Handelsblatt - 19.08.2019

(Elle) #1

„Ich fände es gut, wenn man sehr, sehr


verantwortungsbewusst mit jungen,


engagierten Menschen in den jeweiligen


Schulen umgeht.“


Christine Lambrecht, Bundesjustizministerin , über den Umgang mit
Schülern, die während des Unterrichts an Protesten für den
Klimaschutz teilnehmen

Worte des Tages


Italien


Machtpoker


in Rom


G


anz Italien wartet auf Diens-
tag, den Tag, an dem die
von den Medien als surreal

betitelte Regierungskrise in Italien


in die entscheidende Runde geht.


Noch ist völlig offen, ob Premier


Giuseppe Conte nach seiner Rede


im Senat seinen Rücktritt einreicht


oder ob es zum bisher nicht auf der


Tagesordnung stehenden Misstrau-


ensvotum gegen ihn kommt.


Es zirkulieren zahlreiche Szena-


rien, wie es weitergeht nach der


vom Lega-Chef vom Zaun gebroche-


nen Krise: eine neue Mehrheit von


Fünf Sternen und den Sozialdemo-


kraten, ein Friedensschluss der ver-


feindeten Koalitionäre, ein neuer


Premier, neue Minister, eine Über-


gangsregierung, alles ist möglich.


Nur eines zeichnet sich ab: Die Le-


gislaturperiode geht weiter, auch


wenn vermutlich diese Regierung


nicht hält und schnelle Neuwahlen


schon im Oktober vorerst vom


Tisch sind.


Nun kann in Italien immer auf die


letzte Sekunde noch eine neue,


überraschende Volte kommen.


Theaterdonner gehört zum Reper-


toire der Politik. Doch es sind Salvi-


nis eigene Worte, die die Richtung


anzeigen. Sein Telefon sei immer


an, sagte er. Das klingt anders als


das Nein, mit dem er die Krise mit-


ten in den Parlamentsferien losge-


treten hat. Das Motiv für seinen Ge-


sinnungsschwenk nach nicht ein-


mal einer Woche ist klar: Mit einer


neuen Mehrheit im Parlament wür-


de er in der Opposition landen. Hät-


te er es mit der Regierungskrise


ernst gemeint, wäre er als Innenmi-


nister samt seiner Lega-Minister so-


fort zurückgetreten.


Premier Giuseppe Conte geht aus


der ersten Runde im Machtpoker


als Sieger hervor. In einem offenen


Brief warf er Salvini vor, die Zusam-


menarbeit sei unfair und unlauter.


Das kam an. Der Innenminister gab


nach, und prompt durften zumin-


dest die Minderjährigen am Wo-


chenende das Flüchtlingsschiff


„Open Arms“ verlassen. Neue Um-


fragen zeigen, dass immer mehr Ita-


liener seines Dauerthemas Flücht-


linge überdrüssig sind. Sie sorgen


sich um ihre Arbeitsplätze und um


ihr Geld.


Lega-Chef Salvini hat sich
verkalkuliert. Nach schnellen
Wahlen sieht es nicht mehr aus,
prophezeit Regina Krieger.

Die Autorin ist Korrespondentin


in Italien.


Sie erreichen sie unter:


[email protected]


D


er Appell an die staatspolitische Ver-
antwortung klingt in den Ohren vieler
Sozialdemokraten nur noch hohl. Mit
diesem Argument zog die SPD vor an-
derthalb Jahren erneut in eine Große
Koalition. Die traditionsreichste Partei Deutschlands
stellte noch einmal Pflichtbewusstsein über Partei -
interessen. Für das lautstarke Lager der GroKo-Geg-
ner beschleunigte genau diese Haltung den Nieder-
gang der SPD. Olaf Scholz steht wie kaum jemand
anderes für das ungeliebte Regierungsbündnis. Der
Vizekanzler kann sich darauf einstellen, dass seine
Kandidatur für den SPD-Vorsitz in der Partei auf hef-
tigen Gegenwind stoßen wird.
Doch Scholz ist im aktuellen Bewerberfeld die bes-
te Lösung für den vakanten Chefposten. Die Kon-
junktur kühlt sich ab. Sollten Handelskonflikte und
ein ungeordneter Brexit die Wirtschaft in eine
schwere Krise stürzen, braucht Deutschland eine
handlungsfähige Bundesregierung. Scholz wäre in
unruhigen Zeiten ein Garant für Stabilität und, ja,
auch für staatspolitische Verantwortung.
Anders als SPD-Bewerber aus der zweiten und
dritten Reihe, die dem Bündnis mit der Union so
schnell wie möglich und um jeden Preis entfliehen
wollen, könnte der Vizekanzler mit der Übernahme
des Parteivorsitzes auch der Großen Koalition eine
neue Perspektive geben. Die innerparteilichen Er-
folgschancen seiner Kandidatur hängen nun stark
davon ab, welche Frau an seiner Seite antritt. Denn
es ist alles andere als sicher, dass Scholz am Ende
auch in der SPD als beste Lösung gesehen wird.
Über der Suche nach einer neuen Parteispitze
schwebt die grundsätzliche Frage, ob die Sozialde-
mokraten den radikalen Bruch wagen. Der Wunsch
nach Aufbruch und Erneuerung ist mindestens
ebenso groß wie der Frust über die Regierungsjahre
mit der Union, in denen die SPD zwar viele ihrer In-
halte wie den Mindestlohn durchsetzen konnte, aber
von den Wählern keine Anerkennung bekam.
Das Bedürfnis eines Neuanfangs wird Scholz nicht
stillen. Der 61-Jährige gehört seit fast zwei Jahrzehn-
ten zum bundespolitischen Inventar der SPD. Schon
Anfang der Nullerjahre musste er als Generalsekre-
tär unter Kanzler Gerhard Schröder die umstrittene
Agenda-Politik der SPD verteidigen. Seine formel -
hafte Wortwahl brachte ihm damals den Beinamen
„Scholzomat“ ein. In seinen verschiedenen Ämtern
galt er immer als Technokrat, nicht als charismati-
scher Hoffnungsträger. Zuletzt wirkte er als grund -
solider Finanzminister, der nach seinem CDU-Vor-
gänger Wolfgang Schäuble nahtlos an das Ziel eines
ausgeglichenen Haushalts anknüpfte.

