Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von andreas wolfger

E


ine Schiffsglocke, eine Galionsfigur
und unzählige weitere Seefahrer-
devotionalien schmücken die dunk-

le Holzvertäfelung des Raums. Wer hierhin


kommt, hat das Gefühl, eine Spelunke im


Hamburger Hafenviertel Sankt Pauli zu be-


treten. Nur die weiß-blauen Rauten auf der


Tischdecke machen dem Betrachter klar:


Du bist noch immer in Bayern. Um genau


zu sein unweit des Deutschen Museums –


im Heim der Marinekameradschaft Mün-


chen. Hier treffen sich jeden Freitag die


Mitglieder des Vereins und spinnen ihr


Seemannsgarn.


„Insgesamt gibt es in München heute

15 verschiedene maritime Vereine“, erklärt


Josef Motl, der Vorsitzende der Marineka-


meradschaft. Davon alleine vier Shanty-


Chöre, die traditionelle Seemannslieder


singen. Die Marinekameradschaft ist aber


einer der ältesten maritimen Vereine in der


Stadt und mit knapp 45 Mitgliedern auch


einer der größten. Bereits seit 129 Jahren


gibt es die Marinekameradschaft Mün-


chen. Ursprünglich wurde sie im Jahr 1890


von Ehemaligen der Kaiserlichen Marine


unter dem Namen Marineverein München


gegründet. Dieser Verein sollte Angehöri-
ge von Seeleuten, die in München lebten,


unterstützen und heimkehrenden Matro-


sen eine Anlaufstelle nach ihrer Zeit auf


See bieten. Zur Zeit der Naziherrschaft


wurde der Marineverein per Dekret dazu


gezwungen, sich künftig Marinekamerad-


schaft zu nennen.


„Uns ist schon bewusst, dass der Begriff

Kameradschaft von den Nazis instrumen-


talisiert und beschmutzt wurde“, erklärt


Winfried Huber, der gut mit der Geschich-


te des Vereins vertraut ist. Die Marineka-


meradschaft unterscheide sich aufgrund


der Erfahrungen, die ein Leben auf See mit


sich brächte aber deutlich von einem Fuß-


ball- oder Kaninchenzüchterverein. Auf


See sei man gezwungen zusammenzu-


wachsen oder gemeinsam unterzugehen –


wortwörtlich. Und das sei die eigentliche


Bedeutung von Kameradschaft.


Heute ist die Hauptaufgabe des Vereins

die Traditionspflege. Die Mitglieder tref-


fen sich nicht zum Stammtisch, sondern


zum Bordabend. Sie kochen ihr Essen


nicht in einer Küche, sondern in einer Kom-


büse. Jede Woche übernimmt ein anderes


Mitglied die Rolle des Pantrygast, so hei-


ßen im Seemannsjargon jene Matrosen,


die sich um die Verpflegung der Mann-


schaft kümmern. Zum Essen gibt es genau


ein Gericht. Wer das nicht mag, geht leer


aus – genau wie an Bord. Während eines


solchen Abends werden Anekdoten ausge-


packt und es wird viel diskutiert. Nur politi-


sche Debatten sind tabu.


„Wenn wir unseren Kindern erzählen,

was wir erlebt haben, dann können die das


gar nicht so recht verstehen“, sagt Hans-


Werner Hillesheim, der viele Jahre seines


Lebens als Ingenieur auf unterschiedli-


chen Handelsschiffen verbracht hat. Er ist


ein bärtiger untersetzter Seebär mit mehr


als 80 Jahren und einer gutmütig, aber be-


stimmt klingenden Stimme. Seine Arme


sind mit Tattoos verziert, und an seiner


linken Hand sind nur vier Fingern. Wie der


Finger verloren ging sei aber eine Geschich-


te für einen anderen Bordabend, erklärt er.


Eigentlich kommt Hillesheim aus dem

Ruhrpott. „Als junger Mann sollte ich zum


Militär eingezogen werden“, erklärt er. Da


sein Vater jedoch im Krieg sehr gelitten


habe, sei es für ihn undenkbar gewesen,


Soldat zu werden. „Bei der Musterung er-


klärte man mir, dass ich den Wehrdienst


nur umgehen könne, wenn ich entweder


Bergmann oder Seemann würde“, berich-


tet er. Da er als Kind aus einer Bergbauregi-


on gewusst habe, wie gefährlich die Arbeit


unter Tage damals war, entschied er sich


für ein Leben auf See.


