
nicht nur Wahlen an. Die USA verhandeln
nach 18 Jahren Krieg mit den Taliban auch
ernsthaft über einen Truppenabzug. Und
da zeichnen sich Ergebnisse ab. Die Ameri-
kaner verringern die Zahl ihrer Soldaten
und ziehen irgendwann ganz ab, die Tali-
ban hingegen regieren mit in Kabul.
Dass die Taliban jede Verantwortung
für den Anschlag abstreiten, ist glaubwür-
dig: Washington verlangt von ihnen – im
Gegenzug zur Mitsprache bei der Macht-
verteilung – Garantien, dass vom Hindu-
kusch kein Terror ausgeht wie am 11. Sep-
tember 2001. Anders der Islamische Staat
der sich offiziell zu dem Blutbad bekennt.
Der IS will den Krieg – dafür braucht er US-
Soldaten im Land. tomas avenarius
W
ieder einmal hat Björn Höcke ei-
ne heisere Haudrauf-Rede gehal-
ten. Wieder einmal hat er ver-
sucht, sich als Opfer jener feindlichen Um-
stände zu inszenieren, die er und seine Par-
tei in Wahrheit selbst besorgen, weil sie
auf diese Umstände angewiesen sind wie
niemand sonst. Wieder einmal muss kei-
ner lange googeln, der sich nach Gegenre-
de sehnt. Am Wochenende kam sie vom
Zentralrat der Juden, der Teile der AfD ins
Völkische abwandern sieht. Wieder ein-
mal also alles wie immer? Bitte nicht.
Natürlich ermüdet es, wie ausdauernd
Teile der AfD und besonders Björn Höcke
mit immer baugleichen Provokationen
versuchen, alle Aufmerksamkeit auf sich
zu ziehen. Diesen Maklern in eigener Sa-
che sollte man aber nicht den Gefallen
tun, in Gewöhnung zu erschlaffen.
Wachsame und ausdauernde Mahner
wie der Zentralrat sind unverzichtbar,
selbst wenn von Mahnungen allein Hass
und Hetze nicht verschwinden werden.
Solche Wachsamkeit bedeutet gewiss
nicht, empört auf jeden Leim zu gehen,
der von den Maklern irgendwo verkippt
wird. Aber sie bedeutet durchaus, dass
niemand sich auch nur ein winziges biss-
chen gewöhnen darf an egal welche
Provokationen von Höcke und ähnlich Ge-
sinnten, nur weil diese das 100. Mal vorge-
tragen werden. Solche Gewöhnung führt
ins Unheil. cornelius pollmer
A
us Seenot gerettete Migranten als
Geiseln zur Erpressung anderer EU-
Länder zu missbrauchen, hat Itali-
ens rechtspopulistischer Innenminister
Matteo Salvini seit über einem Jahr zum
menschenverachtenden Ritual gemacht.
Nun hat er sich darin selbst übertroffen.
18 Tage waren es am Sonntag, seit die-
Menschen auf dem spanischen Rettungs-
schiff Open Arms ausharren müssen.
Längst hatten EU-Partner zugesagt, die
Migranten aufzunehmen, doch das reich-
te Salvini nicht. Das Boot soll auf dem Was-
ser bleiben. „Unfassbar“, nennt Spaniens
Premier das. Geht es Salvini also nicht dar-
um, die Geretteten loszuwerden – will er,
dass die sich entnervt ins Wasser stürzen?
Man kann all das mit der von ihm ausge-
lösten Regierungskrise in Italien verbin-
den. Da wollte er stärkster Mann sein,
steht nun aber geschwächt da. Nicht zufäl-
lig wurde dieOpen Armsjetzt auch zur
Kraftprobe in Roms zerrütteter Regie-
rung, und Salvini unterlag halb. Wenn er
den Rest dieser Seeschlacht erbarmungs-
los führt, soll das wohl seine alte Härte be-
weisen.
Wohl und Wehe Geretteter darf aber
nicht von Egotrips abhängen. Europa hat
die menschliche und politische Pflicht,
staatliche Seenotrettung im Mittelmeer
zu organisieren. Angela Merkel regte das
gerade an. Dann könnten die Salvinis kom-
men und gehen. andrea bachstein
D
ie anhaltenden Massenproteste
am Wochenende in Hongkong zei-
gen, wie verhärtet die Fronten in
dem Konflikt sind. Peking müsste der
Hongkonger Regierung gestatten, auf ei-
nen Teil der Forderungen der Demons-
tranten einzugehen. Dazu gehört, die Pro-
teste nicht als Aufstand zu bezeichnen.
