Handelsblatt - 19.08.2019

(Elle) #1

Argentinien


Macri gehen


Ideen und


Personal aus


Alexander Busch, Salvador


E


r habe alles gegeben, um das
Staatsdefizit in den Griff zu
bekommen und die öffentli-
chen Ausgaben zu kürzen, erklärte
der argentinische Finanzminister Ni-
colás Dujovne bei seinem Rücktritt
am Samstagabend. „Jetzt ist eine Er-
neuerung im Wirtschaftsteam not-
wendig“, rechtfertigte Dujovne sei-
nen freiwilligen Abgang.
Der Rücktritt kam nicht überra-
schend: Denn alles, wofür Dujovne in
der Regierung des konservativen Prä-
sidenten Mauricio Macri stand, ha-
ben die Argentinier bei den Vorwah-
len vom letzten Sonntag weggefegt.
Mit fast 16 Prozentpunkten Vor-
sprung für die oppositionellen Pero-
nisten hatten die Wähler Macri klar-
gemacht, wie wenig sie von seiner
Wirtschaftspolitik halten. „Die meis-
ten Argentinier sind tolerant gegen-
über einer Rückkehr populistischer
Politik – aber nicht mehr gegenüber
hoher Arbeitslosigkeit, grassierender
Inflation und volatilen Wechselkur-
sen“, sagt Pamela Ramos, Ökonomin
von Oxford Economics.
Um die Auswirkungen des Abstur-
zes abzufedern, hat Macri jetzt für
Lebensmittel die Mehrwertsteuer
ausgesetzt, den Mindestlohn erhöht,
günstigere Kredite für kleine Unter-
nehmen angekündigt und die Kraft-
stoffpreise für 90 Tage festgesetzt –
alles Maßnahmen, die ebenso gut
von seinen politischen Widersachern
stammen könnten. „Macris Chancen
auf einen Wahlsieg erhöhen sie
nicht“, sagt Ramos.
Die Finanzinvestoren haben die ab
Dezember zu erwartende Linkswen-
de in Argentiniens Politik und damit
die wachsende Wahrscheinlichkeit
eines Schuldenschnitts in ihre Prog-
nosen eingebaut. Bis zuletzt hatten
sie darauf gewettet, dass die sich ab-
zeichnende leichte Konjunkturerho-
lung Macri noch im Amt halten
könnte. Doch die Hoffnungen sind
nun begraben: Der Peso hat seit Jah-
resbeginn 60 Prozent gegenüber
dem Dollar verloren und schwächelt
weiter. Die Inflation steht bei 56 Pro-
zent und nimmt zu.
Die Rezession wird sich auf bis zu
drei Prozent verschärfen. Für Argen-
tinien wird es schwer, seine Schulden
zurückzuzahlen. Die Ratingagentur
Fitch hat Argentinien-Anleihen mit
CCC statt wie bisher mit B bewertet,
also auf Ramschstatus. „Die Herab-
stufung spiegelt die gestiegene politi-
sche Unsicherheit und die problema-
tischere finanzielle Lage wider“, so
Fitch. „Die Wahrscheinlichkeit eines
Staatsbankrotts hat sich erhöht.“
Nachfolger von Dujovne wird der
50-jährige Hernán Lacunza, der bis-
her Wirtschaftssekretär der Provinz
Buenos Aires war. Weitere Personal-
wechsel im Kabinett sind zu erwar-
ten, denn auch andere Minister wer-
den nicht bereit sein, den politischen
Schwenk Macris mitzumachen. Zu-
mal die Regierung jetzt völlig dem
Oppositionskandidaten Alberto Fer-
nández ausgeliefert ist. Mit jeder Äu-
ßerung zu seiner künftigen Wirt-
schaftspolitik kann er die Kurse von
Aktien, Bonds und Peso in den Keller
jagen. Für die Wirtschaftspolitik sei
er nicht zuständig, sagte Fernández.
Er sei Kandidat, nicht Präsident.

Carsten Volkery London


N


iemand solle hinterher
sagen, er sei nicht ge-
warnt gewesen, kom-
mentierte die Londoner
„Sunday Times“ ihre
Enthüllung. Die Zeitung veröffentlich-
te am Sonntag eine interne Analyse
der britischen Regierung zum unge-
ordneten Brexit. Unter dem Codena-
men „Operation Yellowhammer“ be-
reitet sich das Land seit Monaten auf
den Ernstfall vor. Doch trotz aller Be-
mühungen bleibe die Brexit-Bereit-
schaft von Unternehmen und Bürgern
„gering“, heißt es in dem Dokument.
Der internen Lageeinschätzung zu-
folge drohen den Briten Engpässe bei
Benzin und Lebensmitteln, wenn das
Land die EU am 31. Oktober ohne Ver-
trag verlässt und über Nacht zum
Drittstaat wird. Sofort sichtbar wür-
den die Probleme in den Fährhäfen
an der englischen Kanalküste. 50 bis
85 Prozent der Lkw-Fahrer seien nicht
auf die französischen Grenzkontrollen
vorbereitet, heißt es in dem Papier.
Dies könne an der Grenze zu Warte-
zeiten von bis zu zweieinhalb Tagen
führen. Die Staus könnten auch den
Verkehr im Hinterland lahmlegen,
dann würden die Benzinlieferungen
in der Hauptstadt London und im
Südosten Englands beeinträchtigt. Die
Regierung erwartet, dass der Ausnah-
mezustand in den Häfen drei Monate
anhält.
Auch bei der Arzneimittelversor-
gung könne es zu „erheblichen Ver-
spätungen“ kommen, warnen die Be-
amten laut „Sunday Times“. Drei Vier-
tel aller Medikamente kommen über
den Ärmelkanal. Ebenso betroffen
wäre der Import frischer Lebensmit-
tel. Insgesamt sei die Lebensmittelsi-
cherheit nicht gefährdet, doch bei ein-
zelnen Waren könne es eng werden.
Panikkäufe könnten das Angebot zu-
sätzlich verknappen. Die Preise wür-
den steigen, was besonders ärmere
Haushalte träfe.
An der nordirischen Grenze rech-
net die Regierung mit der Rückkehr
einer harten Grenze. Die Anwendung
von EU-Zöllen und Produktkontrollen
für Exportgüter nach Irland werde
den Handel erheblich stören, heißt es.
Einige Unternehmen würden den
Handel ganz aufgeben oder auf die
andere Seite der Grenze umziehen.
Störungen werden auch für Reisende
an EU-Flughäfen, dem Eurostar-Bahn-
hof St. Pancras in London und den
Fährhäfen erwartet. Die Lage werde
dadurch verschärft, dass das Brexit-
Datum mit dem Ende der Herbstferi-
en in Großbritannien zusammenfalle,
merken die Beamten an.
Die Regierung tat den Bericht als
Panikmache ab, die Einschätzung
stamme von der Vorgängerregierung.
„Yellowhammer“ sei ein Worst-Case-
Szenario, twitterte Kabinettschef Mi-
chael Gove, der für die No-Deal-Vor-
bereitungen zuständig ist. In den ver-
gangenen drei Wochen habe man
bereits wesentliche Schritte unter-
nommen, um die Planungen zu be-
schleunigen. Die „Sunday Times“ hin-
gegen zitierte eine Regierungsquelle
mit den Worten, bei dem Dokument