Dieses Leben zeichnet sich vornehmlich
durch Entbehrungen, mangelnde Privat-
sphäre sowie harte Arbeit aus. Darin sind
sich die Anwesenden des Bordabends ei-
nig. Auf Handelsschiffen sei das noch
schlimmer als auf Bundeswehrschiffen.
„Deswegen haben die von der Handels-
marine uns Soldaten früher immer Süß-
wassermatrosen genannt“, scherzt Dieter
„Siggie“ Siekmann, der viele Jahre als Ka-
dettenausbilder auf der Gorch Fock diente,
dem berühmten Segelschulschiff der Bun-
deswehr. Heute – in der Marinekamerad-
schaft – seien solche Rivalitäten zwischen
den beiden Seemannsgruppen jedoch erlo-
schen. Stattdessen würden die Mitglieder
gemeinsam in Erinnerungen an die schöns-
ten karibischen Häfen und ihre marodes-
ten Holzanleger schwelgen.
Neben solchen Anekdoten werden am
Bordabend jedoch auch sehr ernste Ge-
schichten geteilt. Etwa über die Havarie

eines amerikanischen Handelsschiffs, die
Hillesheim als Maschineningenieur jenes
Schiffs miterlebte, das zur Rettung geeilt
war. 35 Seeleute habe seine Besetzung da-
mals lebendig aus dem Meer fischen kön-
nen. „Jeder von uns hat dann einen von de-
nen mit gleichem Rang zugeteilt bekom-
men, ihn in seine Koje gelegt und war für
ihn verantwortlich“, erzählt er. Während
der Rettungsaktion seien jedoch auch fünf
Seemänner von einem Rettungsboot er-
schlagen worden. „Auf Handelsschiffen
hatten wir damals ja keine Möglichkeit,
Verstorbene zu lagern“, berichtet der Offi-
zier. Also gab es eine Seebestattung. Hilles-
heims Mannschaft habe die Leichen mit
Gewichten in Stoffbahnen eingenäht, ei-
nen Gottesdienst für die Verstorbenen ab-
gehalten und sie dann versenkt. „Das war
damals so üblich“, endet die Geschichte.
„Heute gibt es nur noch wenige Deut-
sche, die auf Handelsschiffen anheuern“,

erklärt der Ingenieur. Das läge daran, dass
nur noch wenige Schiffe unter deutscher
Flagge fahren würden. Außerdem seien
deutsche Seeleute vielen Reedereien ein-
fach zu teuer. Einfache Arbeiten würden
vornehmlich von Asiaten erledigt. Da-
durch sei es schwer, Nachwuchs für die Ma-
rinekameradschaft zu finden. „Es ist auch
nahezu unmöglich, Kontakt zu ehemali-
gen Marinesoldaten zu bekommen“, sagt

Vorstand Josef Motl. Die Bundeswehr teile
selbst auf Anfrage keinerlei Daten von aus-
geschiedenen Soldaten mit. Wenn heute je-
mand den Weg zur Marinekameradschaft
fände, dann aus Zufall. „Seit es keine Wehr-
pflicht mehr gibt, ist es noch schwerer für
uns“, berichtet er. Immer weniger Men-
schen in Deutschland würden dadurch mit
der Seefahrt in Kontakt kommen.
„Früher musste man ein Berufs-
seemann gewesen sein, um der Marineka-
meradschaft beizutreten,“ erzählt Motl,
der selbst auf einem Schnellboot der Bun-
deswehr eingesetzt war. Diese Regel habe
der Verein aber bereits im Jahr 2001 über
Bord geworfen. „Seitdem genügt erkennba-
res Interesse an der Seefahrt, um Mitglied
bei uns werden zu können“, sagt der Vor-
stand. Damit erhielt die Marinekamerad-
schaft neben Handels- und Kriegsmarine
ihr drittes Standbein: passionierte Segler.
Auch Winfried Huber fand auf diese Weise

zur Marinekameradschaft. „Wenn ich
sage, dass ich viele Male auf dem Schiff mit
den großen grünen Segeln aus der Bierwer-
bung mitgefahren bin, dann wissen alle
plötzlich, wovon ich spreche“, berichtet er.
Gemeint ist die Alexander-von-Humboldt,
auf welcher er sogar eine Äquatorüberque-
rung mitgemacht habe.
Trotz dieser Öffnung des Vereins fehlt
der Marinekameradschaft jedoch weiter-
hin Nachwuchs. Es sei schwer, mehr neue
Mitglieder zu gewinnen, als alte Mitglieder
wegsterben würden. Aus Hubers Sicht gibt
es nur eine Möglichkeit für das Fortbeste-
hen der Seemannskultur in München.
„Wir müssen die enge Verbindung zwi-
schen den unterschiedlichen maritimen
Vereinen der Stadt noch weiter ausbauen
und uns in der Öffentlichkeit zeigen“, sagt
er. Ansonsten drohen die Traditionen und
die Gemeinschaft der Münchener Seefah-
rer verloren zu gehen.

