Berliner Zeitung - 19.08.2019

(Rick Simeone) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 191·Montag, 19. August 2019 (^23) ·························································································································································································································································································
Wildeund
farbenfrohe
Könnerschaft
Zum80.Geburtstagdes
SchlagzeugersGingerBaker
VonMarkus Schneider
N
ichtganzleicht,sichdieZeiten
vorzustellen, alsGinger Baker
einSuperstarwar.Abgesehendavon,
dass Rock insgesamt siecht, kom-
men dieDrums heute oftvonMa-
schinen.
Baker trommelte ab 1966 in der
sogenannten Supergroup Cream,
nebendemalsGottgehandeltenGi-
tarristenEricClaptonunddemBas-
sisten Jack Bruce.Der Ruhm des
Trios gründetein einer unerhörten
Lautstärkeundaufendlosen,virtuo-
sen Soli. Bakers Paradestück„Toad“
vomDebüt 1966 zeigte seine wilde,
farbenreiche Könnerschaftund die
Power des hochgerüstetenSchlag-
zeugs:Erwarnichtdererste,dermit
einer Doppelbassdrum spielte,aber
ersetztedamitdenStandardimauf-
steigendenSchwerrock. Cream wa-
rennach nur zwei Jahren ausgepo-
wert,erschöpftauchvomhandgreif-
lichenUnmutBakers:Fürseinebar-
sche Übellaunigkeit ist er kaum
wenigerberühmtalsfürseinSpiel.
Der1939 geborene Peter Edward
Baker –Ginger wurde er wegen der
leuchtendroten Haaregenannt –
war zunächstein zorniger junger
MannundbaldeinwütenderHero-
insüchtigerundabwesenderFamili-
envater.Sein Vater war im zweiten
Weltkrieg gefallenund hatte dem
Sohn einen Brief hinterlassen:„Ge-
brauche deine Fäuste“,stand darin,
„siesindoftdeinenbestenFreunde.“
BakerhatsichseinLebenlangdaran
gehalten.DieDokumentation„Be-
wareofMr. Baker“von2012beginnt
damit,dassder73-Jährigeaufseiner
südafrikanischenFarm dem Regis-
seur mit dem Stock die Nase bricht,
weil im Film Köpfe auftauchen,die
ihmnichtgefallen.
Davongibtesviele–zumBeispiel
die meisten Rockkollegen. Schon
dasseralsRockdrummergilt,findet
er unverschämt.Baker kommt vom
Jazz, und die Wucht seiner Drums
verstandervorallemalsNotwehrge-
gen die Marshall-Türme der Gitar-
ren. Gelernt hat er unter anderem
bei Phil Seamen, der damals wich-
tigste Drummer Großbritanniens
und einer derwenigen, die er bis
heuteverehrtwieseineUS-Vorbilder
MaxRoach, ArtBlakey und Elvin
Jones.
Seine Neugier auf die polyrhyth-
mischeDrumkultur führte ihn in
den70er-JahrennachNigeria,woer
mitFelaKutispielteundinLagosein
Studio betrieb.Später arbeitete er
mit experimentierfreudigen Musi-
kernwie Bill Laswell und feinsinni-
genJazzer nwieCharlieHaden.
Miteigenen Projekten wie Air-
force und derBaker Gurvitz Army
konnteernichtanseinenErfolgmit
Cream anknüpfen.Aber werihn (in
BerlinzuletztimApril)indenletzten
Jahreneinmalgesehenhat–vonder
Lungenkrankheit COPD,Arthritis
undeinerHerzschwächegezeichnet
–konnteeinenkomplexen,subtilen
undunglaublichpräzisenDrummer
mit viel Jazzgespür erleben. Als
Menschzweifellosschwierig,gehört
er als Künstler auch mit 80 noch zu
denwirklichGroßen.
Trommelnder Grantler:der Schlagzeuger
Ginger Baker. IMAGO
MomentederErleuchtung
Der„TanzimAugust“gibtEinblickeindieGeschichtederChoreografie
VonMichaela Schlagenwerth


D

erTanzim Augusthatei-
nen neuen Rhythmus.
MontagundDienstagist
frei, am Mittwoch be-
ginnt es langsam und jeweils zum
Wochenende nimmt das Festival
danngewaltigFahrtauf.
Absoluter Höhepunkt der ersten
Festivalwoche war–natürlich!–die
UraufführungvonJérômeBel.Der
französischeChoreograph hatseit
den90er-Jahrenmitseinenphiloso-
phischen und gesellschaftskriti-
schen Konzept-Stücken Tanzge-
schichtegeschrieben.DerArtund
Weise,wieermiteinfachstenWen-
dungenkomplexeFragenaufwirft,
hat manso einige blitzartige Er-
leuchtungsmomentezuverdanken.