handele es sich um eine „realistische“
Einschätzung.
Wie hart ein ungeordneter Brexit
Großbritannien träfe, würde in ho-
hem Maße von der EU abhängen. Die
Downing Street hofft, dass die Euro-
päer in vielen Bereichen Übergangsre-
gelungen zustimmen, die die
schlimmsten Folgen abmildern. Doch
seien wohl nur einzelne Staaten dazu
bereit, heißt es in dem Dokument. Die
Beziehung zwischen Großbritannien
und der „EU als Ganzes“ werde hinge-
gen von gegenseitigem Unverständnis
geprägt sein.
Premierminister Boris Johnson
wird am Mittwoch und Donnerstag in
Berlin und Paris erwartet. Er will bei
Bundeskanzlerin Angela Merkel und
Frankreichs Präsident Emmanuel Ma-
cron dafür werben, den EU-Ausstiegs-
vertrag nachzuverhandeln, um einen
ungeordneten Brexit doch noch zu
verhindern. Johnson fordert, den iri-
schen Backstop zu streichen.
Die Europäer lehnen Nachverhand-
lungen ab. Das Bundesfinanzministe-
rium geht inzwischen von einem un-
geordneten Brexit Ende Oktober aus.
Es sei nicht absehbar, dass Johnson
seine Position ändere, heißt es in ei-
nem internen Papier, über das das
Handelsblatt am Freitag berichtete.
Angesichts des drohenden Chaos-
Brexits wächst im britischen Parla-
ment die Nervosität. Mehr als hundert
Abgeordnete aller Parteien forderten
Johnson am Sonntag auf, das Unter-
haus umgehend aus der Sommerpau-
se zurückzurufen. Die Abgeordneten
werden eigentlich erst im September

wieder in London erwartet. „Wir ste-
hen vor einem nationalen Notfall“,
heißt es in dem Brief. „Das Parlament
muss jetzt im August zurückgerufen
werden und bis zum 31. Oktober stän-
dig tagen.“
Die Brexit-Gegner sind im Parla-
ment in der Mehrheit und wollen ei-
nen ungeordneten Brexit verhindern.
Doch es ist fraglich, ob sie Johnson
stoppen können. Labour-Oppositi-
onsführer Jeremy Corbyn hatte am
vergangenen Donnerstag ein Miss-
trauensvotum angekündigt, um John-
son zu stürzen. Er hatte sich selbst als
Übergangspremier angeboten - mit
dem alleinigen Ziel, in Brüssel einen
weiteren Brexit-Aufschub zu beantra-
gen und Neuwahlen anzusetzen. „Wir
müssen die Gelegenheit ergreifen, be-
vor es zu spät ist“, appellierte er am
Sonntag erneut an die anderen Oppo-
sitionsparteien. Doch Corbyn stößt
auf Widerstand bei den Liberaldemo-
kraten und potenziellen Tory-Rebel-
len. Sie wollen den altlinken EU-Skep-
tiker nicht einmal übergangsweise in
der Downing Street sehen. Corbyn
seinerseits will als Oppositionsführer
nicht auf seinen Anspruch verzich-
ten. Kann sich die Opposition nicht
einigen, stehen die Chancen schlecht,
Johnson im September abzulösen.
Der Premier setzt darauf, dass die
Opposition weiter streitet und das
Land automatisch Ende Oktober aus
der EU ausscheidet. Es wird erwartet,
dass er bald Neuwahlen für die Zeit
danach ansetzt. Wichtigste Wahl-
kampfbotschaft: Die Tories haben den
Brexit geliefert.

Brexit


Operation Chaos


Eine interne Brexit-Analyse der Regierung alarmiert die Gegner von


Boris Johnson. Sie wollen das Parlament aus der Sommerpause zurückrufen.


Boris Johnson:
Wichtiger Besuch
in Berlin und Paris.

imago/Metodi Popow

Wir stehen


vor einem


nationalen


Notfall.


Das Parlament


muss jetzt


im August


zurückgerufen


werden.


Brief an Boris Johnson
unterzeichnet von
mehr als hundert
Abgeordneten

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 19. AUGUST 2019, NR. 158

15

Free download pdf