Diese Qualitäten sind keinesfalls wertlos. Die Sozi-
aldemokraten müssen sich auch fragen, wie es beim
Wähler ankäme, wenn sie in aufziehenden Krisen -
zeiten für das Land als Partei einen experimentellen
Selbsterfahrungskurs einschlügen. Mit einem uner-
fahrenen Spitzenduo würde die SPD außerdem erst
einmal den Anspruch aufgeben, ein ernst zu neh-
mender Gestaltungsfaktor zu sein. Scholz dagegen
verfügt als Vizekanzler und Finanzminister über das
nötige politische Gewicht, national wie internatio-
nal. Sicherlich: Scholz ist kein Politiker, der Leiden-
schaft entfacht. Seine Wahlergebnisse auf SPD-Par-
teitagen waren oft dürftig. Andererseits: Wie realis-
tisch ist es, dass andere Bewerberkonstellationen
wie beispielsweise Ralf Stegner und Gesine Schwan
oder Karl Lauterbach und Nina Scheer Begeiste-
rungsstürme entfesseln?
Noch hat Scholz keine Mitbewerberin. Der Kreis
der geeigneten Frauen für das neue SPD-Spitzenduo
ist klein und hat sich durch den Verzicht von Fran-
ziska Giffey noch weiter verringert. Im Gespräch
sind die ins EU-Parlament gewechselte frühere Bun-
desjustizministerin Katarina Barley und die rhein-
land-pfälzische Finanzministerin Doris Ahnen. Viel-
leicht gibt sich Mecklenburg-Vorpommerns Minister-
präsidentin Manuela Schwesig einen Ruck und
revidiert wie Scholz die ursprüngliche Absage an ei-
ne Kandidatur. Vielleicht präsentiert Scholz eine Be-
werberin, die niemand auf dem Zettel hat. Gesucht
wird eine Frau, die in der Lage ist, die Fantasie der
Genossen zu beflügeln und die große Schwäche des
Vizekanzlers auszugleichen: das Bild des etwas lang-
weiligen Vertreters des GroKo-Establishments.
Olaf Scholz hat sich nicht aufgedrängt, die Füh-
rung der Sozialdemokraten zu übernehmen. Er er-
klärte sich bereit, weil es niemand sonst aus der ers-
ten Riege tat. Scholz steht nun vor einem aufreiben-
den Herbst mit 23 Regionalkonferenzen, in denen er
hautnah mit dem Unmut der Basis konfrontiert wird.
Der Vizekanzler übernimmt Verantwortung wie da-
mals, als die SPD aus Verantwortung wieder in die
Große Koalition ging. Einen „Opfergang“, wie zu le-
sen war, leistet Scholz damit aber nicht unbedingt.
Für ihn ist die Kandidatur auch die Chance, sein po-
litisches Überleben zu sichern. Sollte der Anti-Gro-
Ko-Flügel die Macht übernehmen, werden Vertreter
der alten SPD wie Scholz keine große Rolle mehr
spielen. Als Parteichef hätte Scholz den Zugriff auf
die Kanzlerkandidatur – vorausgesetzt, er gewinnt.

Leitartikel


Stabilitätsfaktor


Scholz


Gerade in
wirtschaftlich
unruhigen Zeiten
wäre Olaf Scholz
die beste Lösung
für die neue
Spitze der SPD,
meint Gregor
Waschinski.

Über der Suche


nach einer


SPD-Spitze


schwebt die


Frage, ob die


Sozialdemo-


kraten den


radikalen


Bruch wagen.


Der Autor ist Hauptstadtkorrespondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


MONTAG, 19. AUGUST 2019, NR. 158


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