Berliner Zeitung - 19.08.2019

(Rick Simeone) #1

Tagesthema


2 Berliner Zeitung·Nummer 191·Montag, 19. August 2019 ·························································································································································································································································································

W

ieoftersichgefragthat,
ob er es nicht doch
hätteverhindernkön-
nen.OberdieStrecke
nochaufmerksamerhätteimBlick
habenkönnen.Obernochschneller
hätte bremsen können.Aber am
Ende war die Antwortimmer:nein.
„Man fühlt sich für etwas schuldig,
fürdasmannichtskann“,sagtMein-
hardBahr.„DasistdasSchlimme.“
Es ist der 19. August 2012, ein
Sonntag, alsBahr die Regionalbahn
15607 vonWächtersbach nach
FrankfurtamM ain fährt. Es ist früh
am Morgen, der Himmel ist stahl-
blau,dieSichtungetrübt.DiePerson
aber,die in einer lang gestreckten
Kurvehinter demStromkasten kau-
erte ,konnteerdennochnichterken-
nen.KeineChance.Bahrbremstso-
fort, aber beiTempo 120 braucht es
mehrereHundertMeter,bisderZug
zum Stehen kommt.Er gibt über
Funk Bescheid, „RB 15607 meldet
Personenschaden“, dann steigt er
aus.Erw ürdejetztgernehelfen.Aber
schon vonWeitem sieht er,dass es
hiernichtsmehrzuhelfengibt.

EineOhnmachtserfahrung
Er geht zurück, setzt sich wieder in
denFührerstand,wartet,bisdieKol-
legenvonderBahneintreffen.Erwird
abgelöst, ins Krankenhaus gebracht,
seineFrauholtihnab.Ind iesemMo-
ment denkt er noch, dass ihn dieser
Moment nichtverändernwird, ihn,
den gestandenenEisenbahner.Aber
das war dann doch einIrrtum. Lok-
führer ,das ist einTraumberuf, noch
immer.Die Fahrten durch idyllische
Landschaften, einsam und doch als
TeileinesgroßenSystems,alldasbe-
geistertden53-Jährigennochimmer,
nachschon36JahrenbeiderBahn.
Aberesgibtebenauchdiesesspe-
zielle Berufsrisiko .Das liegt an den
Unfällen, die es mit Zügen gibt, sel-
ten,aberdannoftmitschweremAus-
gang. Es liegt anVerbrechen,verstö-
renden Taten wie vorkurzemin
FrankfurtamM ain,alseinManneine
MutterundihrenSohnvoreinenein-
fahrendenZugschubste.Undesliegt,
vorallemandenjenigen,diesichent-

scheiden, sich mitHilfe einesZuges
selbstzutöten.
JedesJahrsindesinDeutschland
etwa 700 bis 800Menschen, die das
tun.Rechnerischbedeutetdas,dass
–bei einer Zahl von200 00 Lokfüh-
rern–jederungefährzweimalinsei-
nem Berufsleben einemSuizid aus-
gesetztist.Wobeiesnatürlicheinige
wenige gibt, die,glückliche Fügung,
vonsolch einemEreignis ganzver-
schontbleiben.Undandere,diesie-
ben oder achtmal gezwungen sind,
einenMenschenzuüberfahren.
LokführersindnichtdieEinzigen,
dieeinensolchenAnblickaushalten
müssen.EsbetrifftauchRettungssa-
nitäter oderPolizisten. Für sie ist es
indiesenSituationenTeilihres Beru-
fes zu helfen, also etwas zu tun.Bei
Lokführernist das anders.„Siesind
in ihrem Führerstand gefangen“,

sagt Volker Reinken, Chefarzt der
VinceraKlinikBadWaldsee.„Dasist
das Schlimme.“ Für sie ist es eine
Ohnmachtserfahrung.
DerLokführer MeinhardBahr
bleibt zunächst ein paarTage zu
Hause.ErabsolviertdanneineReha,
drei Wochen lang. Es ist anders als
früher,alsLokführernacheinemsol-
chen Vorfall einfachweitergefahren
sind, als wärenichts geschehen,
Bahrkannsichnochdaranerinnern.
Inzwischen ist alles geregelt, die so-
fortige Ablösung, dazu die Möglich-
keiten,anschließendineinenande-
renBereich zuwechseln. Seit 2017
steht all dies imTarifvertrag der
Bahn. Auch die Bahn weiß, welche
Gefahr diePosttraumatischeBelas-
tungsstörungfürihreLokführerist.
MeinhardBahristzuversichtlich,
alsereinigeWochennachdemVor-