DieRevolutionärinIsadoraDuncan
Soetwaswurdeeinemauchindieser
Wochegeschenkt,allerdingsnicht
vonJérômeBel,sondernvonder
Choreographin Deborah Hay, der
dasFestivaleinegroßeRetrospektive
widmet.Aber dazu später.Jérôme
Belhatein Porträtder TanzikoneIsa-
doraDuncangeschaffen.ÜberDun-
can, die um 1900 ihreersten Stücke
schufundalseinedereinflussreichs-
tenBegründerinnendeszeitgenössi-
schenTanzes gilt, wirdoft in einem
leicht mokanten Tonfall geschrie-
ben. Eine wildeFrau, die gegen alle
gesellschaftlichen Konventionen
verstieß, schillernde Liebesaffären
hatteund,leichtbekleidet,verrückte
Tänzeentwickelte,die sie zunächst
auf denGesellschaften derReichen
undspäterdannweltweitaufgroßen
Bühnenzeigte.
DerSolo-Abend „IsadoraDun-
can“, der im Deutschen Theater
folgerichtigseinenOrtgefundenhat,
zeigtdagegendieDimensiondesre-
volutionärenDenkens vonIsadora
Duncan.JérômeBelschafftdafüral-
lerdingsnurdenRahmen.DasEreig-
nis ist die 69-jährigeTänzerinElisa-
beth Schwartz, die in den 70er-Jah-
reninN ewYork bei Julia Levien, ei-
ner der Adoptivtöchter Duncans,
deren tänzerischesErbe studierte.
Fünf kleineSoli tanzt sie.Erst mit
Musik, dann ohne.Sheila Atala er-
klärtzwischendurch die biografi-
schen Eckdaten und in einem
Durchlaufsprichtsiejeweilslautdie
Begriffe ,dieden Bewe gungenzuge-

ordnet sind.Wasind em Solo„Mut-
ter“,dasdieDuncanJahrenachdem
tragischen Unfalltod ihrer beiden
Kinder choreographierte,für ergrei-
fendeMomentesorgt.
AberstärkernochistderEindruck
bei den frühenSoli, in denen einen
der Atem derGeschichte anweht.
Hierwurdeetwaserfunden,imUm-
gangmitderMusik,inderWeisemit
dem bewegten KörperGefühle aus-
zudrücken,wasesvorhernochnicht
gegebenhatteaufderWelt.Dasssich
einem dasvermittelt, ist der unge-
wöhnlichenPräsenzundderanmu-
tigenWürdederTänzerinundTanz-
geschichts-Expertin Elisabeth
Schwartz zu verdanken. Jérôme Bel
schafft die Struktur,inder sich das
verdichten kann, aber etwas mehr
hätte da vonihm ruhig kommen
können.

WiezumerstenMal
ZweiTagezuvorhattemansicheini-
germaßengutunterhaltenimHAU1,
bei Gunila Heilborns„TheWonder-
ful and the Ordinary“. Dabei war es
weniger ein Tanzstückals eine Per-
formance zum Thema Erinnerung.
Esistkluggebaut,abermagischistes
deswegen nicht geworden. Obwohl
das Potenzial dazu kurzinder Luft
lag. Wenn ein Stück ratlos macht,
fändesiedasunbedingtgut,hatFes-
tivalleiterinVirveSutinenimVorfeld
erklärt(sieheeinGesprächmitihrin
derBerlinerZeitungvom7.August).
Nun, Latifa LaâbissisArbeit im Hau
2,„WhiteDog“,hateinenratloshin-
terlassen.Mehrlässtsichdazunicht
sagen.
Anne Nguyens Stück „Kata“ im
Radialsystem,indemdieChoreogra-
phin Breakdanceund Martial Arts
miteinanderverknüpft,waratembe-
raubendvirtuos.Eslitteigentlichnur
an einem: Manhatte am Abend zu-
vorzuspäterStundeindenSophien-
säle schon alles gesehen.EinStück
vonDeborahHay,daseinemdieWelt
erschließt, die Möglichkeiten des
DaseinsmitdenjeweilseigenenGe-
setzmäßigkeiten,ohne Zeigefinger,
ohneWertung.„TheManWhoGrew
Common in Wisdom“, ein dreiteili-
ges Solo von1989, vonder jungen
Cullberg-Tänzerin EvaMohn in pu-
rerPräsenzgegeben,so,alswürdeal-
les gerade im Moment zum ersten
Malgeschehen–undso ,alswär ees
Ein Ereignis: die 69-jährige Tänzerin Elisabeth Schwartz. CAMILLE BLAKE schonimmergewesen.