Passieren wird das auf absehbare Zeit
nicht. Peking spricht inzwischen von Ter-
rorismus und lässt Demonstranten will-
kürlich verhaften. Die Gewalt eskaliert
weiter. Viele Hongkonger kämpfen nicht
mehr um ihre Stadt, als gäbe es Hoffnung.
Sie kämpfen, als wäre es 2047.
Bei der Übergabe vor 22 Jahren war
nicht sicher, ob sich nach Ablauf des Son-
derstatus nach 50 Jahren Hongkong dem
Festland oder die Volksrepublik der Son-
derverwaltungszone angleicht. Doch die
Hoffnung vieler Menschen lag auf Letzte-
rem. China öffnete sich damals der Welt.
Das Land war ehrgeizig, optimistisch,
hungrig auf Erfolg. Auch für die Kommu-
nistische Partei war Hongkong ein Vor-
bild: reich, stabil und nur teildemokra-
tisch; das Beste aus beiden Welten. Ein
Ort, in dem sich auch die Partei an der
Macht halten könnte, wenn sie Rationali-
tät über dumpfe Ideologie stellen würde.
Diese Überlegungen wirken heute wie aus
einer anderen Zeit. Die Hongkonger sehen
auf der anderen Seite der Grenze, was die
Welt nicht sehen will: einen immer aggres-
siveren, autokratischen Staat, dessen
Machthunger jede Freiheit frisst. Für die
Hongkonger läuft kein Countdown. Sie
glauben, ihre Zeit sei schon abgelaufen.
Nach wochenlangen Protesten befürch-
ten viele Bürger den Einmarsch der chine-
sischen Armee in der Stadt. Dass Peking
den hügeligen Felsen militärisch unter
Kontrolle bringen will, erscheint unwahr-
scheinlich. Die Kosten drohender Sanktio-
nen wären gleichzeitig zu hoch. In West-
china unterdrückt Peking seine muslimi-
schen Minderheiten. In Tibet hat es die
Kultur und Lebensweise der Menschen zu
großen Teilen ausgelöscht; im Rest des
Landes jegliche Mitbestimmung und de-
mokratische Bewegung zertrampelt. Mög-
lich ist das, weil es im Ausland niemanden
interessiert oder weil kaum Regierungen
bereit sind, dagegen anzugehen und da-
mit ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu
Peking zu gefährden. Solange die autokra-
tische Maschine der KP läuft, schauen Chi-
nas Partner weg. Pekings Geschwätz von
einem chinesischen Sonderweg dient vie-
len Staaten, darunter Deutschland, als
willkommene Entschuldigung. Es ist der
Grund, warum sich viele Staatschefs erst
so spät zu Hongkong geäußert haben. Es
wirkt, als habe man nicht so recht ge-
wusst, wo eigentlich die rote Linie verlau-
fen soll. Schlicht, weil es diese in China
schon so lange kaum noch gibt.
Sollte China trotzdem militärisch in
Hongkong eingreifen, würde das Ausland
wohl ernsthaft über Sanktionen nachden-
ken. Nicht zum Schutz der Demonstran-
ten, die friedlich und mutig auf die Straße
gehen, sondern weil die Stadt ein wichti-
ger Handelspartner ist. Viele internationa-
le Firmen betreiben dort ihre Asienbüros.
Die Manager wollen morgens sicher ins
Büro kommen und abends rechtzeitig ih-
ren Flieger kriegen. Ein geschlossener
Flughafen kostet viele Leute viel Geld.
Peking steht international unter
Druck. Aber im Gegensatz zu 1989 muss
es keine Demonstrationen in Festlandchi-
na fürchten. Es hat aus den Protesten vor
30 Jahren gelernt. Als der Wunsch nach
mehr Mitbestimmung in der Mittel-
schicht wuchs, verstärkte Peking den
Druck auf die Medien und zerstörte die
Anfänge einer Zivilgesellschaft. An der De-
batte um Hongkong liest man in Festland-
china nun ab, wie erfolgreich die Regie-
rung dabei war. Sie hat eine Desinformati-
onskampagne gestartet, um die Demons-
tranten als vom Ausland gesteuerte Row-
dys zu diffamieren. Die Proteste diskredi-
tiert sie als Versuch der USA, das Land zu
destabilisieren. Am Wochenende hat Chi-
nas Staatsfernsehen ein Gedicht des Theo-
logen Martin Niemöller umgedichtet und
die Proteste damit indirekt mit den Verbre-
chen von Nazideutschland gleichgesetzt.