fallwiederineineLoksteigt.Schließ-
lichhatteerfrüherkritischeSituatio-
nen scheinbar folgenlos überstan-
den. Sieben Jahrezuvor etwa, als er
mit seinemZugschon einmal eine
Person überrollte.Oder,noch ein
paar Jahrefrüher,als er an einem
Bahnübergang einen Pkwrammte,
darin eine vierköpfigeFamilie mit
zwei Kindern. DieMutterwarjustin
dem Moment angefahren, alsBahr
sich mit der Lok näherte.Anschlie-
ßend lag dasAuto im Graben, auf
demDach.„UnddieFamiliekamun-
verletzt heraus“, sagtBahr.Ein klei-
nesWunder.
Dieersten Fahrten jetzt, sieben
WochennachdemSuizid,machterin
Begleitung, seinTeamleiter ist bei
ihm im Führerstand.Eine langsame
Wiedereingewöhnung.Allesgehtgut.
Bahr passiertauch die Stelle bei Of-

fenburg, die Linkskurve mit dem
Stromkasten.Nichts Auffälliges.Also
fährtMeinhardBahr wieder allein.
Dieerste Fahrt, wiederFrühschicht,
vonFulda RichtungFrankfurt.Ge-
rade fünf Minuten ist er unterwegs,
da muss er anhalten.Er spürtsein
Herz heftig schlagen, kalter Schweiß
tritt aus seiner Haut, er fühlt sich
schwach. Als aschfahl beschreiben
ihndie Kollegen,dieerzuHilferuft.
WennPsychiatererklärenwollen,
wie ein Trauma entsteht, benutzen
sie das Bild einesBibliothekars,der
dieErinnerungen wie Bücher in ein
Regal sortiert.Nurdass er sich bei
den besonders belastendenErleb-
nissenmanchmalirrt,dassersieein-
sortier tunddas Buchauchnochzer-
reißt.„UndeinTrigger,einirgendwie
ähnlichesEreignis,kann dafür sor-
gen,dassdieSeeledasBuchentwe-

der teilweise oder ganz wieder zu-
sammensetzt–das ist einFlash-
back“, erklärtder Psychiater Volker
Reinken.DiePerso nerlebtallesaufs
Neue.Auchalle Gefühle.
BeiMeinhar dBahr ist es ein
Klang, der sich in seinemKopf fest-
gesetzthat.DasGeräusc h,wennein
menschlicher Körper an einer ton-
nenschweren Lok mitTempo 120
zerschellt. „DiesesGeräusch“, sagt
er,„daskriegeichinmeinemganzen
Lebenniewiederraus.“
AufdieFrage,wiehäufigLokfüh-
rernacheinem solchenEreignis ih-
renBeruf nicht mehr ausüben kön-
nen,gibtdieBahnnur vageAntwor-
ten. 90 Proz ent, erklär tsie,kämen
ohne medizinischeBetreuun gaus.
KnappzehnProz entbegäbensichin
ambulante Therapie,dreibis fünf
Prozentinstationäre. Dass jemand
berufsunfähigwerde,komme„nurin
Einzelfällen“vor.

„DassindtätlicheAngriffe“
EinArztlegtBahrnahe,seinenB eruf
aufzugeben.Aber da swill er nicht.
Mit47zuH ause? Endgültig? „Das
warnichtmeineSache.“ Bahrmacht
erneuteineTherapie,diesmallänger
und gezielter.Esg ibt Kliniken, die
auf diese Berufsgruppe regelrecht
spezialisiertsind, auch die von
PsychiaterReinkengehörtdazu.
Einknappes halbesJahr dauerte
es,dannwar Bahrso weitstabilisiert,
dass er sich wieder in den Führer-
standsetzte.Eri stheutenochdabei,
fastjedenTagpassi erterdiekritische
Stelle,denStromkasten,ohneetwas
Besonderes zu spüren.Wasnichts
daran ändert, was ervonsolchen
SuizidenoderanderenVorfällenhält,
bei denen LokführernzuTötungs-
helfernwiderWillenwerden.
„Das sind tätliche Angriffe“, sagt
er,„die einem einen Schaden zufü-
gen,denmannichtwiederloswird.“
Auch deshalb möchte er,dassder
TätervonFrankfurtdeutl ichbestraft
wird, weil er ein Leben ausgelöscht
undvieleanderefürimmerbeschä-
digthat.AuchdasLebenvondenen,
diedieserTäter zuZuschauernund
zuseinemWerkze uggemachthat.

Lokführer im Cockpit eines ICE IMAGO IMAGES/PETER SCHATZ, HORST GALUSCHKA

LokführertrageneinbesonderesBerufsrisiko:WenneinMenschaufden


Gleisenstehtoderliegt,könnensiedietödlicheKollisionkaumvermeiden.