Der „Pils Doktor“ ist eine Bar, wie es nur
noch wenige in München gibt. Relativ
klein, behaglich, unprätentiös, mit guten
Cocktails zu einem Preis von 6,50 Euro. Es
ist eine Kultkneipe, die es schon seit 1972
gibt – und das merkt man ihr an. Man
merkt ihr auch den Bezug zum Norden an,

nicht umsonst steckt das „Pils“ im Namen,
obwohl es auf der Karte viele Biere gibt.
Ein wenig hat man das Gefühl, in eine nor-
dische Kneipe gekommen zu sein, in der
der Münchner Schick keinen Platz hat.
Die Fliesen der Bar sind hell, draußen
vor der Tür stehen blaue Plastikstühle, in-

nen ist das Licht schummrig und warm.
Der Tresen besteht, wie die Barhocker, aus
dunklem Holz. An der Wand entlang laufen
Eisenbahnschienen, auf denen eine Lok
aus vergangenen Zeiten steht, die kurz un-
ter der Decke ihre Runden durch die Bar
dreht. Stralsund und Bremen heißen die

Bahnhöfe, sollte einer doch den Süden vor-
ziehen, geht es auch nach Lenggries.
Neben den Bieren (3,70 Euro für 0,5 Li-
ter) hat die Karte einiges zu bieten. Einen
Gin Tonic gibt es für 6,50 Euro, ein Glas
Merlot für 4,20 Euro und einen Sex on the
Beach für 6,00 Euro. Die vielen Schnäpse
kosten drei Euro. Und wenn eine Gruppe
gleich eine ganze Flasche bestellen möch-
te, so ist auch dies möglich. Obwohl die
Preise deutlich unter dem liegen, was ande-
re Bars in Schwabing fordern, schmecken
die Cocktails sehr gut. Was vielleicht auch
an dem Barkeeper liegt, der sich mit Liebe,
Witz und Mühe um seine Gäste kümmert.
Überhaupt herrscht in dem kleinen
Raum der Bar eine besondere Atmosphäre.
Wie in einem Wohnzimmer finden die un-
terschiedlichen Gäste zueinander. Beinahe
automatisch hört man mit, worüber die
Menschen sich an den anderen Tischen un-
terhalten. Plötzlich lacht man mit den ande-
ren, kommentiert eine Aussage – und ehe
man es sich versieht, reicht das Gespräch
vom Tresen bis in die hinterste Ecke. Das
Publikum besteht überwiegend aus Stu-
denten, die sind ohnehin gesellig.
Von 22 Uhr füllt sich die Bar zuneh-
mend, bis 5 Uhr morgens ist geöffnet.
Dann wird hier auch ordentlich gefeiert.
Gegen den Hunger gibt es Kleinigkeiten
wie Currywurst, Hotdog oder Schwarzbrot
mit Käse. Die Eisenbahn hat oft Schnaps-
gläser und eine Flasche Korn an Bord. Wer
will nicht seine Getränke aus einer alten
Lok entgegennehmen, die dorthin gefah-
ren kommt, wo man sich niedergelassen
hat? In Schwabing, aber auch irgendwie im
Norden. sara maria behbehani

Schiffsmodelle, Fotos von
Schifffahrtskameraden,
Erinnerungsstücke
vonSchiffen und Knoten,
wie sie auf Schiffen
geschlungen werden:
Worum sich in
der Kameradschaft alles
dreht, ist auf den ersten
Blick zu erkennen.

S-Bahnfahren im Raum München entwi-


ckelt sich zunehmend zu einer logistischen


Herausforderung. Da sind nicht nur die re-


gelmäßigen Stammstreckensperrungen


an den Wochenenden im August, hinzu


kommen die Sperrung von Trambahnstre-


cken etwa zwischen Stachus und Send-


linger Tor sowie die für Fahrgäste in Rich-


tung Westen gesperrte U-Bahnstation am


Stachus. Doch nun bekommen auch Pend-


ler auf der S-Bahnlinie 7 Probleme: Weil


die Eisenbahnbrücke über die Autobahn


A 8 erneuert werden muss, ist die S-Bahn-


Strecke zwischen Giesing und Perlach von


Samstag, 31. August, von 19.50 Uhr an bis


Montag, 9. September, 4.30 Uhr, für den


Zugverkehr komplett gesperrt.