Die staatliche Nachrichtenagentur ver-
gleicht die Demonstranten mit Kakerla-
ken – und das Volk stimmt grölend zu.
Während die Hongkonger 1989 für die
Demonstranten in Peking auf die Straße
gingen, Geld sammelten und die internati-
onale Staatengemeinschaft aufrüttelten,
fordern die Festlandchinesen nun, noch
härter gegen die Demonstranten vorzuge-
hen. Die Bilder der Truppen, die China an
der Grenze zu Hongkong stationiert hat,
dienen der eigenen Bevölkerung. Die Men-
schen fühlen sich nicht bedroht, sie sind
stolz auf die Übermacht der Armee gegen-
über den Protestierenden.
Viele Festlandchinesen empfinden die
Forderungen der Hongkonger nach mehr
Freiheit und Demokratie nicht als einen
Angriff auf den alleinigen Machtanspruch
der Partei, sondern auf sich selbst. Die KP
hat geschafft, die eigene Herrschaft mit
dem Schicksal des Landes untrennbar zu
verknüpfen. Die Regierung hat zu Hause
den Krieg um die Herzen und Köpfe ge-
wonnen. Die Tragweite dieses Sieges wird
das Ausland noch zu spüren bekommen.
Der nächste Zugang des
FC Bayern ist der interessan-
teste Transfer in der Fußball-
bundesliga in diesem Som-
mer. Das liegt daran, dass die-
ser Spieler, der Brasilianer Coutinho,
spektakulär gut Fußball spielen kann, sei-
ne Pässe und seine Schüsse sind oft so
präzise, dass sie ihm aus den unmöglichs-
ten Winkeln gelingen. Dass der 27 Jahre
alte Mittelfeldspieler ein interessanter
Zugang ist, liegt aber auch an dem Ge-
schäftsmodell, dass diesen Transfer er-
möglicht. Der FC Bayern leiht Coutinho
für ein Jahr aus, dazu hat der Verein sich
für nächsten Sommer eine Kaufoption ge-
sichert (angeblich ein dreistelliger Millio-
nenbetrag). Dass Spieler nicht fix wech-
seln, sondern erst ausgeliehen werden,
ist im Profifußball eine beliebte Transfer-
option geworden. Besonders radikal geht
dabei der FC Chelsea vor: Der Klub aus
London hatte zwischendurch 40 Spieler
verliehen. Der FC Bayern hat im internati-
onalen Vergleich bisher eher verhalten ge-
liehen, und auch mit wechselnder Nach-
haltigkeit. Kingsley Coman verpflichte-
ten die Münchner nach zwei Jahren fest,
er ist im aktuellen Team einer der wich-
tigsten Spieler. James Rodríguez hätte
der Klub nach zwei Leihjahren in diesem
Frühjahr für 42 Millionen Euro fest kau-
fen können, er durfte (und wollte) aber
nicht bleiben. Den Leihspieler James er-
setzt nun der Leihspieler Coutinho. bwa
4 HBG (^) MEINUNG Montag,19. August 2019, Nr. 190 DEFGH
FOTO: JACK GUEZ/AFP
CDU UND SPD
Große Unvernunft
GROSSBRITANNIEN
Boris Johnson geht die Luft aus
AFGHANISTAN
Infames Kalkül
AFD
Bloß kein Gewöhnungseffekt
ITALIEN
Opfer des Großmauls
sz-zeichnung: oliverschopf
HONGKONG
Verhärtete Fronten
von lea deuber
AKTUELLES LEXIKON
Leihspieler
PROFIL
Nitzan
Horowitz
Führt das linke
Lager
in Israel an
Allmählich wachsen in der CDU
die Zweifel an der Befähigung
von Kramp-Karrenbauer
Das „Ohne Wenn und Aber“
ihres Premiers lassen sich
die Abgeordneten nicht bieten
Früher war Hongkongs Modell
ein Vorbild für die
Kommunisten in Peking