Bahnunfälle


BERLIN UND BRANDENBURG WETTERLAGEREISEWETTER

Die Wetterlage wirkt sich
negativ aufden erholsamenTief-
schlafund die Arbeitsleistung aus.
Dadurchsind einige Menschen
müde undabgespannt. Sie gehen
ohneElan durchden Tag.

Biowetter: Heute istesüberwie-
gend wechselnd bewölkt. Ab undzu
gibt esRegenschauer,und dieTem-
peraturensteigenamTage auf
20 bis26Grad.Nachts sinken die
Wertedannauf 18 bis11Grad. Der
Wind weht schwach bis mäßig aus
westlichen Richtungen. Morgen brin-
gen vieleWolkenteilweiseRegen.Es
werden 18 bis23Graderwartet,
undder Windweht schwachaus
West.

Deutschland:

Dienstag

Wittenberge

Cottbus

15°/24°

BERLIN
17°/24° Frankfurt(Oder)

Prenzlau
14°/24°

16°/26°

15°/26°

Heute gehen bei wechselnderBewölkung nur sehr vereinzeltRegen-
schauernieder. Dabei klettern die Temperaturen auf 24 bis26Grad, und
der Windweht nurschwach aus westlichen Richtungen. In derNacht gibt
es Wolken, zeitweise klartesjedoch auch auf, und dieTiefstwerte sind
bei 15 bis 13Grad anzutreffen.

Mittwoch

15°/23°15°/23°14°/26°

Donnerstag

Mondphasen: 23.08. 30.08. 06.09. 14.09. Sonnenaufgang: Sonnenuntergang: Mondaufgang: Monduntergang:

Rügen
Rostock13°/22°
13°/21°

Hamburg
12°/20°

Sylt
12°/22°

Dresden
19°/25°

Köln
13°/23°

Hannover
13°/22° Magdebu16°/25°rg
Erfurt
15°/24°

Frankfurt/Main
Saarbrücken 16°/26°
13°/23° Nürnberg17°/24°

Stuttgart
18°/24°
München
16°/26°

Konstanz
18°/26°

Las Palmas
32°

Oslo
18°
Dublin

Reykjavik

17°
London
22°

Kopenhagen
21°

Stockholm
22°

St. Petersburg
25°

Moskau
21°

14°

Berlin
24°
Paris
24°
Bordeaux
24°

Lissabon
26°

Madrid
33°

Nizza
28°

Palma
34°

Mailand
33°

Rom
32°

Palermo
Algier 29°
35°

Tunis
34°

Athen
33°
Iraklio
30°

Antalya
33°

Ankara
23°

Istanbul
27°

Varna
28°
Dubrovnik
30°

Warschau
27°
Wien
28° Budapest
33°

Odessa
27°

Wilna
27°
Kiew
28°

Archangelsk
18°
Oulu
18°

Kiruna
12°

Trondheim
19°

Acapulco 33° Gewitter
Bali33° sonnig
Bangkok 33 °Gewitter
Barbados30° wolkig
Buenos Aires 9° wolkig
Casablanca 24 °wolkig
Chicago 30 °heiter
Dakar27° bewölkt
Dubai40° sonnig
Hongkong 34° Gewitter
Jerusalem 32 °sonnig
Johannesburg23° heiter
Kair o34° sonnig
Kapstadt 17° wolkig
Los Angeles 23° heiter
Manila 32°wolkig
Miami33° heiter
Nairobi 25°bedeckt
Neu Delhi35° heiter
New York 33 °heiter
Peking 32°wolkig
Perth 20°sonnig
Phuket 33°heiter
Rio deJaneiro 22°Schauer
San Francisco20° wolkig
SantoDomingo33° heiter
Seychellen 27° heiter
Singapur 33° Gewitter
Sydney 14° wolkig
Tokio 34°heiter
Toronto 29° Gewitter

Brandenburg
16°/24°
Luckenwalde
16°/25°

05:55 Uhr

GefühlteTemperatur:maximal24Grad.

Wind:leichter Wind ausWest.

starkbewölkt wolkig sonnig

Min./Max.
des 24h-Tages

Vonder südlichen Osts ee bi szum NordwestenSpanienssind vieleSchauerwol-
ken unterwegs.Sie markieren den Grenzbereich zwischen kühlerLuft überNord-
westeuropaund sehr warmer LuftvonSpanien bisTschechien. Diese sorgtauch
rund um die Alpen fürhochsommerlicheTemperaturen,ebensorund umsMittel-
meer,vom Balkan bis nach Ungarn und imöstlichenSchwarzmeerraum.

20:24 Uhr 22:10 Uhr09:43 Uhr

DerzeitfliegenPollen
vonBeifuß in mäßiger bishoher
Konzentration. Die Belastungdurch
Gänsefuß- undBrennnesselpollen
ist schwachbis mäßig.