WortlosdurchLissabon


DerportugiesischeRegisseurPedroCostasistinLocarnomitdemGoldenenLeopardenausgezeichnetworden


VonPatrick Heidmann

A


ufatmenwarzumAbschlussdes
72.LocarnoFilmFestivalsunter
Cineasten angesagt.Auch im ersten
Jahr unter der künstlerischen Lei-
tung derFranzösin LiliHinstin ist
das alteingesesseneFestival imTes-
sin seinem angestammten Profil
treugeblieben und gibt sich alsVor-
reiter eines ebenso anspruchs- wie
kunstvollenKinos.Zud iesem Ein-
druck trägt auch derGewinner des
GoldenenLeopardenbei,PedroCos-
tas„VitalinaVarela“.
DieAuszeichnungfürdenPortu-
giesendurchdieJuryunterdemVor-
sitz der französischenFilmemache-
rinCatherineBreillat, zu der auch
dieBerlinerRegisseurinValeskaGri-
sebach gehörte,kam nicht überra-
schend. Mankönnte Costas Film
übereineFrau,die vondenKapver-
den nachPortugal kommt, ein paar
TagenachdemihrseitJahrenausih-
remLeben verschwundener Ehe-
manndortbeerdigtwurde,alsGeis-
tergeschichte bezeichnen. In „Vita-
lina Varela“ streifen dieHauptfigur
unddie Menschen,dieihrbegegnen,
derar terstarrt,gebrochenundwort-
los durch einenSlum vonLissabon,
dasssiewieGeisterwirken.
Fast der komplette Film spielt
nachts,gesprochen wirdind ieser

Düsterniswenig, undFormalismus
hatfür CostaoberstePriorität.Doch
gerade dieser eher intellektuelle als
emotionale Ansatz und die streng
komponierten Szenen vermögen
einebeachtlicheFaszinationzuent-
wickeln.Genauwie ProtagonistinVi-
talina Varela, die den gleichenNa-
men trägt wie ihreFigur und den
PreisalsbesteDarstellerinerhielt.
DerSpezialpreis derJuryging an
den Koreaner Park Jung-bum für
„Pa-go“,eineArtDorfkrimiübereine
junge Waise,für die besteRegie
wurdederFranzose DamienManivel
für „Les enfantsd’Isadora“ geehrt,
eineetwasverk opfteVerneigungvor
Tanzikone IsadoraDuncan. Regis
Myrupu, einBrasilianer indigener
Abstammung, der nie zuvorvorei-
ner Kameragestanden hatte,durfte
für„A Febre“denLeopardenalsbes-
ter Darsteller mit nachHause neh-
men.Dasnüchterne,fastdokumen-
tarischeSpielfilmdebütvonMaya
Da-Rin wurde koproduziertvon
KomplizenFilm, derProduktions-
firma vonMaren Ade,JanineJackow-
skiund JonasDornbach.
An„DasfreiwilligeJahr“,demein-
zigen deutschenFilm im diesjähri-
genLocarno-Wettbewerb,warKom-
plizen Film nicht beteiligt, auch
wenn Ades EhemannUlrich Köhler
hiergemeinsammitHennerWinck-

lichkeit. Für einenPreis allerdings
hattederFilmder JuryamEndewo-
möglich, trotz einer verweigerten
Auflösung am Schluss,zuw enig
EckenundKanten.
Auch jenseitsvon„AFebre“ im
WettbewerbundKomplizen-Vetera-
nin Grisebach in derJury stand das
diesjährigeFestival durchaus ganz
im Zeichen derBerliner Firma, die
vor20J ahren vonAdeund Jackowski
noch an derHochschule fürFilm
undFernseheninMünchengegrün-
det wurde.Ind er Reihe Fuoricon-
corso lief mit „Giraffe“ eineweitere
Produktion vonKomplizen Film,
eine sehr detaillierte,bisweilen
durchaus theoretisch konzipierte
Beobachtung überVergänglichkeit
und Einsamkeit auf der dänischen
InselLollandimKontextderDauer-
baustellezumstockendenFehmarn-
belttunnel-Projekt. DieZiel- und
Stilsicherheit, mit der die dänische
Wahl-Berlinerin Anna Sofie Hart-
mann dabei hinter derKameraauf
dem schmalenGrad zwischen Do-
kumentation undFiktion wandelt,
istbemerkenswert.
Vorallem aber wurdeKomplizen
Film gleich zuBeginn des diesjähri-
gen Festivals mit demPremio Rai-
mondo Rezzonico ,ausgezeichnet,
einemSonderpreisfürunabhängige
Produzenten.