In den Nächten des 9., 10. und 11. Sep-

tember fallen zwischen 1 und 4.30 Uhr die


letzten drei S-Bahnen auf der S 7 aus. Zwi-


schen Giesing und Perlach setzt die


S-Bahn München während der Sperrun-


gen Ersatzbusse ein. Zwischen Perlach und


Kreuzstraße pendeln die S-Bahnen im


Halbstundentakt, teilt die Deutsche Bahn


mit. Fahrgäste werden gebeten, in der Zeit


der Vollsperrung zwischen Ostbahnhof


und Perlach auf die S 3 oder die Buslinie 54


auszuweichen. Auch die U-Bahn der Li-


nie 5 biete sich als Alternative ab Neuperl-


ach Süd zum Ostbahnhof an, schreibt die


Bahn.


Die Brücke zwischen Hochäckerstraße

und Fasangartenstraße wird während der


Totalsperrung an ihre endgültige Position


geschoben. Derzeit findet die Endmontage


des Stahlüberbaus statt. Die Kosten für die


neue Eisenbahnbrücke belaufen sich laut


Mitteilung der Bahn auf insgesamt 5,6 Mil-


lionen Euro. anl


Der Mieterverein München begrüßt die in
Berlin beschlossene Verschärfung der
Mietpreisbremse sowie deren Verlänge-
rung bis 2025 – zugleich übt er aber auch
Kritik. Die Regelung, dass Mieter künftig
rückwirkend für einen Zeitraum von zwei-
einhalb Jahren nach Vertragsabschluss
Geld zurückfordern können, wenn ihr Ver-
mieter gegen die Mietpreisbremse ver-
stößt, sei längst überfällig gewesen. „Jetzt
lohnt es sich für Vermieter weitaus weni-
ger, die Mietpreisbremse zu umgehen“,
sagt Geschäftsführer Volker Rastätter. Bis-
her hatten die Mieter erst ab dem Zeit-
punkt der Rüge Anspruch auf weniger Mie-
te. Kritisch sieht der Mieterverein aller-
dings die Ausnahmen: Wird der Verstoß
später als zweieinhalb Jahre nach Vertrags-
abschluss gerügt oder ist das Mietverhält-
nis schon beendet, bekommt der Mieter
wie bisher kein Geld rückwirkend zurück.
„Wir hätten uns gefreut, wenn mal eine Re-
gelung ohne Schlupflöcher gefunden wor-
den wäre“, so Rastätter. Gemäß der Miet-
preisbremse dürfen Mieten bei Neuvermie-
tungen höchstens zehn Prozent über der
ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Wich-
tig für München und ganz Bayern: Erst für
Mietverhältnisse, die vom 7. August 2019
an abgeschlossen wurden, liegt eine gülti-
ge Landesverordnung vor. Mieter können
also, wenn die verschärfte Regelung in
Kraft tritt, nur Geld zurückfordern, wenn
ihr Vertrag nicht älter ist. Auch die geplan-
te Erhöhung des Betrachtungszeitraums
für die ortsübliche Vergleichsmiete von
vier auf sechs Jahre sei „eine gute Entwick-
lung, die aber nicht weit genug geht“. Alle
Bestandsmieten müssten einfließen, for-
dert der Mieterverein. hob

Der Korn kommt mit der Bahn


Werden Norden mag, geht in den „Pils Doktor“. Und wer den Süden mag, hat dort auch immer einen Platz


Münchens letzte Matrosen


Aufder Isar gibt es weder Fregatten noch Containerschiffe. Die Mitglieder der Marinekameradschaft lassen sich davon aber nicht irritieren:


Sie pflegen ihre Erinnerungen an die Zeit auf dem Wasser leidenschaftlich und wünschen sich eigentlich nur eines – ein paar neue Geschichten


S-Bahn ohne


S-Bahnbrücke


DerService im „Pils Doktor“ ist herzlich, die Preise sind moderat: Die Zeit ist in
der kleinen Bar in Schwabing wohltuend stehen geblieben. FOTO: FLORIAN PELJAK

Mieterverein für noch


striktere Preisbremse


PILS DOKTOR


Gekocht wird in der Kombüse,


immer nur ein Gericht –


ganz so, wie an Bord eines Schiffs


Jeden Freitag treffen sich die Mitglieder der
Marinekameradschaft München von 1890 e.V.
im Vereinsheim in der Lilienstraße.
Ganz rechts im Bild: Vorsitzender Josef Motl.
FOTOS: STEPHAN RUMPF

Leopoldstraße 124,
80802 München
Telefon:089 334332
http://www.pils-doktor.de

Drinks:Softdrinks, Biere, Weine,
Cocktails, Longdrinks, Schnäpse
Publikum:studentisch
Atmosphäre:locker

Öffnungszeiten:tägl. ab 18 Uhr

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R2 (^) MÜNCHEN Dienstag, 20. August 2019, Nr. 191DEFGH

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