Pollenflug:

Ostsee:
Nordsee:
Mittelmeer:
Ost-Atlantik:

18°-20°
17°-19°
23°-32°
17°-22°

Meerestemperaturen:

„Esmussnormalwerden,überSuizidgedankenzusprechen“


HerrStaudt,in Deutschlandbegehen
Jahr für Jahr rund 10 000Menschen
Suizid, etwa 700 bis 800 werfen sich
voreinen Zug. DieZahlen sind seit
langem ungefähr konstant. Kann
mansiesenken?
Ichbin über zeugt davon, dass
Suizidprävention etwas bewirken
kann, ja.Daszeigen auch dieBei-
spiele aus anderen Ländern, zum
Beispiel ausItalien, wo dieQuoten
deutlich niedriger sind. Das
Schlimme an demSuizid auf den
Schienen ist, dass jemandUnbetei-
ligtes mit hineingezogen wird: der
Lokführer.Aberdarandenktmanin
diesem Moment nicht. Könnte man
es,wäreman in der Lage dazu,
würde man diesen Schritt wahr-
scheinlichgarnichtgehen.DieLeute
haltendieseMethodefürbesonders
sicher.Aberdasstimmtnichtunbe-

dingt, wie man an meinemBeispiel
sieht.

Siehabensich1999,imAltervon30,
in IhrerHeimat, denNiederlanden,
voreinen Zuggeworfen. Siehaben
beide Beine verloren, aber überlebt.
HeutesprechenSieaufLesungenund
Kongressen über IhreErfahrungen
und die PräventionvonSuiziden.
Washätte Siedamals vonIhrem
Schrittabhaltenkönnen?
DieMöglichkeit,übermeinePro-
blemeundGedankenoffenredenzu
können.Wirklich gebesserthat sich
meine Situation erst 2005, als ich
endlicheineÄrztintraf,diedierich-
tige Diagnose stellte und mir ein
wirksames Antidepressivum ver-
schrieb .Aberdamalshätteesmirsi-
cher schon geholfen,wenn ich das
Gefühlgehabthätte,meineEinsam-

Beratung


keit und Verzweiflung und auch
meine Suizidgedanken mitteilen zu
können.Dasistabernochimmerein
großes Tabuthema.

SeiteinigenJahrenschonscheintsich
in Deutschland etwas zuverändern.
DieMenschensuchensichbeipsychi-
schen Problemen häufigerHilfe, ge-

henzumArztoder Psychologen,auch
Prominente schildern öffentlichDe-
pressionen. Istesw irklich immer
nochsoschwer,überpsychischePro-
blemezusprechen?
Es verändertsich etwas.Das
merke ich starkanm einen Lesun-
gen.Voreinigen Jahren nochverlo-
rensichda zehnoder15Menschen.
InzwischensinddieSälevoll,ichbe-
komme unablässig Anfragen und
zahlreicheMails.Was meine Leser
undZuhörerberichten,hatsichaber
kaumverändert:Eshandeltvonder
Schwierigkeit, passende Therapeu-
ten zu finden,vonEinsamkeit und
Verzweiflung und demGefühl, dar-
über nicht sprechen zu können. Es
muss so normalwerden, überSui-
zidgedanken zu sprechen, wie über
eine Erkältun g. Dasdarfkein Tabu
mehrsein.

ZUR PERSON

Viktor Staudt(50) ist ein niederländischerJurist und Schriftsteller. 1999 warf er sichvoreinen Zug.
Staudtverlor bei seinem Suizidversuch beideBeine. 2014 erschien sein Buch „Die Geschichtemei-
nes Selbstmordes“. Heuteversucht er,suizidgefährdeten MenscheneinenAusw eg aufzuzeigen.

DasSprechen undBerichten über
Suizide kann aber auchNachahmer
provozieren. WashaltenSiedement-
gegen?
DenPapageno-Effekt. Derbe-
sagt, dass ein bestimmtes Reden
und Berichten Suizide verhindern
kann.DerEffektistwissenschaftlich
belegt. DerFokus muss auf der
Problemlösung liegen, auf der
Überwindung, nicht auf der ver-
meintlichenAusweglosigkeit einer
Situation.Ichmöchte mit meiner
GeschichteeinepositiveIdentifika-
tionsfigur bieten.Ichmöchte zei-
gen,dassundwiemanaussoeiner
Situation herauskommt. Ichsitze
imRollstuhl,aberichgenießelängst
wiederdasLeben.

DasGesprächführte
ThorstenFuchs.

DieAngstfährtimmermit


VonThorsten Fuchs
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