ler Regie führte.Die beiden haben
ihreGeschichteeigentlichfürsFern-
sehenumgesetzt,nunwirdsiedem-
nächst zumGlück wohl doch auch
bei uns auf die Leinwand kommen.
DennderSchwungunddieordentli-
chePortionHumor,mitdenenKöh-
ler und Winckler in diesemDrama
vomdurchaus komplexen, amBe-
ginn eines neuen Lebensabschnitt
stehendenVerhältniszwischendem
alleinerziehenden Ursund seiner
19-jährigenTochterJetteerzählen,in
demKümmernundKontrollesowie
AufbruchundAbhängigkeitsehrnah
beieinander liegen, sind im deut-
schen Kino keine Selbstverständ-

Leopardenvielfalt:VitalinaVarela und ihr
RegisseurPedro Costas. AP

TOP 10


Sonnabend, 17.August

1Tagesschau ARD 5,75 26 %
2Fußball BundesligaARD 4,40 24 %
3Wilsberg ZDF 4,30 17 %
4Der Staatsanwalt ZDF 3,64 15 %
5Versteh. Sie Spaß?ARD 3,44 15 %
6Sportschau ARD 2,81 19 %
7heute journal ZDF 2,73 13 %
8heute ZDF 2,50 14 %
9Promi Big Brother RTL 2,20 12 %
10 RTLAktuell RTL 2,10 12 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %

Binderwill


wiederauf


ihrenPosten


Bausch-Tanztheater:Neuer
ProzessumEx-Intendantin

G


ut ein Jahr ist es her,dass das
Tanztheater Wuppertal Pina
BauschsichimStreitvonseinerda-
maligenIntendantinAdolphe Bin-
der trennte.Die Kulturmanagerin
klagte mit der erklärtenAbsicht, in
ihrePosition zurückkehren zu wol-
len,undsiehatteErfolg:Diefristlose
Kündigungseiunwirksam,hatteein
RichterdesArbeitsgerichtsWupper-
tal im Dezember 2018 entschieden.
Noch am selben Tagkündigtedie
LeitungdesberühmtenTanztheaters
Berufungan. DieistvordemLandes-
arbeitsgericht in Düsseldorffür die-
senDienstag(20.August)angesetzt.
MöglicherweiseentscheidetdasGe-
richtnochamselbenTag.
DerersteTerminineinemkleinen
RaumdesArbeitsgerichtsWuppertal
hattelangegedauert.EtlicheTänzer
und Mitarbeiter des Tanztheaters
verfolgten stehend und still dieVer-
handlung.Siehatten wohl gehofft,
mehrInformationenzubekommen.
Denn die fristlose Kündigung war
nurknappbegründetworden:unter
anderem mit derWiederherstellung
der Handlungsfähigkeit und dem
Fehlen eines Spielplans für die
nächsteSaison. DieTänzer waren
vonderEntwicklungaufeinerGast-
spielreiseüberraschtworden.Binder

Die ehemalige Intendantin des Pina-
Bausch-TanztheatersAdolphe Binder DPA

war insgesamt nur gut einJahr auf
demPosten.UnterihrerLeitunghat-
ten dieTänzer erstmals zweiUrauf-
führungen anderer Choreografen
herausgebracht.
DeutlichwurdewährendderVer-
handlung des Arbeitsgerichts,dass
Geschäftsführung und Intendanz
heillos zerstritten waren. Es hatte
eineMediationgegeben.Mitarbeiter
beschwerten sich beim Chef der
Stadtverwaltung. „Natürlich gab es
erheblicheSpannungen“, hatte der
Richter zusammengefasst. Jedoch
habe die Geschäftsführung des
Tanztheaters nichts unternommen,
umzudeeskalieren.
UnterdessenarbeitetseitNovem-
ber 2018 amTanztheater eine neue
Führungsriege:Geschäftsführer ist
Roger Christmann, dieIntendantin
nunBettinaWagner-Bergelt.Siesind
gleichberechtigt.BeiBinder hatte
die Geschäftsführung das letzte
Wort.Auf der Bühne hat sich nichts
geändert:DieWuppertalerCompag-
nie tritt aufvorausverkauften Häu-
sern, inszeniertdie Stücke vonPina
Bausch und führtsie voreinem in-
ternationalenPublikumauf.(dpa)
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